Inside Nike

So funktionieren die Steuertricks des weltgrössten Sportkonzerns – in acht Schritten.

Vom Schuhladen zur Steueroase: Kaum einer umdribbelt die Steuergesetze wie der US-Multi. Nike Schweiz lieferte jüngst nur 360 000 Franken an den Fiskus ab, ganz legal. Wie kommt es dazu?

Mario Stäuble, TA-Infografik und Interaktiv-Team

Mitten im Atlantik, auf den Bermudainseln, rund 1000 Kilometer von der US-Ostküste entfernt, lagert ein moderner Milliardenschatz. Im Zentrum des Hauptorts Hamilton, in einem verglasten Gebäude an der Victoria Street, hat der erfolgreichste Sportkonzern der Welt einen grossen Teil seiner Marken parkieren lassen: das berühmte Logo, den Swoosh. Das Air-Jordan-Symbol. Selbst Roger Federers Initialen «RF».

Der Schatz gehört Nike, und bis ins Jahr 2014 heisst einer seiner Hüter Jerome Wilson. Der junge Anwalt, kürzlich von einer Fachzeitschrift zu einem von Bermudas «Rising Stars» gekürt, kümmert sich mit seinen Kollegen der internationalen Anwaltskanzlei Appleby um nicht weniger als zwölf Nike-Offshorefirmen. Einige sind nach berühmten Sneakers benannt: Air Max Ltd. Nike Cortez. Nike Huarache. Das geht aus den Paradise Papers hervor, dem Datenleck, das rund 6,8 Millionen Dokumente der Kanzlei Appleby Global sowie deren Spinoff Estera umfasst. Die «Süddeutsche Zeitung» teilte die Daten mit dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), nun haben 382 Journalisten weltweit die Informationen ausgewertet.

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Nikes Präsenz auf Bermuda bedeutet aber nicht, dass der Konzern auf der 60’000-Einwohner-Insel Turnschuhe designen oder nähen liesse. In Hamilton gilt ein Gewinnsteuersatz von null Prozent, und die Gesellschaften sind undurchsichtige, ineinander verschachtelte Briefkastenfirmen, mit deren Hilfe der Multi ab 2006 bis 2014 Hunderte Millionen an Steuern vermeidet.

Nike ist ein Sportkonzern wie kein anderer. Im Mai 2017 meldet das Unternehmen Umsatzrekord, zum siebten Mal in Folge. Die Verkäufe von Sneakers, Shirts und Shorts erreichen 34 Milliarden Dollar. Das entspricht in etwa der Wirtschaftsleistung Boliviens.

Gleichzeitig passiert Verblüffendes: Während Umsätze und Gewinne steigen, sinkt die Steuerquote. 2005/2006 liefert Nike 35 Prozent des globalen Gewinns an Steuerbehörden auf der ganzen Welt ab, 2016/2017 sind es noch 13,2 Prozent. Damit unterbietet der US-Konzern grosse Schweizer Konsumgüterhersteller wie Nestlé (35,2 Prozent) oder Swatch (23,7 Prozent). Selbst die als aggressive Steuervermeiderin kritisierte Google-Mutterfirma Alphabet meldet in diesem Jahr mehr (19,2 Prozent).

In der Schweiz liefert der weltgrösste Sportartikelhersteller kaum Gewinnsteuern ab. Die Nike Schweiz GmbH erzielt 2015 laut Steuerausweis einen Reingewinn von 1,3 Millionen Franken. Das ergibt laut Online-Steuerrechner eine Steuersumme von 360 000 Franken. Dabei verkauft Nike nach Schätzungen von zwei Branchenexperten hierzulande Produkte für mehr als 100 Millionen – und arbeitet mutmasslich hochprofitabel. Rechnet man mit der Marge, die Nike 2015 global erreichte, müsste der Konzern bei 100 Millionen Umsatz im Schweizer Markt 14,3 Millionen Gewinn vor Steuern verbucht haben.

Was passiert hier?

Die Antwort auf diese Frage verbirgt sich in einem Firmennetz in der Schweiz, Holland, den USA und auf Bermuda, in dem sich nur Spezialisten wie Jerome Wilson zurechtfinden. Der «Tages-Anzeiger» hat in den Paradise Papers recherchiert, Dokumente analysiert und ein Dutzend Interviews mit Schuhhändlern und Steuerspezialisten geführt, um das Nike-Steuergewirr aufzuknoten. Das System Nike erweist sich als Schulbeispiel dafür, wie aggressiv manche Multis Lücken im internationalen Steuerrecht ausnutzen. Und wie sie dafür lobbyieren, dass diese nicht gestopft werden.

Wer das System verstehen will, muss ganz vorne beginnen: in einem Schuhladen. Zum Beispiel in der Zürcher Altstadt.

Schritt 1  Zürich, Schweiz

Im Pomp It Up an der Oberdorfstrasse 23 liebt man die Klassiker. Adidas, verwurzelt im Fussball und im Hip-Hop. Asics, geliebt von Runnern und Quentin-Tarantino-Fans. Aber die meisten Kunden, die an einem Donnerstagmittag im September den Sneakershop betreten, steuern direkt auf die Schuhe mit dem Swoosh zu. Über 200 Nike-Modelle sind ausgestellt. Eine Kundin scannt die Auswahl, kauft dann zwei schwarze Paare, die für das ungeübte Auge identisch aussehen. Sie verbringt weniger als fünf Minuten im Laden.

Manche Sneakerheads stellen ihre Schuhe wie Kunst in Vitrinen; manche kaufen die Jubiläumsversion des Air Max 97 in allen 15 Farben, die Nike im August 2017 neu lancierte. Wie kein anderes Sportunternehmen hat es Nike geschafft, aus Kunden Fans zu machen.

Der Reporter kauft im Pomp It Up ein Paar schwarz-graue Dualtone Racer. Macht 115 Franken. Die Frage ist: Was passiert mit dem Profit, den Nike mit diesen Schuhen macht?

Schritt 2  Rümlang, Schweiz

An einem Montagmorgen im August donnern Jets vom Zürcher Flughafen über Rümlang hinweg, der Pendlerverkehr quält sich die Hauptstrasse entlang. Zwischen einer McDonald’s-Filiale, einer Karosserie und einer Avia-Tankstelle taucht ein dreistöckiger Quaderbau auf. Nichts deutet darauf hin, dass sich in diesem Gebäude das Schweizer Nike-Hauptquartier befindet. Kein Banner eines jubelnden Roger Federer, keine Plakate mit schwitzenden Sportlern in neonfarbenen Tenüs. Im Erdgeschoss bietet ein Handwerkermarkt Winkelschleifer und Kloschüsseln feil. Auf den Briefkästen fehlt der Name Nike.

Aber der Swoosh muss hier irgendwo sein, schliesslich ist die Nike (Schweiz) GmbH an dieser Adresse registriert.

Man findet ihn, wenn man genauer hinschaut. Fünf Parkplätze sind mit einem signalgelben Nike-Haken markiert. Und wer das Gebäude betritt, stösst im zweiten Geschoss auf eine geschlossene Milchglastür, auf die ein Poster in Regenbogenfarben geklebt ist. Da liest man:

  • WE WELCOME ALL RACES;
  • ALL COUNTRIES;
  • ALL ORIENTATIONS;
  • ALL GENDERS;
  • ALL ATHLETES.
  • WE STAND WITH YOU.
  • BE TRUE.

Hinter dieser Tür befindet sich der Schweizer Nike-Showroom. Hierhin kommen Händler und Fussballclub-Präsidenten, um die jüngsten Hypervenom-Fussballschuhe oder die neue Hyperwarm-Funktionswäsche zu begutachten, wie zwei Sportfachhändler dem TA erzählen. Sie wollen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen, weil sie mit Nike in geschäftlichen Kontakten stehen. Auf der Jobplattform Linkedin präsentieren sich Zürcher Nike-Angestellte als «Key Account Manager», «Category Sales Rep Running & Tennis» oder «Regional Sales Representatives». Zwei Dutzend Profile finden sich auf Linkedin. Der offizielle Zweck der Nike (Schweiz) GmbH lautet: «Handel und Vertrieb von Sport- und Freizeitartikeln». Man könnte fast glauben, Nike verkaufe von hier aus seine Produkte. Kamen die Dualtone Racer aus Rümlang? Floss der Gewinn hierher?

Kaum. Ein Brancheninsider, der anonym bleiben will, zeigt dem «Tages-Anzeiger» Nike-Verkaufspapiere: Schweizer Schuhverkäufer bestellen Produkte zwar in Rümlang, aber der eigentliche Vertrag wird mit Nike Holland geschlossen, wo sich das Europa-Hauptquartier befindet. Bestellungen, Lieferprobleme, Umtausch, Rabatte – dafür ist Rümlang zuständig. Das Geld fliesst jedoch nach Holland.

Schritt 3  Hilversum, Holland

Die Gebäude sind nach Fussballer Eric Cantona und Stabhochspringer Sergei Bubka benannt, der Campus bietet den Angestellten Fussball-, Volleyball- und Tennisplätze, eine Tartanbahn und Fitnessunterricht. Wer es mit dem Sport übertreibt, kann sich an den hauseigenen Physiotherapeuten wenden. Und wer neue Laufschuhe braucht, kauft sie im internen Shop zu Vorzugskonditionen. In Hilversum, eine halbe Autostunde von Amsterdam entfernt, hat Nike sein europäisches Hauptquartier aufgebaut. 2500 Angestellte arbeiten hier. Und hier werden die Umsätze aus ganz Europa gebucht. Auch die aus der Schweiz.

Hiesige Schuhhändler geschäften mit der Nike European Operations Netherlands B.V. Kunden, die Sneakers im Schweizer Nike-Onlineshop bestellen, stossen im Kleingedruckten auf die Nike Retail B.V. Hilversum. (Das Paket selbst kommt aus Belgien, die Kreditkarte wird über eine Gesellschaft in Irland belastet.) Und wer einen Schuh in einem Schweizer Nike-Outlet-Store kauft, sieht auf dem Kassenzettel die Zeile: «Nike Retail B.V. Hilversum». Dreimal Holland.

Warum ist diese Verbindung so wichtig?

Ein Grundsatz im Steuerrecht lautet, dass ein Unternehmen seinen Gewinn dort versteuern soll, wo es Kapital investiert und wo die Angestellten arbeiten. Also dort, wo sich seine Substanz befindet.

Der Nike-Aufbau – schmaler Ableger in der Schweiz, das Geschäft ferngesteuert aus Holland – ermöglicht es, zu argumentieren: Die Gewinne, die mit Schweizer Verkäufen gemacht werden, fallen nicht in der Schweiz an. Sondern in Hilversum. Und dort sind sie auch zu besteuern. Nach Rümlang zurück fliesst nur eine verhältnismässig kleine Entschädigung für die «Hilfe» beim Verkauf. So funktioniert das Nike-System in ganz Europa.

Nike ist nicht der einzige US-Konzern, der einen solchen holländischen «Gewinnstaubsauger» aufgebaut hat. Auch Cisco oder Tesla haben Holland für ihre europäischen Hauptquartiere auserkoren. Dieses «Prinzipalmodell», wie es im Jargon genannt wird, geht für die meisten Steuerexperten in Ordnung: wo die Substanz, da die Steuerpflicht. Das Problem liegt im Fall Nike in Holland: Dort gilt zwar eine eher hohe Steuer von 25 Prozent auf dem Gewinn – aber die Regierung bietet amerikanischen Multis einige Kniffe an, wie sich der steuerbare Gewinn kleinrechnen lässt.

Schritt 4  Hamilton, Bermuda

Bild von Jerome Wilson
Jerome Wilson
Und jetzt kommt der Markenschatz ins Spiel, den Jerome Wilson und seine Kollegen auf Bermuda hüten. Er gehört einer Gesellschaft namens Nike International Ltd. mit Sitz auf der Insel – diese Briefkastenfirma dient als Halterin der weltweiten Nike-Marken, mit Ausnahme des Gebiets der USA. Das belegt die Datenbank der World Intellectual Property Organization.

2005 schliesst Nike International Ltd mit Nike Holland einen Lizenzvertrag: Nike Holland bezahlt Nikes Bermuda-Firma für das Recht, Produkte zu verkaufen, auf denen der Swoosh (oder ein anderes Nike-Logo) prangt. Die holländischen Steuerbehörden stimmen dem Deal zu. Aus US-Gerichtsunterlagen geht hervor, dass Nike Holland auf diese Weise alleine von 2010 bis 2012 3,85 Milliarden Dollar an Lizenzgebühren aus seinen holländischen Gesellschaften nach Bermuda fliessen lässt. Um diesen Betrag schrumpft der Gewinn in Holland – und damit auch die dortige Steuerrechnung.

Was das bewirkt, zeigt ein Rechenbeispiel: Angenommen, Nike Holland hat den Dualtone Racer aus dem Zürcher Niederdorf für 50 Franken an Pomp It Up verkauft. Nach Abzug aller Kosten bleiben Nike 10 Franken Gewinn, die in Holland anfallen. Darauf muss Nike Steuern von 25 Prozent zahlen – also 2.50 Franken. Wenn nun aber vom Gewinn 3 Franken an Lizenzgebühren nach Bermuda fliessen, schrumpft der Gewinn auf 7 Franken – und der Steuerbetrag auf 1.75 Franken.

Steuerkonstrukte sind nicht für die Ewigkeit gebaut. Regeln ändern sich ständig, Schlupflöcher verschwinden, neue gehen auf, und die Unternehmen mutieren mit. Auch Nike. Im Frühling 2014 heisst es für Anwalt Jerome Wilson und seine Kollegen bei Appleby: Umbauen! Nike plant, seine Marken nach Europa zu zügeln. In Bermuda verschwinden zehn der zwölf Briefkastenfirmen, nur zwei bleiben übrig. In Holland tauchen elf neue Gebilde auf. Eine Firma sticht besonders ins Auge: die Nike Innovate C.V. Darin lagert Nike neu seine Marken ein, es sind mindestens 1500 Stück. Auch Roger Federers «RF»-Initialen werden nun in das holländische Vehikel transferiert.

Die neue Steueroase liegt nicht im Atlantik, sondern hinter den Deichen des Ijmeers.

Schritt 5  Hilversum, Holland

C.V. steht für «Commanditaire Vennootschap», Kommanditgesellschaft. Dieser Gesellschaftstyp existiert ähnlich auch in der Schweiz, wird aber eher selten verwendet. Der Kniff, den Nike mit der Nike Innovate C.V. anwendet, basiert auf einem Phänomen namens «hybrid mismatch»: Unternehmen nutzen aus, dass Behörden nicht dasselbe sehen, wenn sie eine C.V. betrachten. Der holländische Fiskus sagt: Für Profite, die in die C.V. fliessen, sind die USA zuständig, weil die C.V. zwei US-Firmen gehört. In den USA kann das Unternehmen selbst entscheiden, wo die C.V. Steuern zahlen soll – worauf dann die Steuerexperten des Konzerns Holland auswählen. Ergebnis: Beide Behörden tun nichts, die C.V.-Gelder bleiben steuerfrei, solange sie nicht in die USA weiterfliessen. Mit anderen Worten: Nike erhält einen Steueraufschub.

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Seit 2014 pumpt Nike Millionen in die Innovate C.V. Aus öffentlichen Jahresabschlüssen lässt sich herauslesen, dass die holländische Nike-Europa-Holding alleine im Jahr 2016 1017 Millionen Euro an Lizenzgebühren zahlt. Die Vermutung: Ein grosser Teil davon ist in Nike Innovate C.V. geflossen. Auf Anfrage nimmt Nike dazu keine Stellung.

Wie beliebt der Trick mit der C.V. bei US-Konzernen ist, zeigt ein Papier der amerikanisch-holländischen Handelskammer, das an den holländischen «Correspondent» gelangte: Mindestens 80 Prozent aller amerikanischen Investments in Holland laufen über ein solches Vehikel.

Das hat einen tieferen Grund. In den USA gilt für Multis eine Steuer von 35 Prozent auf den Gewinn – kaum ein anderes westliches Land fordert so viel. Republikanische Politiker haben am Freitag einen Plan lanciert, um die Steuern drastisch zu senken. Noch ist es nicht so weit, und um der Steuerpflicht auszuweichen, halten US-Konzerne Milliardengewinne im Ausland zurück. Solange sie die Gelder nicht in ihr Heimatland zurückführen, bleiben sie unbesteuert. Apple speichert so unvorstellbare 246 Milliarden Dollar; bei Nike sind es aktuell 12,2 Milliarden Dollar. Das Reservoir begann sich just in dem Jahr zu füllen, als die ersten Lizenzgebühren nach Bermuda flossen. Und die Strategie scheint aufzugehen: Die Republikaner drängen auf eine Steuerrabatt-Aktion. Geplant ist, dass Multis ausländische Gewinne einmalig zu einem Steuersatz von fünf bis zwölf Prozent in die USA transferieren können.

Schritt 6  Leiden, Holland

Bild von Jan Vleggeert
Jan Vleggeert
Es gibt nicht viele unabhängige Spezialisten, welche die Geschichte des C.V.-Vehikels erklären können und bereit sind, mit Journalisten zu sprechen. Jan Vleggeert ist eine Ausnahme. Der 56-Jährige arbeitete früher bei PricewaterhouseCoopers in Amsterdam als Steuerberater, heute ist er ausserordentlicher Professor für internationales Steuerrecht an der Universität Leiden.

«Holland hat historisch eine starke Steuerindustrie, ähnlich wie die Schweiz», sagt Vleggeert am Telefon. Auch in der Schweiz sind viele Prinzipalgesellschaften angesiedelt, es gibt auch Schweizer «Gewinnstaubsauger». Und da ist noch eine Gemeinsamkeit: Hier wie dort kommen Spezialregimes immer stärker unter Druck. Während die Schweiz als Antwort die – inzwischen gescheiterte – Unternehmenssteuerreform III lancierte, begann ein Tauziehen zwischen der EU und Holland um den C.V.-Kniff. Die US-Handelskammer, in deren Steuerausschuss Nikes Steuerdirektor für Westeuropa sitzt, lobbyierte bei der Regierung für den Beibehalt des C.V.-Konstrukts.

Aber der Druck auf Holland lässt nicht nach. «Ich lehne diese C.V.-Strukturen ab», sagt Jan Vleggeert. «Sie führt zu doppelter Nichtbesteuerung. Das ist die aggressivste Form der Steuerplanung.» Dazu komme, dass Multis gegenüber KMU bevorzugt würden. Für einen Konzern wie Nike sei es kein Problem, Marken in eine Spezialstruktur zu verschieben. «Der Laden an der Ecke kann sich das niemals leisten.»

Die Folgen dieses «hybrid mismatch» treffen zuerst die US-Zivilgesellschaft. Laut einer aktuellen Studie unter der Führung der amerikanischen Citizens for Tax Justice entgehen dem amerikanischen Fiskus jährlich rund 100 Milliarden Dollar durch Offshore-Steuervermeidung von US-Multis. «Jeder vermiedene Dollar muss durch höhere Steuern für Amerikaner, Abstriche bei Regierungsprogrammen oder durch höhere Schulden ausgeglichen werden», schreiben die Autoren.

Aber für Vleggeert sind nicht nur US-Bürger betroffen: «Wir spüren den Effekt auch in Europa.» US-Konzerne hätten wegen des C.V.-Tricks einen zusätzlichen Anreiz, ihre europäischen Gewinne in einem Land zu konzentrieren, wo sich eine doppelte Nichtbesteuerung erzielen lasse. Dadurch schrumpfen Gewinne und Steuererträge in anderen Ländern – auch in der Schweiz. «Genau deswegen gibt es Beps», sagt Vleggeert.

Beps – bitte was?

Schritt 7  Davos, Schweiz

Der französische OECD-Steuerfunktionär Pascal Saint-Amans hat das Kürzel an einer Sitzung im April 2012 in die Runde gerufen. Es steht für «Base Erosion and Profit Shifting» und umschreibt einen gigantischen Umbauplan, den G-20 und OECD lancierten, um aggressive Steuervermeidung von Multis zu stoppen. Unternehmen sollen sich wieder stärker am steuerrechtlichen Grundsatz ausrichten: Wo die Substanz, da die Steuerpflicht. Die Schweiz ist mit an Bord und krempelt nun ihr Steuerrecht nach Beps-Regeln um. Einer der 15 Aktionspläne richtet sich ausdrücklich gegen «hybrid mismatches», also auch gegen Nikes holländischen C.V.-Trick.

Wie viel Schub europäische Regierungen dem Thema gaben, zeigte das WEF 2013 in Davos. Der konservative britische Premier David Cameron sagte damals am Rednerpult: «Businesses (...) need to wake up and smell the coffee.» Cameron spielte auf Starbucks an: Die Kaffeekette gehörte zu den ersten Multis, gegen welche die EU-Kommission wegen «illegaler Staatshilfen» ermittelte. Das heisst: Die EU will Holland zwingen, von Starbucks wegen unfairer Steuervorteile 20 bis 30 Millionen Euro Steuern nachzufordern. Camerons Satz, gesprochen am Versammlungsort der globalen Wirtschaftselite, war eine Drohung: Wer nicht mitspielt, zahlt.

Steht Nike nun ein Streit wie Starbucks bevor? In einem Aufsatz von 2016 schreibt Jan Vleggeert, er sehe in manchen Fällen des C.V.-Tricks eine illegale Staatshilfe. «Die Nike-Struktur ist der Starbucks-Struktur nicht unähnlich», sagt er heute. Der Professor vermutet aber, dass Nike von Ermittlungen verschont bleiben könnte. Am 21. Februar 2017 haben die EU-Finanzminister beschlossen, den holländischen C.V.-Trick generell zu unterbinden.

Voraussichtlich per 1. Januar 2020 wird Holland das Schlupfloch stopfen, durch das Nike Milliarden fliessen lässt.

Bedeutet dies das Ende für Nikes Steuerkniffe? Vleggeert sagt, ein kreativer Steuerberater werde neue Konstrukte finden. Beps sei ein Schritt vorwärts. «Aber ich unterliege nicht der Illusion, dass die Initiative aggressive Steuervermeidung von Multis vollständig beendet.»

Nike selbst antwortet nicht auf die Frage, weshalb der Konzern die eigenen Marken in Steuervermeidungskonstrukte verschoben hat. Auf eine Liste von Fragen schickt ein Sprecher ein Statement, in dem es heisst: «Nike hält sich vollumfänglich an die Steuergesetze. Wir stellen rigoros sicher, dass unsere Steuerdeklarationen mit der Realität unseres Geschäfts übereinstimmen sowie mit den Investments, die wir tätigen, und mit den Stellen, die wir schaffen.»

Das holländische Finanzministerium schreibt, man könne sich zu einzelnen Steuerzahlern nicht äussern. Roger Federers Management antwortete nicht auf eine Anfrage.

Schritt 8  Lausanne, Schweiz

Den Schweizer, der den Mythos Nike wie kein anderer kennt, trifft man am besten in seinem Shop in Lausanne-Flon:

Bild von Guillaume Morand
Guillaume Morand
Guillaume «Toto» Morand (54), Glatze, raues Lachen, ausgelatschte Nike Mayfly Wovens. Ihm gehört die Pomp-It-Up-Kette, in deren Zürcher Filiale der «Tages-Anzeiger» die Dualtone Racer kaufte. Morand war der Erste, der Nike-Sneakers in der Schweiz als Lifestyleprodukt vermarktete, 1992 begann er damit.

Elf Läden betreibt er heute. Nike ist sein wichtigster Lieferant, sein eigener Erfolg ist mit jenem des Swoosh verwoben, an einem guten Tag verkauft er pro Shop 50 oder mehr Paare. Trotzdem sagt er: «Ich habe keine gute Beziehung zu Nike.»

Früher habe er eng mit den Schweizer Nike-Vertretern zusammengearbeitet. Heute habe er keinen Ansprechpartner mehr, die Mitarbeiter wechselten ständig. Seine Besuche im Showroom würden seltener; kürzlich sass Morand an seinem Rechner, um erstmals eine ganze Kollektion über die interne Serviceplattform Nike.net zu bestellen. «Sie wollen in Zukunft die Marge des Detailhandels. Sie brauchen uns nur noch als Showrooms. Die Kunden sollen über den Nike-eigenen Onlineshop bestellen.» Man könnte sagen: Die Zalandoisierung von Nike ist im Gang. Das Sneakerbusiness digitalisiert sich.

Das wird Folgen für Nikes Steuerrechnung haben, auch in der Schweiz. Wozu teure Zürcher Arbeitskräfte beschäftigen, wenn sich alles über das Netz aus Holland erledigen lässt?

Genau um diesen Punkt wird sich die nächste grosse Debatte drehen. Im September 2017 haben die EU-Finanzminister an einem Treffen in Tallinn eine Initiative zum Umbau der Besteuerung der «Digital Economy» lanciert. Eine der Ideen: Umsatz statt Gewinn besteuern. «Wir sind der Meinung, dass auch im digitalen Sektor die geschuldeten Steuern zu bezahlen sind, sei es on- oder offline», sagte Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident. Ein Plan soll nächstes Jahr vorliegen. Wer darüber mit Spezialisten spricht, hört vor allem Fragen: Kündigt sich eine Steuerrevolution an? Was genau soll die «Digital Economy» sein? Und: Gehört ein Sportkonzern wie Nike dazu?

Morand ist eher der analoge Typ. Seine Verkäuferinnen und Verkäufer schreiben Kassenzettel von Hand, er ist stolz darauf, in seinem Geschäft keinen Informatiker zu beschäftigen. Auf der Schachtel der gekauften Dualtone Racers» klebt kein Pomp-It-Up-Strichcode – die Shopmitarbeiter führen die Verkaufsstatistik à la main. «Ich schaue ins Lager, wenn ich ein Gefühl dafür bekommen will, was läuft», sagt Morand. Als der «Tages-Anzeiger» ihm Nikes Steuerstrategie erläutert, grinst er. «Écoute, das überrascht mich nicht. Sie pressen die Zitrone aus.»

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