«Die Fassungslosigkeit war perfekt: Kaum jemand hatte in den vergangenen Wochen damit gerechnet, dass Zürich am ersten Juni-Wochenende die schwersten Jugendunruhen seit zwölf Jahren erleben würde.» So kommentiert Redaktor Thomas Rüst, was als «Opernhauskrawalle» in die Geschichtsbücher einging. Immer wieder aufflammende Proteste halten die Stadt für Monate in Atem.
18. Juni 1980: Die Polizei geht gewaltsam gegen ein Sit-in vor dem Rathaus in Zürich vor. Bild: Olivia Heussler (Keystone)
«Die ersten Wochen waren faszinierend», sagt der pensionierte Rüst heute. «Die Bewegung erfand eine neue Sprache, etwa das Wort subito, und versenkte mit Witz und Fantasie alte Normen in der Limmat.» Weil der «Tages-Anzeiger» Verständnis für die Jugendlichen zeigt, wird er bald kritisiert. «Je weniger die Gesellschaft in der Lage war, die sich häufenden Demos aus der Welt zu schaffen, desto mehr wurde die grösste Zeitung zum Sündenbock», sagt Rüst. Inserenten und Abonnenten boykottieren den als «zu links» eingeschätzten Tagi, aber auch viele Jugendliche wenden sich ab. Selbst die Redaktion ist gespalten: Der intern sogenannte konservative «Likud-Block» steht den «Jungtürken» gegenüber, die der Bewegung näherstehen.
Und auch zwischen Redaktion und Verlag kommt es zu Differenzen. Am 4. Oktober 1980 verbietet die Geschäftsleitung des «Tages-Anzeigers» die Publikation eines Artikels im Tagi-Magi, in dem Schriftsteller Reto Hänny seine Erlebnisse als Zuschauer einer Demonstration, seine Verhaftung sowie den Polizeigewahrsam im September 1980 wortreich schildert. Der Artikel würde das Gesamtinteresse der Zeitung verletzen, weil er «im gegebenen Lokalklima bei einer emotional angeregten Öffentlichkeit und Leserschaft kontraproduktiv» wirke. Die Tagi-Kulturredaktion und Redaktoren des «Tages-Anzeiger-Magazins» nehmen daraufhin die Verbreitung des Textes selber in die Hand und verteilen ihn in 5000-facher Auflage in Zürich.
Reto Hänny erzählt im Video von den 80er Unruhen in Zürich. Wie er sie erlebte, welches seine Ängste waren und was er rückblickend anders machen würde.