Als der Tagi unter Polizeischutz verteilt wurde

Von zwei Weltkriegen über die Erkämpfung des Frauenstimmrechts bis zu den Enthüllungen um die Paradise Papers: 18 Episoden aus der 125-jährigen Geschichte des «Tages-Anzeigers».

Von Sarah Fluck, Hannes Weber und dem Interaktiv-Team

Das Land steht fünf Tage still

«Der ‹Tages-Anzeiger› erscheint täglich» steht auf der Front – so auch am 16. November 1918. Doch weiter hinten im Blatt meldet die Redaktion: «Infolge des Landesstreikes und speziell des Typographen-Streikes musste leider mit der Zustellung des ‹Tagesanzeiger› eine Unterbrechung von 5 Tagen stattfinden.» In diesen Tagen endet der Erste Weltkrieg. Und eben: In der Schweiz entladen sich die sozialen Spannungen im viertägigen Generalstreik. Aus Angst vor einem Staatsstreich lässt der Bundesrat bewaffnete Truppen in den Städten aufmarschieren. Dabei sind die Forderungen aus heutiger Sicht nicht revolutionär: Unter anderem verlangen die Streikenden einen 8-Stunden-Tag, die Einführung der AHV sowie das Frauenstimmrecht.

9. November 1918: Die Kavallerie steht auf dem Paradeplatz, um eine geplante Feier zum Jahrestag der Oktoberrevolution zu verhindern. Bild: Keystone

Hitler breitet seine Meinung aus

«Was wollen wir Nationalsozialisten?» ist am 17. Dezember 1931 die Schlagzeile auf der Front des «Tages-Anzeigers». Rund ein Jahr vor der Machtergreifung kann Adolf Hitler sein Parteiprogramm in einem Leitartikel ausbreiten. Italiens Faschistenführer Benito Mussolini bekommt im Tagi gleich mehrfach eine Plattform.

12. Oktober 1931: NSDAP-Parteiführer Adolf Hitler trifft mit Gefolgsleuten für ein Treffen in Berlin ein. Bild: Hulton Archive, Getty Images

«Zu Beginn der 30er-Jahre gab es in der schweizerischen Öffentlichkeit kein klares Bewusstsein von der Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging», sagt Historiker Jakob Tanner. Selbst die Machtergreifung sei fast ausschliesslich von linken Blättern eindeutig kritisiert worden. «Von daher war der ‹Tages-Anzeiger› kein Ausreisser.» Zudem hatten auch andere Politiker die Möglichkeit, ihre Ansichten auszubreiten, etwa der spätere Premier Winston Churchill oder der Kommunist Karl Radek. Historiker Konrad Zollinger sieht in der Publikation auch von Extrempositionen das Bestreben nach Unparteilichkeit: keine Gesinnung ausschliessen.

17. Dezember 1931: Der Leitartikel von Adolf Hitler im «Tages-Anzeiger». Bild: TA-Archiv

«Meier 19» bringt Skandale ans Licht

Er gilt als der erste Whistleblower der Schweiz: Kurt Meier (1925–2006), ehemaliger Angestellter der Stadtpolizei Zürich. Ende Februar 1967 gelangt der Detektivwachtmeister unter dem Namen «Meier 19» erstmals an die Medien. Dies, nachdem er amtsintern kein Gehör gefunden hatte. Er steckt der Presse, dass sowohl ein Oberst als auch ein Fabrik­direktor nach Verkehrssünden von der Zürcher Polizei eine Vorzugsbehandlung erhielten. Die Amtsgeheimnisverletzung führt noch im selben Jahr zu Meiers Entlassung.

15. Oktober 1975: Walter Hubatka (links) und Kurt Meier (alias «Meier 19»). Bild: Keystone/Str

Eine solche Reaktion der Behörden lassen sich die Zürcherinnen und Zürcher nicht bieten und gehen im August 1967 auf die Strasse. Es ist die Geburtsstunde der Zürcher 68er-Demonstrationen. In den folgenden Jahren findet Meier nur vorübergehende Anstellungen, sorgt aber mit Enthüllungen im Fall des Zürcher Zahltagsdieb­stahls für weitere Schlagzeilen. Der «Tages-Anzeiger» alleine publiziert rund 80 Artikel und Meldungen, die auf Informationen von «Meier 19» zurückzuführen sind. Tagi-Redaktor Paul Bösch kämpft jahrelang für die Rehabilitierung Meiers und veröffentlicht 1997 schliesslich das Buch «Meier 19 – Eine unbewältigte Polizei- und Justizaffäre».

Die 68er und die Frauenrechte

1959 lehnen zwei Drittel der Schweizer Männer das Frauenstimmrecht ab, 1971 sagen 57 Prozent Ja dazu. Die 68er-Bewegung hat den Kampf um die Frauenrechte beflügelt.

27. Januar 1971: Demonstration kurz vor der zweiten Abstimmung für ein nationales Frauenstimmrecht. Bild: Hulton-Deutsch Collection, Corbis, Getty Images

Auch der Tagi bekommt mehr weibliche Stimmen. Als zweite Volontärin beginnt 1967 etwa die promovierte Biologin Rosmarie Waldner beim Tagi. Sie bringt entscheidende Impulse für die Wissenschaftsberichterstattung.

Rosmarie Waldner war die erste Frau, die beim Tages-Anzeiger ein Volontariat machen durfte. Das war im Herbst 1967, damals war sie 26 Jahre alt. Im Video erzählt sie, wie speziell das zu dieser Zeit war.

Und mit Laure Wyss baut eine Frau das neue «Tages-Anzeiger»-Magazin mit auf. «Make war not love – Frauen gegen Männer» – der erste Titel am 7. Februar 1970 sorgt für Furore. In drei Reportagen berichtet die Amerikanerin Irma Kurtz über die «weibliche Revolution» in den USA, in England und Italien sowie die Lage in der Schweiz. Ihr Urteil: «Die Schweizer Frauen sind heute da, wo die meisten anderen Frauen der zivilisierten Welt vor 50 Jahren waren.» Immerhin: Das Stimmrecht bekommen sie wenig später. Doch ungleiche Löhne, Untervertretung in Chefetagen und auch die #MeToo-Debatte über sexuelle Übergriffe zeigen: 47 Jahre später ist der Kampf noch immer nicht vorbei.

7. Februar 1970: Kampf der Geschlechter – das erste Cover des «Tages-Anzeiger-Magazins» sorgt für Furore. Bild: TA-Archiv

Landesverräter Ernst S.

Es gibt in der Schweiz kaum einen Text, der solch eine Sprengkraft entfaltet hat wie die Reportage von Niklaus Meienberg über «Ernst S.». Sie erzählt vom St. Galler Arbeiter S., der als erster von 17 Männern zwischen 1942 und 1944 von der Schweizer Militärjustiz hingerichtet wird. Sein Verrat: Er entwendet Granaten und militärische Skizzen, die er für ein paar Hundert Franken an Deutschland verkauft.

Landesverräter Ernst S., undatiert. Bild: Schweizerisches Bundesarchiv

Gegen den Widerstand der Armee studiert Meienberg monatelang Quellen und spricht mit Zeitzeugen. Aus seiner historischen Aufarbeitung wird eine Abrechnung mit der militärischen Klassenjustiz und dem Bürgertum. Meienberg veröffentlicht im Tagi-Magi einen ersten Text zum Thema. 1973 folgt sein Buch zu S., drei Jahre darauf der mit Richard Dindo produzierte Dokumentarfilm.

Führte den Kampf gegen das Armee-Establishment: Der Schriftsteller Niklaus Meienberg 1992 in Zürich. Bild: Bildarchiv TA

Züri brännt

«Die Fassungslosigkeit war perfekt: Kaum jemand hatte in den vergangenen Wochen damit gerechnet, dass Zürich am ersten Juni-Wochenende die schwersten Jugendunruhen seit zwölf Jahren erleben würde.» So kommentiert Redaktor Thomas Rüst, was als «Opernhauskrawalle» in die Geschichtsbücher einging. Immer wieder aufflammende Proteste halten die Stadt für Monate in Atem.

18. Juni 1980: Die Polizei geht gewaltsam gegen ein Sit-in vor dem Rathaus in Zürich vor. Bild: Olivia Heussler (Keystone)

«Die ersten Wochen waren faszinierend», sagt der pensionierte Rüst heute. «Die Bewegung erfand eine neue Sprache, etwa das Wort subito, und versenkte mit Witz und Fantasie alte Normen in der Limmat.» Weil der «Tages-Anzeiger» Verständnis für die Jugend­lichen zeigt, wird er bald kritisiert. «Je weniger die Gesellschaft in der Lage war, die sich häufenden Demos aus der Welt zu schaffen, desto mehr wurde die grösste Zeitung zum Sündenbock», sagt Rüst. Inserenten und Abonnenten boykottieren den als «zu links» eingeschätzten Tagi, aber auch viele Jugendliche wenden sich ab. Selbst die Redaktion ist gespalten: Der intern sogenannte konservative «Likud-Block» steht den «Jungtürken» gegenüber, die der Bewegung näherstehen.

Und auch zwischen Redaktion und Verlag kommt es zu Differenzen. Am 4. Oktober 1980 verbietet die Geschäftsleitung des «Tages-Anzeigers» die Publikation eines Artikels im Tagi-Magi, in dem Schriftsteller Reto Hänny seine Erlebnisse als Zuschauer einer Demonstration, seine Verhaftung sowie den Polizeigewahrsam im September 1980 wortreich schildert. Der Artikel würde das Gesamtinteresse der Zeitung verletzen, weil er «im gegebenen Lokalklima bei einer emotional angeregten Öffentlichkeit und Leserschaft kontraproduktiv» wirke. Die Tagi-Kulturredaktion und Redaktoren des «Tages-Anzeiger-Magazins» nehmen daraufhin die Verbreitung des Textes selber in die Hand und verteilen ihn in 5000-facher Auflage in Zürich.

Reto Hänny erzählt im Video von den 80er Unruhen in Zürich. Wie er sie erlebte, welches seine Ängste waren und was er rückblickend anders machen würde.

Scientology im Fokus

Es beginnt mit einem kleinen Artikel des damaligen Volontärs Hugo Stamm und entwickelt sich nach jahrelanger Recherche zur ersten umfassenden Dokumentation über die Scientology-Kirche der Schweiz. Nach Schilderungen eines Aussteigers vergräbt sich der Redaktor ins Sektenthema, spricht mit praktizierenden und ehemaligen Mitgliedern.

Hugo Stamm (links) unterhält sich 1999 an einem von der Scientology Kirche organisierten Anlass mit Sänger und Vertreter der Vereinigung «Freunde der Vereinten Nationen» Andrik Schapers. Bild: Andy Müller (Reuters)

Die Fülle an Material lässt sich nicht in einen Artikel pressen, weshalb er 1982 das Buch «Scientology – Seele im Würgegriff» schreibt. Auszüge davon erscheinen im aufsehenerregenden «Magazin»-Artikel «Im oberen Zehntel des obersten Zehntels». Es folgen Recherchen über rund 60 weitere Gruppierungen. Beim Stichwort Sekten fällt künftig oft der Name Stamms. «Das Thema hat mich gefunden», sagt er rückblickend.

Die «Kopp-Affäre»

Die Freisinnige Elisabeth Kopp beendet mit ihrem Einzug in den Bundesrat die 136-jährige Alleinherrschaft der Männer. Als Justizministerin erntet sie vor allem eines: Lob. Wenige Tage nach ihrer Wahl zur Vizepräsidentin des Bundesrats tätigt sie den fatalen Telefonanruf an ihren Mann Werner H. Kopp – ein Gespräch, das nur Wochen später zu ihrem Rücktritt führen wird.

1. Oktober 1984: Elisabeth Kopp, einen Tag vor der Wahl in den Bundesrat im heimischen Büro in Zumikon ZH. Bild: Keystone/Str

Den Stein ins Rollen bringt der «Tages-Anzeiger» im November 1988, als er publik macht, dass die Tessiner Untersuchungsbehörden einen grossen Geldwäscherei-Fall aufgedeckt haben. Darin verwickelt sei auch die Shakarchi Trading AG, aus der ein Verwaltungsrat, ein gewisser Herr Kopp, kurz zuvor überraschend ausgetreten sei.

Rolf Wespe hat mit seinem Artikel, zusammen mit Beat Allenbach und Hansjörg Utz, die damalige Bundesrätin Elisabeth Kopp gestürzt. Im Video schildert er den Moment, als er merkte: jetzt passiert etwas ganz Grosses. Zudem sagt er, weshalb er Angst um seinen Job hatte.

Die Drogenhölle auf dem Platzspitz

Ab den frühen 80er-Jahren wächst die offene Zürcher Drogenszene rasant und wird an immer neue Orte getrieben. Der «Tages-Anzeiger» verfolgt die Verelendung vor der Haustür mit ausführlichen Reportagen und Berichten. Erst der liberalere Umgang mit dem Drogenproblem verbessert die Situation nach jahrelanger Untätigkeit der Politik. Der letzte Schauplatz des Drogenelends am Oberen Letten kann 1995 aufgelöst werden.

Das Drogenelend mitten in Zürich: Heroinabhängige am Letten. Bild: Pascal Le Segretain (Sygma, Getty Images)

20 Jahre später veröffentlicht der «Tages-Anzeiger» eine ausführliche interaktive Reportage von Michèle Binswanger. Heute erstaune es, dass es so wenige Bild- und Tonaufnahmen der Platzspitz-Katastrophe gibt, sagt sie. «Im Zeitalter von Smartphones und sozialen Medien wäre der Druck auf die Politik schneller viel höher gewesen.»

Zu der interaktiven Longform «The Needle Traum» des Tages-Anzeigers

Die Fichen der Zürcher Lehrer

Ende 1989 kommt im Nachgang zur Kopp-Affäre ans Licht, dass die Bundespolizei rund 900 000 Schweizerinnen und Schweizer ausspioniert hat. Der Skandal erschüttert das Vertrauen vieler Bürger in den Staat.

3. März 1990: Das «Komitee gegen den Schnüffelstaat» demonstriert vor dem Bundeshaus. Bild: Keystone/Str

Drei Jahre später zeigt sich in Zürich, dass auch die Erziehungsdirektion des Kantons widerrechtliche Informationen über ihre Lehrer gesammelt hat. Am 27. Oktober 1992 veröffentlicht der «Tages-Anzeiger» ein sogenanntes Fichenblatt mit dicken schwarzen Balken, das einen Verdacht der damaligen Kantonsräte Werner Stoller (SVP) und Bruno Bösel (Auto-Partei) bestätigt. Erziehungsdirektor Alfred Gilgen bezeichnet den Verdacht erst als «maliziöse Falschmeldung», bis er im Dezember reinen Tisch macht: Ihm sei es zentral um den Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM) gegangen. Dieser habe mit missionarischem Eifer versucht, die Schulpolitik mit radikalen Ideen zu unterwandern. Deshalb seien Namen von rund 1500 mutmasslichen VPM-Mitgliedern gesammelt worden. Davon waren 91 Personen für die Zürcher Volksschule tätig.

Die Klärschlammaffäre

Im Dezember 1992 wird in der Zürcher Stadtentwässerung ein Korruptionsfall publik: Die Beamten Angela Ohno und Hanspeter Heise finden heraus, dass Klärschlamm von einer Entsorgungsfirma nicht wie vereinbart nach Basel zur Aufbereitung gebracht, sondern auf die Felder eines Thurgauer Bauern gekippt wird.

Abwasser in der biologischen Reinigung im Klärwerk Werdhölzli Zürich. Bild: Christian Beutler (Keystone)

Dabei seien Bestechungsgelder von über einer halben Million Franken geflossen, behaupten sie. Eine der betroffenen Entsorgungsfirmen gehört dem FDP-Stadtrat Hans Wehrli, der als Verwaltungspräsident amtet. Die Überbringer der schlechten Nachricht werden entlassen oder versetzt. TA-Redaktor Hugo Stamm deckt zusammen mit dem Anwalt der beiden, Ueli Vogel-Etienne, weitere Details des Korruptionsfalls auf, bis auch die Politik nicht mehr wegsehen kann. Der Gemeinderat richtet 1996 eine PUK ein, welche die Vorwürfe bestätigt. Beamte und vier Entsorgungsfirmen werden wegen Bestechung, Betrugs und Urkundenfälschung verklagt. Ohno und Heise werden mit dem Prix Courage belohnt – und Wehrli wird abgewählt.

November 1997: Zwei Mitangeklagte im Zürcher Klärschlammprozess betreten das Zürcher Bezirksgericht. Bild: Michele Limina (Keystone)

Ein Mord verändert die Justiz

25 Jahre ist es her, seit die 20-jährige Pfadfinderführerin Pasquale Brumann im Wald des Zollikerbergs gefunden wurde – nackt und mit Stichwunden am Hals. Der Täter, Erich Hauert, wird einen Tag darauf festgenommen. Der Polizei ist er bestens bekannt, befand er sich doch im unbegleiteten Hafturlaub der Strafanstalt Pöschwies, wo er wegen zwei Sexualmorden und elf Vergewaltigungen eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüsste.

19. September 1996: Erich Hauert wird beim Verlassen eines Polizeiautos von Medienleuten erwartet. Bild: Peter Lauth (Keystone)

Der Fall löst ein politisches Erdbeben aus und markiert einen Gesinnungswandel der Gesellschaft: Fortan steht nicht mehr die Resozialisierung von Straftätern, sondern die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit im Vordergrund.

Gedenken an einen grausigen Mord: Farbige Windrädchen am Dorfeingang von Zollikerberg erinnern an Pasquale Brumann. Foto: Peter Lauth (Keystone)

Köppel und der «Scheissfilm»

Einen Teil seiner Bekanntheit verdankt der damalige «Magazin»-Chefredaktor Roger Köppel einem Text von 1998 «zum Genre des Scheissfilms». In seiner Polemik gegen das Autoren- und Kunstkino von Theo Angelopoulos, Wim Wenders und Alain Tanner gelingt es ihm, das Wort «Scheissfilm» 21-mal einzubauen. Folge: zahlreiche Leserbriefe, Abokündigungen und ein gebrochenes Herz des «Tages-Anzeiger»-Filmredaktors Martin Schaub.

September 2000: Porträt von Roger Köppel, damals noch als Chefredaktor des Tagi-Magi. Bild: Martin Ruetschi (Keystone)

Das Nachspiel zum Grounding

Im Frühjahr 2007 findet der erste Prozess zur «grössten und schönsten Firmenpleite des Landes» statt – so das Swissair-Grounding von 2001 in den Worten von Constantin Seibt. Er berichtet während sechs Wochen für den «Tages-Anzeiger» aus dem Bezirksgericht in Bülach.

6. März 2007: Der ehemalige SAirGroup-Konzernchef Mario Corti orientiert nach der Verhandlung vor dem Bezirksgericht Bülach die Presse. Bild: Walter Bieri (Keystone)

Seibts Leistung, die äusserst komplexen Sachverhalte auf ihre wichtigsten Szenen, auf ihre Helden und Antihelden zu kondensieren, wird 2011 mit dem Zürcher Journalistenpreis belohnt. Übrigens: Alle 19 Angeklagten werden freigesprochen. Der Monsterprozess sei Strafe genug gewesen, resümiert Seibt. Und die kollektive Blindheit und Arroganz der Verantwortlichen gegenüber den Problemen der «fliegenden Bank» sei aufgedeckt worden. «Was bleibt, ist letztlich eine uralte, sehr einfache Botschaft: Manchmal sind Kaiser sehr, sehr nackt. Sieh hin.»

Der Fall Mörgeli

Seinen Anfang nimmt die Geschichte im August 2012 während eines gemeinsamen Mittagessens des TA-Reporterteams. Da stand die Idee im Raum, einmal Mörgelis wissenschaftliche Leistung nachzurecherchieren. Die Aufgabe fasst Iwan Städler; er publiziert im September seinen Artikel «Leichen im Keller des Professors». Darin berichtet er, dass Flurin Condrau – Mörgelis Chef an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich – an der Arbeit seines Angestellten schwere Mängel feststellt. In einem Jahresbericht war die Rede von Vorlesungen, die zwar jahrelang angeboten, aber nie durchgeführt wurden.

10. September 2012: Christoph Mörgeli im Medizinhistorischen Museum an der Rämistrasse. Bild: Sabina Bobst

Zudem sei die Dauerausstellung des Medizinhistorischen Museums veraltet. Zwei Wochen später verliert Mörgeli seinen Job. Der Fall löst eine Lawine an Untersuchungen und Verfahren aus. So ermittelt die Zürcher Staatsanwaltschaft aufgrund der Herausgabe von Berichten wegen Amtsgeheimnisverletzung. Und Mörgeli seinerseits klagt erfolgreich gegen seine Entlassung.

Iwan Städler hat die Mörgeli-Affäre aufgedeckt. Im Video erzählt er, wie er das geschafft hat – und was er rückblickend anders machen würde.

Der Seco-Skandal

Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz gelingt es dem Redaktor Christian Brönnimann, den wohl grössten Korruptionsfall der Bundesverwaltung der letzten Jahrzehnte aufzudecken: Seine Recherchen 2014 zeigen, dass ein IT-Mitarbeiter des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) Aufträge des Bundes überteuert an Firmen vergeben hat – im Tausch gegen Elektrogeräte, VIP-Tickets und Bargeld.

Blinkende Server, klingende Kassen: Von den überteuerten Seco-Aufträgen profitieren zwei IT-Firmen und bekommen Aufträge im Wert von 73 Millionen Franken. Bild: Urs Jaudas

Allein zwischen 2006 und 2012 erhalten die zwei in den Fall verwickelten IT-Firmen Aufträge in der Höhe von 73 Millionen Franken. Geschädigt wird der Fonds der Arbeitslosenversicherung – wohl in Millionenhöhe. Der Fall wartet noch auf die richterliche Beurteilung. Für die Recherche gab es aber schon mal den Zürcher Journalistenpreis.

Verhaftungen im «Baur au Lac»

Das Jahr 2015 steht im Zeichen des Fifa-Skandals: Bereits im Mai werden sechs Fifa-Fussballfunktionäre im Zürcher Hotel Baur au Lac verhaftet. Im September dann wird es eng für die rechte Hand Sepp Blatters, Jérôme Valcke.

Hier schien die Welt noch in Ordnung: Präsident Sepp Blatter und Generalsekretär Jérôme Valcke 2011 am 61. Fifa-Kongress in Zürich. Bild: Pascal Müller (Keystone)

Dazu trägt massgeblich die Recherche der drei TA-Journalisten Mario Stäuble, Thomas Knellwolf und Thomas Schifferle bei: An einem Treffen in einem Zürcher Zunfthaus erhalten sie und eine Handvoll ausgewählter ausländischer Medien von der Agentur JB Sports Marketing einen USB-Stick mit brisanten Dokumenten.

Darunter ein Vertrag der Agentur mit der Fifa, der zeigen soll, dass sich Valcke beim Ticketverkauf für Endrunden von Weltmeisterschaften persönlich bereichert habe. Noch am selben Abend wird der Verband aktiv: Er entbindet den Generalsekretär von seinen Aufgaben und gibt bei der Fifa-Ethikkommission eine formelle Untersuchung in Auftrag. Kurz vor Weihnachten sperrt die Ethikkommission den bereits suspendierten Fifa-Präsidenten Sepp Blatter und den Uefa-Präsidenten Michel Platini, da Blatter an diesen unlauter 2 Millionen Euro überwiesen haben soll.

Die Offshore-Papers

Es sind die grössten Datenlecks der Geschichte: die Panama Papers 2016 und die Paradise Papers 2017. Die Menge an Informationen zu Offshore-Steueroasen führt zu einer weltweiten Medienkooperation. Mit an Bord: der «Tages-Anzeiger» und die «SonntagsZeitung». «Dank den Panama Papers haben wir aufgedeckt, dass Zürich ein zentraler Knotenpunkt bei der dubiosen Verwaltung der Gelder von Putins Entourage war», sagt Oliver Zihlmann, Co-Leiter des Tamedia-Recherchedesks. «Die Paradise Papers wiederum zeigen die Verstrickungen von wichtigen Personen in der Schweiz in Geschäfte mit Geldern des angolanischen Volkes – allen voran SBB-Präsidentin Ribar.» Als Folge der beiden Enthüllungen wird sich das Parlament mit einer Lex Panama und einer Lex Glencore befassen.

Dunkle Wolken über Panama-Stadt: Auch für bekannte Schweizer wird es nach den Enthüllungen rund um panamaische Offshore-Daten ungemütlich. Bild: Pascal Müller (Keystone)

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