Am 7. August 2018 hat die Zürcher Justiz bekannt gegeben, dass sie fünf Darknet-Drogendealer verhaftet hat. Unter ihnen waren auch die beiden Händler «Swissflakes» und «Happy-Olaf». Wie deren Geschäft funktionierte, zeigt unser Webspecial vom 2. Mai, das wir aus aktuellem Anlass neu veröffentlichen.
«Happy-Olaf» scheint beliebt zu sein: «Sympathischer Händler! Weiter so!», schreibt ein Käufer, und gibt ihm fünf von fünf Sternen. Wie 138 von 140 Kunden in den letzten drei Monaten. «Happy-Olaf» ist ein Onlinehändler, der nur ein Produkt anbietet: Kokain. 1, 3, 10, 15 oder 30 Gramm.
Das Pseudonym stehe für eine Gruppe von Leuten, sagt ein Mitglied in einem schriftlich und anonym geführten Interview mit dieser Zeitung. Die Ware komme aus Kolumbien: «Da wir ab Block und ungeschnitten weiterverkaufen, haben wir zwar eine niedrigere Marge als der Kleindealer, der streckt – dafür verkaufen wir in ganz anderen Mengen.»
«Happy-Olaf» ist einer von rund 15 Schweizer Dealern auf «Dream Market», der populärsten Handelsplattform im Darknet – einem Netz innerhalb des Internets, auf das sich nur mit einer Anonymisierungs-Software zugreifen lässt, dem Tor-Browser. Das Programm ist allerdings in wenigen Minuten installiert, und die Adresse des «Dream Market» ist nur eine Google-Suche entfernt.
Weder die Kundenbewertungen noch die Aussagen des Dealers sind unabhängig überprüfbar. Ermittler und IT-Spezialisten gehen aber davon aus, dass ein erheblicher Teil solcher Drogenverkäufe tatsächlich stattfindet.
Der weltweite Darknet-Handel hat stark zugenommen. 2013 führte die «SonntagsZeitung» einen Drogentestkauf auf «Silk Road» durch, dem ersten Marktplatz dieser Art; dort waren damals 14 000 Angebote gelistet. Im April 2018 finden sich allein auf «Dream Market» 118 000 Produkte, davon 60 000 Drogenangebote, aber auch geklaute Kreditkartendaten, Falschgeld, Hacking-Software oder Fake-Gucci-Pullover. Ein bizarres Sammelsurium, zum Teil legal, oft illegal.
Wie ist es möglich, dass auf diesen Marktplätzen verbotene Substanzen so offen angeboten werden, unter den Augen der Behörden? Ein Team dieser Zeitung hat mit Dealern, Ermittlern und Forschern gesprochen, um die Gründe zusammenzutragen. Es sind vier.
Erstens: Die Nachfrage
Zuerst kauft der Waadtländer Michael online Marihuana, später LSD, Ecstasy und Kokain. «Es tönt vielleicht paradox, aber das Darknet bietet mehr Sicherheit», sagt er. Michael heisst in Wirklichkeit anders, er ist zwischen 30 und 40 Jahre alt und arbeitet in der IT-Branche. Er hat sich von sogenannten Vendors Dutzende Lieferungen zuschicken lassen – für den Eigenbedarf, sagt er. Die Vorteile? «Man sieht die Bewertungen der anderen Kunden. Die sind viel zuverlässiger als Angaben von Strassendealern.» Dazu komme: Das Risiko, erwischt zu werden, sei im Netz kleiner.
Zweitens: Das Angebot
Im April 2018 sind auf «Dream Market» 140 Produkte mit Absendeort Schweiz gelistet. Die Händler preisen dies als Vorteil an: Die Sendungen müssen so nicht durch die Zollkontrolle, wodurch die Chancen sinken aufzufliegen. Die mutmasslichen Schweizer Verkäufer sind fast alle im Drogenbereich aktiv: Sie dealen mit Speed, Ketamin, Marihuana, Kokain, Heroin.
Im internationalen Vergleich gehört die Schweiz mit den Niederlanden und Grossbritannien zu denjenigen Ländern, in denen – gemessen an der Bevölkerung – am meisten Darknet-Dealer aktiv sind. Wissenschaftler des Oxford Internet Institute haben 2017 rund 1,4 Millionen Darknet-Transaktionen archiviert. Eine Auswertung zeigt erstmals: Bei Kokaindealern liegt die Schweiz von 52 Staaten auf Platz 2, bei Cannabis auf Platz 3 und bei Opiaten (etwa Heroin) auf Platz 5.
Auffallend ist, wie offensiv Verkäufer im Darknet ihren Service herausstreichen. Er sei «ehrlich und transparent!», verspricht Händler «Swiss-flakes». Er sei auf Geheimhaltung bedacht, speichere die Adresse des Kunden nur bis zum Absenden der Lieferung. Auch «Happy-Olaf» ist bestrebt, sich gegen Strassendealer abzugrenzen, die er mit überteuerten Restaurants in Touristenfallen vergleicht. Als Darknet-Händler stehe man dagegen für «höchste Qualität» und «besten Kundenservice»; man nehme die Verantwortung «so ernst wie ein Lebensmittelhändler, der Gemüse verkauft».
Die These vom Darknet als Markt für Premium-Drogen lässt sich laut Spezialisten aber nicht halten. Es stimme zwar, dass manche Nutzer deswegen das Netz bevorzugten, sagt Christian Kobel vom Zürcher Drogeninformationszentrum (DIZ). «Unsere Analysen zeigen aber: Die Zusammensetzung der Substanzen schwankt enorm – im Darknet wie auf der Strasse.» Beim DIZ können sich Konsumenten beraten und Drogen testen lassen. Die Fachstelle klärt über Wirkungen und Gefahren von psychoaktiven Substanzen auf; sie analysierte 2016 2052 Proben. Laut Kobel kaufen zwei bis fünf Prozent der Testenden ihren Stoff im Darknet, Tendenz leicht steigend. «Wir reden also nach wie vor von einer Nische», sagt er.
Einer Nische allerdings, in der 2017 52 Schweizer Drogenhändler aktiv waren, wovon mehrere über Hunderttausend Franken Umsatz erzielten. Zu diesem Resultat kam der Lausanner Forensiker Quentin Rossy, der in einer Studie die Schweizer Darknet-Dealer auszählte. Laut seiner Analyse erzielten fünf Verkäufer 60 Prozent der Gesamteinnahmen – oft als Gemischtwarenhändler, die verschiedene Drogen anbieten. «Auf der Strasse sind die Dealer stärker auf eine Substanz spezialisiert», sagt Rossy. Auf «Dream Market» findet man alles an einem Ort, wie beim Onlinehändler Amazon.
Drittens: Der Lieferservice
Um zu überprüfen, ob die «Dream-Market»-Angebote echt sind, haben Reporter dieser Zeitung Testkäufe getätigt. Sie wählten die kleinstmöglichen Mengen, um den Finanzfluss an Dealer minim zu halten. Das Rechtsmedizinische Institut der Uni Lausanne analysierte die Lieferungen und vernichtete sie.
In den digitalen Warenkorb legten die Journalisten 1 Gramm Kokain à 100 Franken, 1 mit LSD versetztes Gummibärchen à 20 Franken und 10 Xanax-Tabletten à 0,5 mg für rund 50 Franken. Xanax ist ein rezeptpflichtiges Medikament gegen Angstzustände, das manche Konsumenten schnupfen. 30 Tabletten kosten in der Apotheke 9 Franken – also viel weniger als im Darknet. Der Unterschied: Im Darknet fragt niemand nach dem Arztrezept.
Wenige Tage nach Bezahlung mit Bitcoin treffen die Bestellungen ein. Die neutral weissen Couverts sind gepolstert, die Adressen haben die Absender auf Etiketten ausgedruckt. Die Sendungen wurden in Weinfelden TG, Rickenbach TG und im Briefzentrum Zürich-Mülligen abgestempelt. Kokain und LSD haben die Absender in luftdichte Päckchen verschweisst, die Xanax-Tabletten sind mit Alufolie umwickelt und dreifach in Couverts verpackt.
Im Fall des Kokain-Testkaufs warb Händler «Blow1970» mit «top Qualität». Die Auswertung des Rechtsmedizinischen Instituts in Lausanne zeigt, dass die Probe zu 58 Prozent Kokain enthält – durchschnittliche Qualität. Das Gummibärchen enthielt laut Forensiker Marc Augsburger circa 65 Mikrogramm LSD, eine übliche Dosis. In den Tabletten fand der Forscher je 0,5 mg des Xanax-Wirkstoffs Alprazolam. Die Händler lieferten also, was sie versprachen. «Wir können das als gute Nachricht betrachten, da die Proben keine Substanzen zu enthalten scheinen, die noch gefährlicher sind», sagt Augsburger. «Aber es ist natürlich besorgniserregend, dass illegale, extrem gesundheitsschädliche Produkte so einfach erhältlich sind.»
Viertens: Die Mühe der Fahnder
Im zweiten Stock der Zürcher Polizeikaserne hängt eine Skulptur aus Computerschrott, wer die Augen zusammenkneift, erkennt die Umrisse der Schweiz. Staatsanwalt Stephan Walder hat Dutzende beschlagnahmte Rechnerplatinen zusammengeschraubt und an die Wand gehängt – als Signal für Besucher: In diesen Räumen gehts ums Internet.
Walder ist Co-Leiter des Kompetenzzentrums Cybercrime; die dort tätigen Polizisten, Techniker und Staatsanwälte sind die direkten Gegner von Händlern wie «Happy-Olaf». Walders Team ermittelt wegen Drogen- und Waffenhandel im Darknet, Phishing, Onlinebetrug, Kinderpornografie. «Das Darknet ist kein rechtsfreier Raum. Das Betäubungsmittelgesetz gilt auch dort», sagt er. Ein grosser Teil der Angebote auf «Dream Market» sei echt: «Wir beobachten eine gewisse Verlagerung des Drogenhandels aus dem realen Leben ins Darknet. Unsere Erfahrungen zeigen: Die Plattformen funktionieren.»
Und zwar seit Januar 2011. Damals ging die Plattform «Silk Road» online. Damit begann ein Katz-und-Maus-Spiel, das bis heute andauert. Justizbehörden rund um den Globus jagen die Marktplatzbetreiber. Erwischen sie einen, ist sofort ein Ersatzanbieter zur Stelle. Die Ermittler kämpfen mit der Verschlüsselung der Marktplätze, der zögerlichen internationalen Zusammenarbeit und zersplitterten Zuständigkeiten. «Wir bekämpfen die Kriminalität des 21. Jahrhunderts mit einer Organisation des 19. Jahrhunderts», sagte Bundesanwalt Michael Lauber kürzlich dieser Zeitung. Im internationalen Vergleich sind die Schweizer Behörden im Hintertreffen: Es gibt hierzulande, anders als in den Niederlanden oder den USA, noch kaum Darknet-Verurteilungen.
Die Aargauer Kantonspolizei enttarnte allerdings 2017 erstmals drei Darknet-Dealer, die Ermittlungen laufen. Und dann ist da die «Operation Bayonet», die einen Wendepunkt markieren könnte. Im Juli 2017 schlossen niederländische Fahnder die zwei Darknet-Marktplätze «Alphabay» und «Hansa», nachdem sie die Plattformen monatelang unterwandert hatten. Dabei waren sie auf Namen und Adressen von Dealern und Käufern gestossen. Sie teilten die Daten mit Partnerländern. So gelangten laut Fedpol 82 Fälle in die Schweiz. Der Bund reichte sie an die Kantone Aargau, Luzern, St. Gallen und Zürich weiter, wo nun Untersuchungen im Gang sind. Es gibt also Zeichen, dass die Fahnder beginnen aufzuholen.
«Happy-Olaf» weiss, dass er gejagt wird, gibt sich aber selbstsicher: «Wir haben viel in die Sicherheit investiert und fühlen uns in der Anonymität sehr wohl.» Die Nichtidentifizierbarkeit bedeute ihm aber mehr als Schutz, sagt der Dealer: «Es gefällt mir, ein Doppelleben zu haben.» In diesem Satz verbirgt sich ein fünfter Grund für den Erfolg von Plattformen wie «Dream Market». Manche Dealer sehen darin nicht nur ein Geschäft, das unter Strafe steht. Sondern auch Unterhaltung.
Epilog: Der Erpressungsversuch
Drei Wochen nach den Testkäufen trifft per Post ein anonymer Brief an einer der verwendeten Bestell-Adressen ein. Titel: «Dream Market Gebühr». Die Verfasser schreiben auf englisch, sie seien Hacker. Sie hätten das Konto eines «Dreams-Market»-Dealers übernommen und die Bestellung der Xanax-Tabletten gefunden. Man müsse ihnen innert sechs Tagen 0,1 Bitcoin auf eine anonyme Adresse zahlen – etwa 900 Franken –, andernfalls würden sie die Bestellung an die Aargauer Kantonspolizei schicken und «auf verschiedenen Foren publizieren». Die angeblich drohenden Konsequenzen umschreiben sie im Detail: «Die Polizei wird dein Haus durchsuchen. Dein Computer und dein Telefon werden konfisziert. Du wirst mindestens für eine Woche in Haft sein, selbst wenn sie nichts in deinem Haus finden.»
Die Reporter reagieren nicht auf das Schreiben. Ein Sprecher der Aargauer Kantonspolizei sagt auf Anfrage, man kenne die Erpressungsmasche im Grundsatz, von konkreten Aargauer Fällen wisse man aber nichts. «Wie genau sich die Hacker Zugang zu den fremden Konti verschaffen, ist unbekannt.» Beim Dealer selbst kann man nicht mehr nachfragen: Sein Account ist von der Plattform verschwunden. Warum die Hacker ausgerechnet die Aargauer Kantonspolizei erwähnen, ist unklar, die verwendeten Adressen liegen nicht im Aargau. Womöglich haben sie schlicht «Darknet Police Switzerland» gegoogelt. Der erste Treffer ist ein Medienbericht, der sich um die erste Verhaftung von Darknet-Dealern durch die Kantonspolizei Aargau dreht.