Giannis Game
Fifa-Präsident Gianni Infantino ist angetreten, die meist­gehasste Sport­organisation der Welt aufzuräumen. Vertrauliche Dokumente enthüllen, wie er sein Versprechen bricht.

1 — Telefon mit Trump

Am Dienstag, dem 21. Februar 2017, erwartet Gianni Infantino, der Präsident des Weltfussballverbands Fifa, ein Gespräch mit Donald Trump.

Die Angelegenheit ist so sensibel, dass die amerikanische PR-Agentur Teneo, die für die Fifa arbeitet, Infantino per E-Mail ein Drehbuch für das Telefonat schickt, bis hin zur korrekten Ansprache: «Nennen Sie den Präsidenten ‹Mr. President› oder ‹President Trump›.» Als Eröffnung eigne sich ein Kompliment: «Ich bewundere Ihren Fokus und Ihre Energie, die Sie in den ersten Wochen Ihrer Amtszeit an den Tag gelegt haben.» Dann Übergang zum eigentlichen Punkt: «Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um Ihnen zu sagen: Die Vereinigten Staaten sind in meinen Augen als Fifa-Präsident der beste Ort für die nächste verfügbare Fifa-Weltmeisterschaft – im Jahr 2026.»

In einer zweiten E-Mail, die eine Woche später an Infantino geht, schreibt ein Mitarbeiter der PR-Firma, er habe eben mit Trumps Vizestabchefin gesprochen. Er drängt darauf, die Fifa müsse gegenüber der Trump-Regierung bekräftigen, dass sie die USA für die WM 2026 «als bevorzugte Nation pushen» wolle.

Die Vergabe der WM, so lautet eine Regel, die sich der Weltfussballverband selbst auferlegt hat, muss «fair und transparent» erfolgen. Als mögliche Gastgeber für 2026 treten die drei Länder USA/Kanada/Mexiko gemeinsam gegen Marokko an. Die amerikanische Kandidatur ist auf dem Papier überlegen, aber Gianni Infantino gibt gegen aussen keine Präferenz bekannt. Was immer das 211-köpfige Fifa-Parlament am 13. Juni 2018 entscheide, die Fifa könne damit leben.

Intern sieht es anders aus. Die E-Mails der PR-Agentur belegen, dass hinter den Kulissen der bevorzugte Kandidat schon über ein Jahr vor der Abstimmung umschmeichelt wird. Gianni Infantino ist mindestens informiert. Das wirft die Frage auf, wie «fair und transparent» die Vergabe des populärsten Sportturniers der Welt an USA/Mexiko/Kanada war.

Die Mails illustrieren Regel 1 von Giannis Game: Du brauchst zwei Gesichter. Eines nach aussen, eines nach innen.

Die Fifa schreibt auf Anfrage, der Vergabeprozess werde «wahrscheinlich als der fairste und transparenteste seiner Art» in die Sportgeschichte eingehen. Es sei völlig normal, dass der Fifa-Präsident mit Regierungschefs im Kontakt sei, auch von Kandidatenländern. Das einzige Mal, dass sich Infantino mit Donald Trump getroffen habe, um über die WM 2026 zu sprechen, sei nach der Vergabe gewesen, am 28. August 2018.

Zu Telefonaten zwischen Infantino und der Trump-Administration vor der Vergabe schweigt der Weltverband, ebenso zum konkreten Inhalt der beiden E-Mails.

Die Trump-E-Mails sind Bruchstücke aus einem umfangreichen Datensatz, den der «Spiegel» von der Onlineplattform «Football Leaks» erhielt und mit dem Journalistennetzwerk European Investigative Collaborations (EIC) geteilt hat. Der Recherchedesk von Tamedia und «Das Magazin» wirkten bei der Auswertung als Schweizer Partner mit. Das Material: Geheimnisse aus dem Fussballbusiness zu Vereinen, Verbänden, Spielervermittlern – 70 Millionen Dokumente, 3,4 Terabyte. Darunter sind auch Daten aus dem Innersten der Fifa, die Gianni Infantino und sein Umfeld nicht an der Öffentlichkeit sehen wollen: E-Mails, Memos, Verträge, Protokolle. Zusätzlich interviewte das Reporterteam für diese Recherche ein Dutzend Experten und Insider, darunter langjährige Fifa-Mitarbeiter.

Als Präsident kontrolliert Infantino ein Gut, das längst über den Sport hinausgewachsen ist. Die Einschaltquote der Russland-WM? «More than four billion viewers», sagt er Donald Trump bei seinem Treffen im Weissen Haus. Diese vier Milliarden Fans verschaffen Infantino Zugang zu fast allen Machtträgern auf allen Kontinenten.

Zum Beispiel zu den Büros der Präsidenten von Russland und den USA. Oder zu jenem von UN-Generalsekretär Antonio Guterres: Als Infantinos Vorzimmer um ein Treffen bittet, trifft binnen Tagen ein Vorschlag aus New York ein, wie Football Leaks zeigt. Mit UBS-Chef Sergio Ermotti macht Infantino per SMS zum Essen ab. Schweizer National- und Ständeräte melden sich höflich bei seinem Stab und bitten um Termine. Den Papst treffen? Kein Problem. Neben dem Matterhorn und Roger Federer ist Infantino als Fifa-Chef einer der wichtigsten globalen Imageträger der Schweiz.

Mohammed bin Salman, Gianni Infantino, Wladimir Putin sitzen am WM-Final 2018 in Moskau in der Loge und spielen Schere, Stein, Papier.
Schere, Schein, Papier: Gianni Infantino (Mitte) mit dem saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman und Wladimir Putin am WM-Final 2018 in Moskau. (Bild: Action Press / Dukas)

Die Frage ist: Was tut Gianni Infantino mit dieser Macht?

Er werde den Ruf des Weltverbands wiederherstellen und ihm neuen Respekt verschaffen, gelobt er nach seiner Wahl zum Nachfolger Sepp Blatters am 26. Februar 2016 im Zürcher Hallenstadion: «Die ganze Welt wird uns dafür applaudieren, was wir mit der Fifa in Zukunft tun.» Gleichzeitig fordert er «null Toleranz» gegenüber Korruption und schlechten Managern. Von sich selbst verlangt er: «Der Fifa-Präsident muss immer mit gutem Beispiel vorangehen.» Und der Verband? Der müsse schlicht «zur bestgeführten globalen Sportinstitution werden. Punkt.»

Mehr, besser, sauberer: Gianni Infantino verspricht allen alles.

Football Leaks enthüllt, wie leer diese Versprechen sind. Gegen aussen schwärmt Infantino von seinem 1,4-Milliarden-Franken-Verteilprogramm, im vertrauten Kreis bezeichnet er es als «absolute Pleite». Gegen aussen fordert er volle Unabhängigkeit für die Fifa-internen Aufpasser, gegen innen beteiligt er sich an deren Entmachtung. Gegen aussen betont er, der Fussball müsse sich von Politik fernhalten, gegen innen lässt er sich auf einen hochpolitischen 25-Milliarden-Deal mit einem undurchsichtigen Konsortium ein. Gegen aussen kündigt er an, die Fifa werde sich die schärfsten Compliance-Regeln der Welt auferlegen – gegen innen schenkt er einem Walliser Oberstaatsanwalt, der ihm diskrete Gefallen tut, exklusive Tickets für die WM in Russland und den Champions-League-Final.

Präsident Infantino erweist sich als Januskopf, der seine öffentlich gemachten Versprechen bricht, um sich gegen innen seine Macht zu sichern. Und die Fussballwelt? Sie macht mit.

Sie spielt Giannis Game.

2 — «Absolute Pleite»

Giovanni Vincenzo Infantino stirbt beinahe, als er am 23. März 1970 im Kreisspital Brig zur Weltkommt. Gelbsucht. Eingeflogenes Blut aus England und dem damaligen Jugoslawien rettet ihm das Leben. Der Junge, den seine Schwestern «Piccolo» nennen, wächst in einer Migrantenfamilie auf, Mutter Maria führt den Briger Bahnhofskiosk, Vater Vincenzo arbeitet im Bahnhofbuffet. Von ihm erbt er das Fussballfieber. Als Viertklässler soll Gianni laut «Rhonezeitung» in einem Aufsatz geschrieben haben: «Ich möchte Fussballprofi werden. Aber da ich dafür nicht so talentiert bin, werde ich Advokat vom Fussball.»

Am 29. Februar 2016, drei Tage nach seiner Wahl, zieht sich der neue oberste Advokat des Weltfussballs in der Fifa-Zentrale ein Trikot über, um mit Figo, Maldini und anderen «Legenden» zu kicken. Der neunte gewählte Präsident trägt die Nummer 9. Er werde «den Fussball zurück in die Fifa bringen und die Fifa zurück in den Fussball», sagt er in die Mikrofone der Reporter.

Aber niemand hat das Foto der «New York Times» vom 27. Mai 2015 vergessen: Angestellte des Zürcher Fünfsternehauses Baur au Lac halten ein Laken hoch, um die Sicht auf einen der Fifa-Funktionäre zu verdecken, den die Zürcher Polizei abführt. Seither weiss die Welt, dass US amerikanische Anti-Mafia-Staatsanwälte ermitteln. Für über 150 Millionen Dollar Schmiergeld sollen laut US-Justiz über Jahrzehnte WM-Turniere und TV-Rechte verkauft worden sein. Die USA klagen 41 Funktionäre und Sportvermarkter an, 24 haben sich schuldig bekannt, mehrere sitzen im Gefängnis.

Die Fifa ist ein Verein nach Artikel 60 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs. Gegründet, um die Regeln des Spiels zu hüten, die Weltmeisterschaft zu organisieren und die Einkünfte daraus so zu verteilen, dass damit in Bamako Fussballplätze gebaut, in Beirut Schiedsrichter trainiert oder in Bern Juniorentrainer ausgebildet werden können. Heute aber sprayen Unbekannte «Fuck Fifa» an die Fassade des Fifa-Museums, Sponsoren springen ab, und «Korruption in der Fifa» hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag.

Die heutige Fifa-Spitze nennt die Wiederwahl des früheren Patriarchen Sepp Blatter nach dem Baur-au-Lac Schock in einer umfangreichen Stellungnahme zu den geleakten Dokumenten eine «absurde Komödie». Blatter habe sich erst zum Rücktritt zwingen lassen, als er mit dem Fakt konfrontiert gewesen sei, dass die US und die Schweizer Justiz sonst die Fifa schliessen würden. «Die Organisation war demoralisiert und dysfunktional. Und sie blutete finanziell aus.» (Blatter bestreitet das: Infantino «konnte eine super Fifa übernehmen», sagt er.)

Was tut man als Thronfolger einer derart verhassten Organisation?

Man muss zwei Dinge gleichzeitig schaffen: das zerfledderte Image zusammenflicken – und die Gemeinde bei Laune halten, um die eigene Wiederwahl zu garantieren. Denn schon im Juni 2019 sind die nächsten Wahlen.

Der Weltverband stellt in ihrer schlicht mit «Fifa» unterzeichneten Stellungnahme dem eigenen Präsidenten ein gutes Zeugnis aus: «Stein für Stein» habe er den Verband wieder aufgebaut, den Frauenfussball gefördert, in Russland eines der besten WM-Turniere der Geschichte organisiert, trotz «unbalancierter Berichterstattung, Hysterie und Angstmacherei». Auch die Kasse stimme wieder.

Und nichts ist wichtiger als das. «The money of Fifa is your money. It’s not the money of the Fifa president», hatte Infantino 2016 in seiner Wahlkampfrede im Hallenstadion gesagt und spontanen Applaus der Delegierten geerntet. 1,4 Milliarden Dollar sollten die 211 Landesverbände von 2015 bis 2018 von der Fifa erhalten, deutlich mehr pro Jahr als in der Ära Blatter.

Am 27. Februar 2017, ein Jahr und einen Tag nach dem «Money»-Satz, steht Infantino auf dem Rollfeld des Flughafens von Accra, Ghanas Hauptstadt. Der Fifa-Präsident absolviert eine zehntägige Afrikatour – hat er den Kontinent hinter sich, hat er 56 Stimmen für 2019. Und Infantino kommt nicht mit leeren Händen. «Wir hatten viele Leute, gerade in unserem Teil der Welt, die gut sind im Reden. Ich aber will handeln», sagt er. Blatters Fifa habe jährlich 27 Millionen Dollar an afrikanische Länder gezahlt. Seine Fifa werde 94 Millionen ausschütten. «Wir tun das nicht für die Publicity. Wir tun es, weil es gut für den Fussball ist.» Die Kamera fängt jedes seiner Worte ein.

Infantino nennt sein Verteilprogramm «Forward». Nur nicht zurückschauen, die Vergangenheit ist kein Vorbild: Die alte Fifa habe Gelder «ohne Kontrolle und aus politischen Gründen» ausgezahlt, schreibt der Weltverband. Das sei heute nicht mehr möglich. Man habe eine strengere Aufsicht eingeführt, das Personal aufgestockt. Heute könne die Fifa mehr Projekte betreuen und kontrollieren.

«Forward» sei «auf Kurs und unter Kontrolle», so steht es im öffentlichen Fifa-Finanzbericht 2017. Aber gegen innen klingt es anders. Die härtesten Worte stammen von Infantino selbst. Die «Forward»-Auszahlungen seien bisher eine «absolute Pleite», mailt der Präsident im Juli 2017 seiner Generalsekretärin Fatma Samoura. Die Millionen flössen zu langsam. Warum? Bürokratie. Geld zu beantragen, führe zu «langen Verspätungen» und «endlosen Fragen» von «frustrierten» Landesverbänden.

Infantino drängt darauf, schneller auszuzahlen. Er ist ein Mann der Taten, nicht der Worte.

Der Druck ist nicht wirkungslos, die Geldflüsse nehmen zu. Gleichzeitig treten Nebenwirkungen auf: Im Herbst 2017 beginnt die Geldverteildivision der Fifa, andere Abteilungen zu umgehen. Sie überweist Landesverbänden pauschal Beträge für Reisespesen, ohne genau zu wissen, wie diese das Geld verwenden. Das verstösst gegen das «Forward»-Reglement, wie die Direktoren der Abteilungen Recht, Compliance und Finanzen in einem Memo bemängeln. Gemäss einer geleakten Liste erhält etwa der Fussballverband von Macao über eine halbe Million Dollar für Reisespesen, die teilweise erst in der Zukunft anfallen – oder auch nicht. 8,5 Millionen Dollar gingen laut Memo total regelwidrig im Voraus an Verbände.

Die Fifa-Spitze dementiert: «Alle Zahlungen waren regelkonform und wurden professionell geprüft.»

Es ist nicht so, dass die Fifa keine Kontrollen durchführt – aus einer Geheimliste geht hervor, dass Anfang 2018 38 Verbände nur eingeschränkt Geld erhalten, wegen fehlender Dokumente, internationaler Sanktionen, Korruptionsverdacht. Aber Infantinos extremer «Forward»-Druck spaltet die Fifa. Auf der einen Seite die Geldverteiler, auf der anderen Seite die Aufpasser. Ein Insider, der sich in Governance-Fragen auskennt, sagt: «Wie die Forward-Millionen verteilt werden, ist derzeit der grösste Schwachpunkt der Fifa. Niemand kann wissen, ob nicht grosse Summen in kriminelle Aktivitäten abgezweigt werden.»

Im Februar 2018 ist der Druck so gross, dass ein enger Berater Infantinos Alarm schlägt. Der Norweger Kjetil Siem hat vom Präsidenten den Auftrag erhalten, den Zustand der Fifa in einem vertraulichen Report schonungslos zu bewerten. Er schreibt über die Abteilung, die Gelder verteilt: «Das Schadensrisiko ist besorgniserregend angesichts der Art und Weise, wie die Abteilung funktioniert und wie sie die Forward-Gelder auszahlt. Statt auf Basis von Ausgaben und Projekten zu zahlen, zahlt sie im Voraus.» Und weiter: «Die Abteilung (…) wird als chaotisch, mit wenig Wissen und im Konflikt mit anderen Abteilungen stehend wahrgenommen, ohne Führung, auf die jemand stolz wäre oder hinter der jemand stehen würde. (…) Darunter leidet die Fifa. Wenn die Fifa leidet, leidet deren Präsident.»

Die Fifa sagt, die Kommentare seien «unfair» und «unpräzise». Kjetil Siem habe in dem Memo nur «persönliche Ansichten» aufgeschrieben.

Ein Fifa-Insider teilt jedoch Siems Fazit. Er sieht den «Forward»-Konflikt als Symptom eines grösseren Problems: «Gianni hievt Leute auf Posten, die nach aussen unangreifbar sind – scheinbar Idealbesetzungen für eine neue Fifa. Aber sie sind ihm alle zu Dank verpflichtet, damit leicht zu steuern. Gianni holt Jasager. Es ist ein Klima der Angst und des Schweigens geworden.»

Das sei «Büroklatsch», der keine ernsthafte Antwort verdiene, schreibt die Fifa dazu.

Die Aussagen mehrerer Fifa-Kenner ähneln sich aber in diesem Punkt. Trotz seines Sprachtalents (Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch) fehle Infantino das Gespür für Angestellte, sagt einer. Im Flur grüsse er kaum. Mitarbeiter, die mit ihm früher per Du waren, erhielten eine Mail, der Präsident sei zu siezen, sagt ein Zweiter. Blatter habe die Gabe besessen, jeder Putzkraft das Gefühl zu geben, sie sei entscheidend für das Fortkommen des Fussballs, sagt ein Dritter – «Gianni steht draussen auf der Raucherbrücke, zieht an einer Zigarette und starrt in sein Smartphone».

3 — «Super Amiga»

Während der aktuelle Präsident um den Globus tourt, sind seine Leutnants in Zürich damit beschäftigt, die Überreste des alten Regimes wegzuräumen. Zum Beispiel Sepp Blatters Wohltätigkeitszahlungen. 40000 Franken für den Verein Showszene Schweiz, der den «Prix Walo» ausrichtet. 6000 Franken für Rotary Dübendorf. 120000 Franken pro Ausgabe des Zürcher Zoofäschts. Die Fifa müsse ihre Charity-Aktivitäten «grundlegend überarbeiten», heisst es in einem internen Memo.

Unter dem Codenamen «Project Eos»– die Göttin der Morgenröte – stehen wöchentliche Konferenzschaltungen mit US-Anwälten der Kanzlei Quinn Emanuel und mit Auditoren von Deloitte an. Die Spezialisten wühlen sich durch Archive und Mailserver, auf der Suche nach juristischem Giftmüll, und finden ein 79-Millionen-Bonuskarussell rund um Blatters engsten Kreis. Aber auch kuriose Kleinzahlungen tauchen auf, etwa eine informelle 3000-Franken-Rente an die Witwe eines 2007 verstorbenen Schweizer Nationaltrainers und Sepp-Blatter Freunds.

Parallel dazu gewinnen die Ermittler der Ethikkommission an Einfluss. Die Fifa-internen Aufpasser können jeden Fussball-Offiziellen, der ein Geldcouvert angenommen oder seiner Familie Geschenke zugeschanzt hat, lebenslang aus dem Sport ausschliessen. Ein gesperrter Funktionär darf nicht mal mehr eine Juniorenmannschaft trainieren.

Der Chefermittler Cornel Borbély, ein Schweizer, und der Chefrichter, der Deutsche Hans-Joachim Eckert, beide noch unter Blatter eingesetzt, sperren nach dem Baur-au-Lac Schock Dutzende Funktionäre. So zwingen sie die Verbandsspitze, sich zu erneuern. Die beiden sind es auch, die Sepp Blatter und den Uefa-Präsidenten Michel Platini wegen einer fragwürdigen Zweimillionenzahlung von ihren Ämtern suspendieren.

Damit stören sie die Thronfolge. Michel Platini, als Nachfolger Blatters vorgesehen, kann wegen der Sperre im Februar 2016 nicht zur Wahl antreten. Sein Generalsekretär, ein gewisser Gianni Infantino, springt als Notkandidat ein – und gewinnt die Wahl. Infantino verdankt seinen Aufstieg also streng genommen der Ethikkommission. Aber Borbély, ein Ex-Staatsanwalt mit lockerem Colt, lässt bald auch gegen Infantino selbst ermitteln, zum Beispiel wegendessen Privatjetflügen. Kurz: Die Aufpasser beginnen zu stören. Und die Fifa-Spitze um Infantino trifft im Frühling 2017 eine folgenschwere Entscheidung.

Kolumbiens Verbandspräsident Ramón Jesurún schreibt eine E-Mail an Alejandro Domínguez, den Chef der lateinamerikanischen Konföderation Conmebol: Er kenne da jemanden, eine «Luxuskandidatin», die «fussballverrückt» sei und eine «Superamiga». Die Mail geht weiter an Infantino.

Die «Luxuskandidatin» ist María Claudia Rojas, eine kolumbianische Anwältin und Richterin am obersten Verwaltungsgericht, spezialisiert auf Bioethik und internationales Steuerrecht. Der Plan: Sie soll als neue Chefermittlerin eingewechselt werden – für den bissigen Borbély.

Infantino stellt sich hinter sie, und der Fifa-Kongress wählt sie am 11. Mai 2017 in Bahrain. Borbély erfährt im Flugzeug nach Bahrain per SMS, dass Richter Eckert und er nicht mehr aufgestellt werden. Offiziell, weil der Verband seine Gremien weniger europalastig besetzen will. «Das ist Unsinn», sagt Ex-Chefrichter Eckert heute. «Wir wurden gestoppt, weil wir unabhängig ermittelt haben – auch gegen Herrn Infantino selbst.»

Die Fifa schreibt heute in ihrer Stellungnahme, früher seien vier von fünf unabhängigen Gremien von Deutschen oder Schweizern geleitet worden, was nicht unbedingt die Vielfalt eines Weltverbands abbilde. Und: Früher habe es gar kein Wahlprozedere gegeben. María Claudia Rojas sei für ihr Amt «sehr gut qualifiziert». Die Amtszeiten von Cornel Borbély und Hans-Joachim Eckert seien 2017 abgelaufen, darum sei ihre Ablösung «keine grosse Überraschung» gewesen.

Was nach einer harmlosen Personalie klingt, hat weitreichende Folgen – es ist, als hätte jemand die Batterien aus der Alarmanlage genommen. «Seit Rojas im Amt ist, hat die Qualität der Untersuchungen deutlich nachgelassen», sagt ein Insider. Der Football-Leaks-Datensatz fördert Belege dafür zutage. Gegen David Chung, den Chef der ozeanischen Konföderation OFC und Fifa-Vizepräsident, liegen Rojas seit Dezember 2017 Korruptionsvorwürfe vor, dokumentiert durch einen Bericht der Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers. Aber erst als die «New York Times» den Bericht am 6. April 2018 öffentlich macht, tritt Chung «aus persönlichen Gründen» zurück, ohne dass die Ethikkommission dabei öffentlich eine Rolle gespielt hätte.

«Indiskutabel» sei das, sagt Hans-Joachim Eckert. «Ich gehe davon aus, dass wir Herrn Chung innert weniger Tage mindestens provisorisch gesperrt hätten.»

Beim Genuss von Privilegien ist María Claudia Rojas weniger zurückhaltend. Sie verbringt die ganze WM 2018 auf Fifa-Kosten im Moskauer Luxushotel Lotte, wo auch die Fifa-Spitze untergebracht ist.

Das einschlägige Reglement sieht aber vor, dass Rojas nur die Reise ans Eröffnungs und Finalspiel bezahlt erhält – ausser, sie muss länger vor Ort für den Weltverband arbeiten. Hans-Joachim Eckert sagt, er sei 2014 nur für zwei Sitzungen der Ethikkommission und das Eröffnungsspiel nach Brasilien gereist und er habe auch nicht im Hotel der Fifa-Spitze genächtigt. «Ich wüsste nicht, was die Rechtfertigung für mich gewesen wäre, die ganze WM im Fifa-Hotel zu verbringen.»

Rojas’ Lebenslauf zeigt, dass sie nicht auf Korruptions- oder Strafrecht spezialisiert ist. Englisch, die Sprache der meisten Verfahrensakten, beherrscht sie laut CV nicht. Geleakte Daten zeigen, wie weit sie von der Arbeit der internen Ermittler entfernt ist: Das Zürcher Sekretariat der Kommission arbeitet die Fälle auf, übersetzt die Dokumente und schreibt Memos mit Vorschlägen, was zu tun ist. Rojas segnet diese oft mit Zweizeiler-E-Mails ab: «De acuerdo», bin einverstanden.

Wie muss man diese Veränderung einschätzen? Die Macht verschiebt sich damit zum Sekretariat der Kommission. Und hier nimmt Gianni Infantino Einfluss. Früher hatten die hausinternen Ankläger und Richter je einen eigenen Stab. «Wir wollten die Sekretariate noch besser trennen, Büros und IT separat, um der Gewaltenteilung gerecht zu werden», sagt Hans-Joachim Eckert. Infantino aber legt die Sekretariate zusammen und installiert einen Vertrauten als Überdirektor, den Italiener Mario Gallavotti, einen siebzigjährigen Anwalt.

Die Fifa verteidigt María Claudia Rojas. Spanisch sei eine offizielle Fifa-Sprache, gesprochen von mehr als 400 Millionen Menschen weltweit. Zentral- und Südamerika hätten ihren Anteil an Ethikfällen gehabt, da sei es hilfreich, jemand mit Spanischkenntnissen im Amt zu haben. Auch unter Rojas habe die Kommission Council-Mitglieder oder Landespräsidenten gesperrt, allein 2018 seien bislang 15 Urteile ergangen. Rojas sei jeden Monat einige Tage in Zürich; auch Borbély/Eckert hätten Unterstützung der Sekretariate gehabt.

Nicht die Anzahl der Fälle sei das Problem, sondern die Nähe der neuen Ethiker zum Präsidenten, entgegnet ein Insider. Untersuchungen gegen die Fifa-Spitze wie zu Zeiten von Borbély gebe es jedenfalls keine mehr. «So gesehen ist die Ethikkommission tot.»

4 — Umgeschriebene Gesetze

Am 14. August 2018 ergiesst sich globaler Spott über die Fifa. Ein Journalist der Nachrichtenagentur AP entdeckt, dass der Weltverband den internen Ethikkodex überarbeitet – und aus dem Reglement ausgerechnet das Wort «Korruption» entfernt hat. Die Meldung passt ins Narrativ einer reformunwilligen Organisation.

Aber die Kritik verpasste den wesentlichen Punkt. Football-Leaks-Dokumente zeigen: Der neue Kodex entstand nicht nur, wie offiziell deklariert, in den Büros der hauseigenen Ethiker. Noch jemand hat Einfluss auf den Inhalt genommen.

Kurz vor Weihnachten 2017, am 17. Dezember, schreibt Vassilios Skouris eine E-Mail an Infantino. Der griechische Professor, Ex-Präsident des Europäischen Gerichtshofs, amtet als neuer Chefrichter der Ethikkommission. «Lieber Gianni», beginnt Skouris, «wie versprochen schicke ich Dir den Entwurf des Codes, wie er von Rojas und mir ausgearbeitet wurde. (…) Falls Du Anmerkungen hast, bitte ich Dich, diese (…) zu schicken, damit ich sie im endgültigen Text einbauen kann.»

Infantino antwortet am 11. Januar 2018. Der neue Kodex sei «wahrlich exzellent», die Änderungen «sehr positiv». Aber als «guter alter Jurist» könne er kein Reglement lesen, «ohne Kommentare oder Vorschläge zu machen».

Dann geht der Präsident dazu über, bei zwölf Artikeln Änderungen vorzuschlagen. In mehreren Punkten drängt er auf eine Abschwächung. Zum Beispiel fordert er, dass schon für informelle Voruntersuchungen explizit ein Okay des Chefermittlers nötig ist – also von «Superamiga» Rojas. Den Vorschlag der Ethiker, allen Inhabern von politischen Ämtern das Ausüben einer Fussballfunktion zu verwehren, um Sport und Politik stärker zu trennen, weist er als «exzessiv» zurück und schlägt eine differenzierte Regel vor. Im neuen Kodex bleibt dann doch alles beim Alten.

Und da ist noch ein Punkt. Bisher konnte die Fifa jederzeit Ermittlungen an sich ziehen, wenn Landesverbände bei lokalen Verstössen nichts unternahmen. «Die Fifa ist nicht die Weltpolizei mit einer Verpflichtung, alles zu untersuchen und zu bestrafen, was irgendwo auf der Welt passiert», schreibt Infantino dazu. Er fordert, dass die Fifa nur «subsidiär» eingreifen solle. Im neuen Kodex heisst es: Die Ethiker müssen drei Monate warten, bis sie übernehmen dürfen.

Hans-Joachim Eckert hat schon öffentlich spekuliert, der neue Kodex trage die Handschrift Infantinos, ohne den Beweis zu kennen. Die Wartefrist sei «ein Witz», sagt er nun. Zu seiner Zeit habe man Funktionäre bei Verdacht innert Tagen zumindest provisorisch gesperrt. «Der Eingriff Infantinos führt die Gewaltenteilung in der Fifa ad absurdum. Nur schon die Mail ist eine Verletzung des Kodex.» Korrekterweise habe der Präsident die neuen Regeln passiv zur Kenntnis zu nehmen. Der Basler Strafrechtsprofessor Mark Pieth sieht es gleich: «Es ist nicht Aufgabe des Präsidenten, die Details des Kodex selbst zu entwerfen.» Beide Juristen waren 2012 an der Ausarbeitung der vorherigen Version beteiligt.

«Mit keinem Wort» habe sich der damalige Präsident Sepp Blatter eingemischt, sagt Eckert. Ein Machtverlust der Kontrolleure bedeutet einen Machtgewinn des Präsidenten.

Die Fifa schreibt, es sei für Präsident Infantino als erfahrenen Juristen «ganz natürlich», dass er mit Vassilios Skouris einen solchen Austausch pflege. Richter Skouris würde ohnehin niemals gegen seine Überzeugung Änderungen am Ethikkodex vornehmen.

Nach aussen wird der Eingriff Infantinos nicht sichtbar, weder in Pressemitteilungen noch im Schreiben, das den Landesverbänden den neuen Kodex erläutert. Selbst als sich die Fifa-Spitze zwei Wochen nach Infantinos «Input» zu einer Sitzung trifft, um sich einen Überblick über die laufenden Reformen zu verschaffen, ist nur von den Ethikern als Autoren die Rede.

Regel 2 von Giannis Game lautet also: Misch dich ein. Aber lass offiziell andere die Entscheide fällen.

Das extremste Beispiel seiner Tarnkappentaktik kommt aus einer Zeit, als Infantino noch gar nicht an der Spitze der Fifa stand. Es geht um den französischen Verein Paris Saint-Germain (PSG), um einen machtgierigen Sponsor und um sehr, sehr viel Geld.

5 — 7186 Prozent

Paris, 19. April 2014, Stade de France. Es ist kurz vor dem Anpfiff des Ligapokal-Finals, PSG gegen Olympique Lyonnais: Im Stadion toben die Fans, die endlich die beiden grossen Stars Zlatan Ibrahimovic und Edinson Cavani sehen wollen. Hinter den Kulissen der Arena spielt sich der letzte Akt eines Dramas ab, das den Fussball auf Jahre hinaus beeinflussen wird. In der Hauptrolle: Gianni Infantino.

Damals ist er noch Generalsekretär des Europäischen Fussballverbands Uefa. Dank Football Leaks kommen jetzt auch Infantinos Geschäfte aus jener Zeit ans Licht – und sie werden sein Erbe für immer prägen.

Denn Infantino macht an diesem Tag Gebrauch von seiner ersten Regel: Du brauchst zwei Gesichter, eines nach innen, eines nach aussen.

Er macht im Verborgenen einen Deal mit Paris Saint-Germain. Er umschifft die hauseigenen Uefa-Ermittler und gibt dem Verein grünes Licht für eine Finanzspritze aus Katar von Hunderten Millionen Dollar.

Damit bricht Infantino ein Versprechen: Als Uefa-Generalsekretär hat er jahrelang gelobt, rigoros gegen das sogenannte Finanzdoping vorzugehen, das den Fussball kaputt mache. Finanzdoping ist zu einem der wichtigsten Schlagworte im modernen Fussball geworden. Es bedeutet: Vereine werden nicht mit EPO-, sondern mit Geldspritzen «gedopt». Die «Injektion» funktioniert folgendermassen: Ein Verein verkauft zum Beispiel Werbefläche auf dem Trikot, bekommt dafür aber viel mehr Geld, als das Sponsoring eigentlich wert ist. Das heisst, er bekommt Geld, das er gar nicht erwirtschaftet hat. Das ist unfair gegenüber allen anderen Klubs, die kein solches Doping erhalten.

Der russische Oligarch Roman Abramowitsch war vielleicht der Erste. Er kaufte sich 2003 den britischen Klub Chelsea. Seither wurde es Mode, Milliardensummen in europäische Vereine zu schleusen. Oligarchen, Scheichs oder Ölstaaten wie Abu Dhabi und Katar übernahmen Klubs wie Manchester City, AS Monaco oder eben Paris Saint-Germain.

Aber was sind die Auswirkungen des Finanzdopings? Die Klubs stellen mit diesem Geldregen All-Star-Teams zusammen. Durch das plötzlich vorhandene Geld steigen die Transfersummen. Vereine, die ohne ausländische Investoren arbeiten, können nicht mehr mithalten. Die Folge: Sie verschulden sich. «Es baute sich eine Spirale auf», warnt Infantino 2012 in der NZZ. «Wenn du Messi hast, muss ich Ronaldo haben. Weil: Ich muss grösser sein als du.»

Ab 2010 verordnet die Uefa den Klubs Financial-Fairplay-Regeln. Die sollen erstens dafür sorgen, dass die Vereine sich nicht zu stark verschulden. Ein Ziel, das inzwischen auch erreicht worden sei, wie Uefa und Fifa in ihren Stellungnahmen an das Journalistenkonsortium betonen. Zweitens verbieten diese Regeln den Klubbesitzern, über aufgeblähte Werbe und Sponsorenverträge Milliarden in ihre Teams zu pumpen.

Im Mai 2011 sagt Infantino dem Portal Goal.com: «Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Sugardaddy Hunderte Millionen in einen Klub stecken konnte.» Man werde gerade auch gegen grosse Klubs vorgehen. «Wenn sie die Regeln brechen, werden die härtesten Strafen folgen.»

Aber warum stecken die Mäzene eigentlich Milliarden in die Klubs? Für manche war es ein Hobby, für andere ein Investment. Für die Kataris, die 2011 Paris Saint-Germain übernahmen, war es ein politischer Schachzug: Der Wüstenstaat ist eines der reichsten Länder der Welt, aber er ist abhängig von seinem irgendwann versiegenden Ölvorkommen und fühlt sich bedroht vom Nachbarn Saudiarabien. Katar strebt nach politischer und ökonomischer Macht, aber auch nach Zuspruch. Den schnellsten Weg, all das zu bekommen, sehen sie im Sport.

Das Land wolle «Anerkennung auf internationaler Bühne erlangen», heisst es in einem Geheimvertrag zwischen PSG und den Kataris. Man habe die Rechte für die Ausrichtung der WM 2022 erlangt. Der Kauf von PSG sei Teil des «Plans», eine Sportmacht zu werden. Bis 2017 soll PSG «einer der Top-5-Klubs in Europa» werden, steht in einem anderen Dokument aus dem Leck. Dafür werde man nun «schnell» ein «Champions-League-Team» zusammenkaufen.

Über eine Milliarde Euro sollen dazu über mehrere Jahre in den Klub fliessen. Und zwar vor allem, um Spieler zu kaufen. Bei diesen Summen spielt der Preis keine Rolle mehr. Doch in den Dokumenten steht auch, wo das Problem dieses Plans liegt: beim Financial Fairplay, das Infantino so rigoros durchsetzen will.

Financial Fairplay sagt klar, dass ein Klubbesitzer wie Katar nicht einfach Geld ohne Gegenleistung in einen Verein pumpen darf, auch nicht über Umwege. Im August 2012 taucht nun plötzlich ein seltsamer Werbevertrag zwischen der katarischen Tourismusbehörde und PSG auf. Die Kataris verpflichten sich, während fünf Jahren im Schnitt bis zu 215 Millionen Euro in den Pariser Klub zu leiten, insgesamt über eine Milliarde. Katar zahlt sogar rückwirkend für die Saison 2011/12, als der Vertrag noch gar nicht angewendet wurde.

Und was bietet PSG den Kataris als Gegenleistung? Nicht viel, weder Trikot noch Bandenwerbung. Der Klub muss sich nur für nicht näher definierte «Promotionsaktivitäten» zur Verfügung stellen und Katar erlauben, seinen Namen zu benutzen.

Ein klarerer Verstoss gegen die Fairplay-Regeln scheint kaum vorstellbar – und die Kataris wissen das. Football Leaks zeigt, wie die Führung von PSG alle möglichen Abwehrstrategien diskutiert, für den Fall, dass die Uefa gegen den Vertrag vorgehen wird. Und das tut sie auch.

In der Uefa ist eine spezialisierte Untersuchungskammer für Verstösse gegen Financial Fairplay zuständig. Dort hat man PSG schon seit 2013 im Auge, die Ermittler geben ein halbes Dutzend wissenschaftliche Gutachten in Auftrag, die bewerten sollen, ob der Pariser Klub eine faire Gegenleistung für die Milliardenzahlung erbringt oder ob Katar schlicht Finanzdoping betreibt. Dank dem Datenleck werden die Gutachten öffentlich. Sie sind vernichtend:

Takis Tridimas, Koryphäe in Sachen Wettbewerbsrecht, schreibt in einem dreizehnseitigen Bericht, es sei «klar», dass die Geldsummen, die mit diesem Vertrag an PSG flossen, «jenseits dessen liegen, was die Financial Fairplay-Regeln erlauben». Es gebe sogar «sehr starke Hinweise», dass der Vertrag extra «darauf angelegt ist, diese Regeln zu umgehen». Mark Hoskins, Experte der englischen Kanzlei Brick Court Chambers, kommt zum gleichen Ergebnis.

Der Druck auf PSG wächst. Es kommt zu einem Gipfeltreffen mit Gianni Infantino, Uefa-Präsident Michel Platini und Nasser Al-Khelaifi, dem katarischen Chef von PSG. Am Donnerstag, dem 27. Februar 2014, trifft man sich in Nyon am Genfersee. Al-Khelaifi beginnt laut Beteiligten sogleich zu drohen. Es sei sicher nicht im Interesse der Uefa, sich mit dem Staat Katar anzulegen, sagt er.

Und was tut Infantino? Er weiss, dass der Katar-Paris-Vertrag sich mit den Fairplay-Regeln nicht verträgt. Er weiss auch, dass die Ermittlungen in den Händen der Untersuchungskammer liegen, die «total unabhängig ist», wie er selbst mehrfach gesagt hat. Er darf eigentlich gar nicht eingreifen. Doch die PSG-Seite verlangt, dass Platini und er mit dem Pariser Verein eine Vereinbarung aushandeln, die dann von der Kommission, die eigentlich zuständig wäre, übernommen werden soll. Und Infantino knickt ein erstes Mal ein: Er beginnt zu dealen. Ab dem 10. März 2014 verhandelt der Schweizer regelmässig und im Geheimen mit PSG und Al-Khelaifi.

Gegen aussen hingegen verspricht er Härte. Noch am Tag nach dem Treffen in Nyon tritt Infantino vor die Medien und bestätigt, dass die Uefa die «führende Rolle» bei der Verteidigung des Fussballs gegen die «Gier und das rücksichtslose Ausgabeverhalten» einiger Klubs übernehme.

Im März trifft das letzte und vernichtendste Gutachten zum PSG-Vertrag ein. Octagon, die weltweit renommierteste Beratungsfirma für Sportrechte, filetiert den Deal aus Doha in einer 116-seitigen Analyse. Im Vergleich zu Verträgen von acht führenden Klubs wie Real Madrid oder Bayern München liege die Zahlung der Kataris 7186 Prozent über dem erwartbaren maximalen Wert für solche Dienstleistungen. Was Katar von PSG kriege, sei nicht im Durchschnitt 215 Millionen Euro pro Jahr wert, wie im Vertrag steht – sondern gerade einmal 2,78 Millionen. Das Investment sei «massiv aufgebläht». Faktisch also ein Finanzdoping.

Ausriss aus der Octagon-Analyse: die Zahlung der Kataris liegen 7186 Prozent über dem erwartbaren maximalen Wert für solche Dienstleistungen.
Ausriss aus der Octagon-Analyse: die Zahlung der Kataris liegen 7186 Prozent über dem erwartbaren maximalen Wert für solche Dienstleistungen.

PSG wehrt sich heute gegen diese Einschätzung. Der Klub schreibt, es handle sich um einen «Nation-Branding-Vertrag». Er folge einer Strategie, bei dem sich am Schluss das Image des Landes Katars positiv entwickle. Dies sei der Gegenwert der massiven Investition. Octagon verglich den Vertrag der Kataris auch mit langjährigen strategischen Partnerschaften, etwa mit dem Internationalen Olympischen Komitee. Die Experten kamen zum Schluss, dass der Katar-Vertrag auch unter diesen Gesichtspunkten «massiv aufgebläht» sei.

Im April 2014 hat Gianni Infantino also alles in der Hand, um «Gier» und «rücksichtsloses Ausgabeverhalten» zu stoppen. Seine Administration müsste nur den Octagon-Bericht zu PSG schicken, die Geheimverhandlungen abbrechen und die hauseigene Untersuchungskammer arbeiten lassen. Die kam inzwischen selber zum Ergebnis, dass der Vertrag die Regeln massiv verletzt. Doch erstaunlicherweise traf weder die Schlussfolgerung der Kommission noch irgendeines der Gutachten bei PSG ein, auch nicht die entscheidende Evaluation von Octagon. Der Klub dementiert heute, je davon gehört zu haben. Warum sie Akten unter Verschluss gehalten wurden, ist ungewiss. Klar ist aber, dass Infantino einem weiteren Treffen mit der PSG Spitze zustimmte – es ist das Treffen, das am Samstag, 19. April 2014, stattfand, dem Tag des Ligapokal-Finals.

Gemäss Dokumenten aus Football Leaks trifft Infantino bei dem Treffen eine Vereinbarung: Statt 2,78 Millionen Euro pro Jahr, so viel wäre der Werbevertrag laut der Experten wert, akzeptiert er, dass PSG 100 Millionen pro Jahr aus Katar erhält. Damit segnet er de facto ein Finanzdoping ab.

Die Uefa erklärt auf Anfrage, dass man solche Vereinbarungen mit Klubs treffe, wenn ein «genügend verlässlicher» Businessplan vorliege, der den Klub künftig wieder regelkonform werden lässt. In der Tat musste PSG Infantino versprechen, dass man den Vertrag mit den Kataris noch erweitert. Schon in früheren Verhandlungsrunden bat die Uefa die Pariser fast schon flehentlich, den Vertrag doch bitte glaubwürdiger zu machen. Doch der erweiterte Vertrag, den PSG an diesem Abend verspricht, wird erst Jahre später unterschrieben und bleibt umstritten. Dafür akzeptiert Infantino Finanzspritzen für Paris aus Katar im Wert von Hunderten von Millionen Euros auch für die letzten Jahre.

Die PSG-Spitze feiert einen grossen Erfolg an jenem Samstag – der Sieg im Pokalendspiel wird da fast zur Nebensache. Die beiden Tore erzielt übrigens Edinson Cavani, der Starstürmer aus Uruguay. Er kam für eine Rekordsumme von 64 Millionen Euro nach Paris – mithilfe der Finanzspritzen, die Giannin Infantino eben durchgewinkt hat.

Die Frage ist: Warum knickte Infantino ein? Warum spielte er dieses doppelte Spiel? Im Nachgang kursiert Uefa-intern ein Brief mit einer Liste von dreizehn Argumenten, warum die Vereinbarung «auf keinen Fall eine ‹Kapitulation›» vor PSG sei. Es sei doch im Gegenteil «vernünftig», die grössten Klubs und die besten Spieler nicht einfach aus der Champions League zu kippen. Denn eines ist klar: Hätte man die Fairplay-Regeln hart umgesetzt, hätte es durchaus eine Champions-League-Sperre für PSG geben können. Das wollte man offensichtlich um jeden Preis vermeiden. Tatsache ist auch, dass die Uefa bei Klubs ohne superreiche arabische Sponsoren mehrmals hart durchgegriffen hat: Galatasaray Istanbul, Roter Stern Belgrad und andere wurden wegen Verstössen gegen die Fairplay-Regeln kurzerhand aus der Champions League verbannt.

Die Fifa, die für Infantino antwortet, nimmt keine Stellung zu den Details der PSG-Verhandlungen und der Rolle, die der Schweizer einnahm. Sie sagt aber, der Uefa-Generalsekretär dürfe bei solchen Abmachungen assistieren, um «Lösungen zu finden». Dazu gehörten auch «Diskussionen» und «Treffen». Ganz anders beschreibt die Uefa die Rolle von Infantinos damaliger Administration bei solchen Verhandlungen. Sie dürfe nur Infrastruktur, Personal, logistischen Support und Ähnliches bereitstellen. Vereinbarungen werden nicht vom Generalsekretär angeboten, sondern von der Untersuchungskommission. Dies bewahre deren Unabhängigkeit. Infantino richtet via Fifa aus, dass am Schluss natürlich allein die Kommission für eine Abmachung verantwortlich sei.

Wirklich?

Formell zuständig für die Verabschiedung der PSG-Vereinbarung war der damalige Kommissionsvorsitzende Brian Quinn. Doch der weigerte sich an der entscheidenden Sitzung vom 2. Mai 2014 zu unterschreiben, was Infantino ausgehandelt hatte. Laut einem Beteiligten sagte er, die Vereinbarung sei im Verhältnis zum Ausmass der Verstösse von PSG «zu nachgiebig». Er legte sein Amt noch in der Sitzung nieder. Ein anderer, Umberto Lago, musste während des Meetings zum Vorsitzenden ernannt werden. Einer, der dann auch unterschrieb.

Der Pariser Klub sagt: «Die Art und Weise, wie PSG das Financial Fairplay befolgte, war exemplarisch. Wir haben die Regeln immer befolgt, auch als sie sich änderten.»

Was Quinn wohl voraussah, traf schliesslich ein: Infantinos Vereinbarung mit PSG wurde zum Präzedenzfall und entwickelte rasch eine verheerende Wirkung. Die Massnahmen der Uefa gegen das Finanzdoping reicher Gönner verloren viel von ihrer abschreckenden Wirkung. In den folgenden Jahren kam es zu neuen Rekorden bei Spielergehältern und Transfersummen. Ob Finanzdoping vorlag, ist kaum noch Thema. Am allerwenigsten liess PSG sich abschrecken. Die Pariser kauften 2017 für über 400 Millionen Euro die Stürmer Neymar und Mbappé. Es sind die teuersten Transfers in der Geschichte des Fussballs. Die Uefa, jetzt unter der neuen Führung von Aleksander Čeferin, untersucht bereits wieder. Bislang ohne Ergebnis.

Und Infantino? An ihm blieb nichts kleben. Im Gegenteil – zwei Jahre nach dem Paris-Deal wird er zum mächtigsten Mann im Fussball. Football Leaks zeigt nun, dass Infantino bei der Fifa womöglich drauf und dran ist, wieder einen Ausverkauf des Fussballs zu betreiben – mit einem noch höheren Einsatz. Diesmal geht es nicht um einen einzelnen Klub, sondern um die Fifa selbst.

Mbappé und Neymar während einem Fussballspiel
Ab zur Finanzdopingkontrolle: Mbappé (180 Millionen Euro) und Neymar (220 Millionen Euro). (Bild: Aurelien Meunier/Getty Images)

6 — Bruderkrieg

Aleksander Čeferin verliest seine Sätze mit ruhiger Stimme, ohne den Namen jener Person zu nennen, an die er sie richtet. «Football is not for sale», sagt der slowenische Uefa-Präsident in Brüssel in einer Rede an den EU-Rat für Bildung, Jugend, Kultur und Sport. «Ich kann nicht akzeptieren, dass manche Leute erwägen, die Seele von Fussballturnieren an nebulöse Fonds zu verkaufen – verblendet vom Streben nach Profit.»

Čeferins Rede zielt indirekt auf einen ehemaligen Kollegen. Einen, der von der Uefa gegen eine Million Euro für den Wahlkampf zur Fifa-Präsidentschaft erhalten hat. Mit dem Čeferin eng zusammenarbeiten wollte. Dem er nun aber «höchst zynischen und gewissenlosen Merkantilismus» vorwirft.

Es ist der 23. Mai 2018, und Aleksander Čeferin erklärt Gianni Infantino gerade den Krieg.

Hauptgrund des Zerwürfnisses ist eine Initiative, die der Fifa-Präsident heimlich und in aller Eile gestartet hat. Codename: «Project Trophy». Infantino will zwei neue Fussballturniere lancieren, wofür ein mysteriöses Konsortium bereit ist, bis zu 25 Milliarden Dollar zu zahlen.

Kurz vor Čeferins Attacke hatte die «New York Times» erste Details zu Infantinos Plänen öffentlich gemacht. Dokumente zeigen jetzt, wie ein kleiner Kreis einflussreicher Geschäftsleute das Projekt in einem Höllentempo vorantreibt – und versucht, die Kontrolle über Teile des Fussballs zu erlangen. Davor warnte sogar Blatter: «25 Milliarden für ein Stück vom grossen Kuchen? Das ist falsch! Man darf den Fussball nicht verkaufen.»

Die Geschichte beginnt im Dezember 2017. In den Arabischen Emiraten läuft die Fifa-Klub-WM. Gianni Infantinos persönliche Gästeliste enthält Namen, die auf den ersten Blick nichts mit Fussball zu tun haben. Darunter sind drei Ex-Banker der Deutschen Bank und von Goldman Sachs, die mit einem eigenen Finanzunternehmen unterwegs sind: Centricus.

Am Finaltag der Klub-WM trifft ein Centricus-Mann Fifa-Generalsekretärin Fatma Samoura. Er macht ihr ein ungeheuerliches Angebot: Er schlägt vor, die bisher wenig beachtete Klub-WM zu revolutionieren und dafür bis zu zwei Milliarden Dollar pro Turnier aufzutreiben.

Die Fifa ermächtigt Centricus mit Brief vom 22. Januar 2018, auf Investorensuche zu gehen. Nur einen Monat später sitzt bei einem Geheimtreffen am Pariser Flughafen Le Bourget ein Grossinvestor am Verhandlungstisch: der japanische Techkonzern Softbank, mit dem Centricus schon zuvor Milliardendeals eingefädelt hat.

Inzwischen geht es nicht mehr nur um eine neue Klub-WM, sondern auch um ein zweites Turnier: Eine Liga aller Nationalmannschaften der Welt, ausgetragen alle zwei Jahre, über 700 Spiele. Teil des Deals wäre ein neues Joint Venture zwischen Fifa und Investoren: der Fifa Football Digital Fund.

Dieses Vehikel soll Träger der neuen Turniere sein. Mehr noch: Es soll das exklusive Recht erhalten, ein «digitales Fifa-Ökosystem» mit lukrativen Inhalten zu führen, darunter Fifa-E-Sports und TV-Kanäle, aber auch das ganze Archiv des Weltfussballverbands. Später soll der Football Digital Fund zum Gefäss werden, um den «gesamten Fifa-Inhalt zu konsolidieren». So steht es im geheimen Vorschlag von Centricus und Softbank.

Aber was bedeutet das? Selbst Fifa-Offizielle rätseln: Redet man hier davon, die Archivbilder von Maradonas Hand-Gottes-Tor abzutreten?

Am 16. März stoppt der Fifa-Council, bisher nicht für harte Gegenwehr bekannt, die «Project Trophy»-Pläne zum ersten Mal. Eiligst versucht Infantino, die Gemüter zu beruhigen. In einem Brief versichert er dem Council, dass die Fifa die Kontrolle über das Joint Venture und alle Rechte behalten würde. Doch wichtige Informationen fehlen im zehnseitigen Schreiben, etwa der Name der Geldgeber.

Viele Fussballfunktionäre bleiben misstrauisch. «Die Identität der Investoren muss offengelegt werden», fordert Uefa-Chef Čeferin in einem Brief an Infantino vom 8. Mai 2018. Čeferin fühlt sich von Infantino übergangen und schnöde vor vollendete Tatsachen gesetzt. Der Fifa-Chef spannt mit einem Investor zusammen, der sich nicht in einer öffentlichen Ausschreibung durchgesetzt, sondern in Hinterzimmergesprächen angedient hat. Ein Investor, der mit unvorstellbaren Summen lockt: Bis zu drei Milliarden Dollar will er für jede Klub-WM zahlen, bis zu zwei Milliarden für jede Nationenliga; total 25 Milliarden für zwölf Jahre. Und ein Investor, der beste Beziehungen nach Saudiarabien pflegt, wie sich herausstellt, nachdem der Name Softbank doch durchgesickert ist.

Titelseite des Dokuments zu Project Trophy
Der Football Digital Fund als Gefäss, um den «gesamten Fifa-Inhalt zu konsolidieren». Fifa-Offizielle rätseln: Redet man hier davon, die Archivbilder von Maradonas Hand-Gottes-Tor abzutreten?

Softbank führt den grössten Private Equity Fonds der Welt. Dessen wichtigster Geldgeber wiederum ist ein saudischer Staatsfonds. Dieser steuerte 45 von insgesamt 93 Milliarden Dollar Kapital bei. Das Königreich versucht mit allen Mitteln, Einfluss im internationalen Sport zu erlangen. Centricus hatte 2016 mitgeholfen, den Softbank-Fonds aufzubauen, und akquirierte dabei laut eigenen Angaben die 45 Saudi-Milliarden. Jene Financiers, die Softbank mit dem saudischen Staatsfonds zusammenbrachten, sind nun also das Bindeglied zwischen Softbank und der Fifa.

Ein Fifa-Insider sagt: «Die Nähe Saudiarabiens zu ‹Project Trophy› ist offensichtlich. Es besteht die Gefahr, dass die Fifa ihre Kerndossiers indirekt an Saudiarabien verkauft.» Dazu passt, dass Infantino parallel zu den Verhandlungen das saudische Königshaus besuchte, um «Kooperationen» zu besprechen. Zwei mal im Dezember 2017, einmal im Mai 2018. Dass ein Fifa-Präsident die Staatsspitze eines Landes in so kurzer Zeit so oft besucht, ist höchst ungewöhnlich.

Bis heute ist es Infantino nicht gelungen, das Misstrauen zu beseitigen. «Wir verstehen die Dringlichkeit und die Rücksichtslosigkeit nicht, mit der die Fifa in dieser Angelegenheit vorgeht», schreibt die einflussreiche Föderation der Fussball-Profiligen am 22. Oktober 2018 in einem Brief an Infantino. Vor einer Woche bremst der Fifa-Council seinen Präsidenten erneut aus. Statt die zwei neuen Turniere zu bewilligen, beschliesst der Council, eine Taskforce einzusetzen, die bis März Vorschläge zu den Turnieren erarbeiten soll. Auf einmal spricht Infantino von einem «Konsultationsprozess». Heisst übersetzt: zurück auf Feld eins. Die Intransparenz war schlicht zu gross.

Centricus, Softbank, der saudische Staatsfonds und das saudische Sportministerium liessen Fragen zu «Project Trophy» unbeantwortet. Die Fifa schreibt, es sei sinnvoll, Finanzierungsmöglichkeiten neuer Fussballwettbewerbe zu diskutieren: «Würden der Fifa-Präsident und die Administration solche Dinge nicht abklären, dann würden sie ihren Job nicht machen.»

Nach der Council-Sitzung stellt sich Infantino der versammelten Weltpresse. Der Investor sei nach wie vor an Bord, erklärt er, ohne einen Namen zu nennen. Ein Staatsfonds? Nein, da sei keiner involviert.

7 — In dubio pro amigo

Auf den ersten Blick sieht das Bild nach einem gewöhnlichen Selfie aus. Zwei Fussballfans machen ein Foto von sich im Bauch des Moskauer Olympiastadions, am Abend des 1. Juli 2018, als Gastgeber Russland im Achtelfinal gegen Spanien spielt.

Aber wer sind die beiden? Der Mann rechts ist König Felipe VI. von Spanien. Der Mann links Rinaldo Arnold, Oberstaatsanwalt der Region Oberwallis und Präsident des FC Brig Glis. Arnold hat das Foto selbst auf seine Facebook-Seite geladen, sein Kommentar dazu: «Auch der König von Spanien war heute in Russland am Match!» 164 Likes.

Screenshot eines Facebook-Posts von Rinaldo Arnold mit König Felipe VI. von Spanien
Selfie aus dem VIP-Sektor

Nur: Wie kommt ein Schweizer Justizbeamter am WM-Achtelfinal in den VIP-Sektor, der für Normalsterbliche unzugänglich ist? Antwort: dank einer Briger Seilschaft. Es ist Gianni Infantino, der Rinaldo Arnold nach Moskau eingeladen hat. Schon am WM-Spiel Schweiz gegen Costa Rica in Nischni Nowgorod und am Kongress 2016 in Mexiko haben ihn Fifa-Insider gesehen. Oberstaatsanwalt Arnold seinerseits nimmt das Telefon zur Hand, um bei der Bundesanwaltschaft informell Informationen für Infantino zu sammeln, als die Behörde ihre Fussball-Ermittlungen vorantreibt.

Die beiden Oberwalliser kennen sich seit Teenagerzeiten. Beide studieren Jus, Arnold in Bern, Infantino in Freiburg. Beide lieben Fussball. Und beide sind nicht für ihre Technik bekannt – sie kicken zeitweise zusammen in der fünften Liga. Ihre Stärke ist das Spiel abseits des Platzes. Arnold präsidiertden FC Brig-Glis, Infantino gründete den FC Folgore («Blitzschlag») – eine Secondomannschaft, die bald im grösseren Verein aufgeht. Die Wege der beiden scheinen sich dann zu trennen. Infantino arbeitet zuerst beim Zentrum für Sportstudien in Neuenburg, dann wuchtet er sich bei der Uefa zum Generalsekretär hoch. Arnold geht in die Walliser Verwaltung.

Aber aus den Augen verliert man sich nicht. Als Infantino als Fifa-Präsident kandidiert, schreibt Arnold im «Walliser Boten» einen Leserbrief: «Er stellt den Fussball und somit den Sport in den Mittelpunkt; nicht Macht, Geld und Korruption.» Und als Infantino als Präsident gewählt ist, organisieren die beiden in Brig gemeinsam «Giannis Game» – halb Freundschaftsturnier, halb Staatsempfang für den neuen Fifa-Chef. Gigi Buffon steht im Tor, Stéphane Chapuisat schlägt seine Haken. 4500 Zuschauer sehen zu, wie Arnold im Team Schweiz aufläuft und wie Infantino gleich in allen drei aufgestellten Mannschaften spielt – Italien, Schweiz, Weltauswahl. «Das ist die Geschichte meines Lebens, von Italien zur Schweiz zur Welt», sagt er in Interviews nach dem Turnier, Rinaldo Arnold neben sich.

Das ist der öffentliche Teil der Freundschaft.

Nicht öffentlich ist, dass Infantino Arnold mit exklusiven Tickets versorgt. In einer E-Mail vom 25. Mai 2016 schreibt der Beamte an den Präsidenten: «Herzlichen Dank für die Billette für den Champion Leaguefinal. Mein jüngerer Sohn geht mit meiner Frau, da ich an einem Anlass des FC teilnehmen muss.»

Zwei Wochen zuvor hat Infantino Arnold eine Reise an den Fifa-Kongress in Mexiko-Stadt ermöglicht. «Ich möchte mich einmal noch bedanken für die Einladung nach Mexico. Es war interessant und spannend», schreibt der Beschenkte über seine offizielle E-Mail-Adresse der Walliser Staatsanwaltschaft. Der Ton ist vertraut, «Ciao Capo» schreibt Arnold einmal als Anrede an den Präsidenten.

Die Gefälligkeiten gehen auch in die andere Richtung.

Als Infantino in der Klemme steckt, ist Arnold zur Stelle. Am 6. April 2016, wenige Wochen vor dem Mexiko-Kongress, fährt die Schweizer Bundesanwaltschaft bei der Uefa-Zentrale in Nyon vor. Die Ermittler suchen Beweismaterial, das Panama-Papers-Datenleck hat auffällige TV-Verträge der Uefa ans Licht gebracht, unterschrieben von Gianni Infantino.

Die Bundesanwaltschaft eröffnet ein Verfahren gegen Unbekannt. Nicht gegen den Präsidenten selbst – aber da er einen Vertrag unterschrieben hat, kursiert sein Name sofort in der Presse. Noch am selben Abend schreibt Infantino seinen Walliser Freund an. Aus dessen Antwortmail ergibt sich, dass Arnold mit der Bundesanwaltschaft Kontaktaufnimmt, um Informationen zu sammeln – und dem Präsidenten dann seine Hilfe anzubieten: «Wenn Du willst, kann ich mal versuchen zu erreichen, ob die Bundesanwaltschaft eine Medienmitteilung machen würde, die sagt, dass gegen Dich kein Verfahren am Laufen ist.»

Der Oberstaatsanwalt geht noch weiter: Er schlägt vor zu überlegen, «ob wir/Du Strafklage gegen Unbekannt wegen übler Nachrede einreichen sollten». Und er offeriert, Infantino an eine Sitzung mit den Ermittlern des Bundes zu begleiten, «wenn dies für Dich und Deinen Chefjuristen kein Problem darstellt».

Es wäre nicht das erste Mal. Einige Wochen zuvor hat Arnold für Infantino ein vertrauliches Treffen mit Bundesanwalt Michael Lauber organisiert. Die Strafverfolger des Bundes führen nach den Baur-au-Lac-Verhaftungen inzwischen 25 Verfahren rund um die Fifa, das bekannteste ist jenes gegen Sepp Blatter. Der Verband tritt jeweils als geschädigte Partei auf.

Am 22. März 2016 setzen sich Lauber und Infantino im Berner Luxushotel Schweizerhof zusammen. «Das einstündige Treffen diente der allgemeinen Einordnung des Untersuchungskomplexes zum Fussball (…) sowie der Klärung der Stellung der Fifa sowohl als Anzeigeerstatterin wie auch als geschädigte Partei», schreibt die Bundesanwaltschaft heute. Der oberste Schweizer Strafverfolger erscheint in Begleitung seines Informationschefs André Marty. Und Gianni Infantino? Der kommt nicht etwa mit einem Hausjuristen oder einem FifaAnwalt, der sich in den 25 Verfahren auskennt. Sondern eben: mit Rinaldo Arnold.

Der Oberstaatsanwalt betreibt eine Art Schattenberatung des Präsidenten. Sein Status als Strafverfolger dürfte ihm dabei helfen. Weshalb tut er das? Warum mischt er sich ein? Die Sache ist unklar. Jedenfalls findet sich am Ende der Nachricht vom 25. Mai 2016 folgender Satz: «P.s: Sollte Deine neue Generalsekretärin noch einen Stellvertreter brauchen, empfehle ich mich herzlich…», mailt Arnold an Infantino.

Der Transfer ist bis heute nicht zustande gekommen, Arnold arbeitet nach wie vor als Oberstaatsanwalt. Das Strafverfahren gegen Unbekannt wegen der TV-Verträge ist inzwischen eingestellt, der Verdacht der Bundesanwaltschaft hat sich nicht erhärtet.

Arnolds Einmischung in Bern ist dagegen bis heute nicht aufgearbeitet. Die Fifa bestätigt, dass der Präsident Rinaldo Arnold als «persönliche Bekanntschaft» an Events und Turniere eingeladen hat. Auf die Frage, ob er Reisen oder Tickets zum Teil oder ganz selbst bezahlt habe, antwortet Arnold nicht. Er schreibt: «Ich pflege rein privaten Kontakt zu Herrn Infantino. Er ist ein Kollege von mir, seit Jahren. Unsere Kollegschaft hat nichts mit meiner beruflichen Tätigkeit zu tun. Ich bin zu keiner Zeit als Oberstaatsanwalt im Zusammenhang mit Herrn Infantino tätig gewesen.»

Strafrechtsprofessor Mark Pieth widerspricht: «Ich sehe zwei Probleme, was den Oberstaatsanwalt anbelangt: Zum einen lässt er sich von Infantino einladen. Zum andern organisiert er, in engem zeitlichem Zusammenhang mit einem konkreten Verfahrenskomplex, ein Treffen Infantinos mit dem Bundesanwalt, das er aufgrund seiner amtlichen Funktion leichter einfädeln konnte als ein Privater. Es stellt sich ernsthaft die Frage, ob er nicht als Amtsperson Vorteile angenommen hat.»

Die Aufsicht über Staatsanwälte obliegt dem obersten Walliser Strafverfolger, Generalstaatsanwalt Nicolas Dubuis. Er schreibt auf Anfrage, Arnold habe ihm versichert, dass sämtliche Kontakte zu Gianni Infantino «rein privater Natur» seien. In einer zweiten E-Mail schiebt er nach, der Leitungsausschuss der Staatsanwaltschaft werde sich an seiner nächsten Sitzung mit dem Thema befassen.

Der Fall Arnold offenbart Regel 3 in Giannis Game: In dubio pro amigo. Man kennt sich, man hilft sich, man klärt Probleme unter sich. Dieser Ansatz ist nicht neu, es war Sepp Blatters Erfolgsrezept.

Wer verstehen will, warum zwar die Akteure wechseln, nicht aber die Methoden, der muss in die Toskana fahren, nach Florenz.

8 — «Gentlemen’s Clubs»

Miguel Poiares Maduro empfängt in seiner Dachwohnung in der Innenstadt von Florenz. Das Wohnzimmer ist von einem Flügel halb zugestellt. «Er ist seit Monaten verstimmt», sagt Maduro. Anderes ist ihm wichtiger.

Zum Beispiel Fussballpolitik. Der portugiesische Rechtsprofessor ging 2016 zur Fifa, um dem Verband bei der Aufarbeitung der Blatter-Jahre zu helfen. Infantino hatte ihn geholt. Auf dessen Bitten übernahm Maduro die Präsidentschaft des Governance-Komitees. Sein Job war es, Kandidaten zu durchleuchten, Wahlen zu kontrollieren, Regeln vorzuschlagen.

Kein Jahr später war er das Amt wieder los. Machtträger hatten sich über ihn beschwert. Als sein Gremium den russischen Vizepremier Witali Mutko nicht zur Wiederwahl in die Fifa-Exekutive zuliess, setzte auch Infantino Druck auf. «Im Fussball glauben viele», sagt Maduro, «es sei der Job des Präsidenten, die – theoretisch – unabhängigen Gremien zu steuern.» Er widerstand, Mutko blieb draussen, Maduro wurde abgesetzt. Präsident und Professor sprachen sich nie wieder.

Der Fussball sei in einem «politischen Kartell» gefangen, sagt Maduro heute. Er erklärt es so: In der Theorie ist die Fifa demokratisch von unten nach oben aufgebaut. Tatsächlich aber übt der Präsident die Macht von oben nach unten aus. Den kleinen Wahlkörper mit Fördergeldern und gut bezahlten Posten ruhigzustellen, ist zu einfach. Und dann die Kultur: In den 70erJahren verwandelte sich der Sport in ein Multimilliardengeschäft, aber die Verbände konnten mit dem Wachstum nicht mithalten, verharrten oft in Strukturen amateurhafter Gentlemen’s Clubs.

Im Umfeld des US-Justizministeriums gebe es Stimmen, die die Schweiz in der Verantwortung sehen, der Fifa schärfere Gesetze aufzuzwingen. Doch das Land sei zu klein dafür. Würde die Schweiz Regeln aufstellen, zöge die Fifa weg. Maduro fordert deshalb ein Eingreifen der EU, zum Beispiel durch eine Behörde, die alle Sportorganisationen überwacht. Aber bald sind EU-Parlamentswahlen – «vorher wird nichts geschehen». Und nachher? «Mal schauen.»

Die Frage ist: Wenn dieses «politische Kartell» so stark ist, wie hätte Infantino seine Versprechen überhaupt halten sollen? Anders gefragt: War das Spiel am Ende gar nicht zu gewinnen?

Diese Frage bringt alle Fifa-Kenner, denen man sie stellt, ins Grübeln. Die einen sagen, Infantino habe den Verband aus seiner tiefsten Krise geholt und stabilisiert, die Russland-WM erfolgreich organisiert. Aber mit welchen Methoden?, fragen die anderen – Geheimdeals und Geldversprechen? Er hätte das Spiel ändern, auf einer offeneren Kultur beharren können. «Das hätte eine Schockwelle ausgelöst, aber am Ende hätte sich der Fussball angepasst», sagt ein Offizieller.

Maduro findet, Infantino hätte seine Abwahl 2019 riskieren müssen, um ein Umdenken zu erzwingen. «Aber es ist einfach für mich, das zu sagen. Mein Leben ist nicht der Fussball.»

9 — Epilog

Eine einmalige Chance

Während «Giannis Game» in Brig holt Gianni Infantino einen Elfmeter heraus. Es ist in der Partie der Schweiz gegen die Weltauswahl. Infantino legt sich den Ball zurecht, will selber schiessen.

Der Penalty ist die leichteste Übungsanlage im Fussball. Und die schwierigste. Wer präzise genug zielt, schiesst ein Tor. Ein verwandelter Elfmeter kann zum Wendepunkt werden, ein Spiel kippen. Oder eben auch nicht.

Als Fifa-Präsident hat sich Infantino eine solche Möglichkeit verschafft. Seine Wahl lässt sich als Elfmeter sehen, als Chance, das Spiel des Weltfussballs zu drehen. In Brig nimmt Giovanni Vincenzo Infantino ein paar Schritte Anlauf, ein Tritt gegen den Ball – genau in die Mitte. Der Torhüter hält.

Hier rollt nur der Ball: Kinder spielen vor der Ruine des Grande Hotel Beira in Mozambique. (Bild: Juan Manuel Castro Prieto/Agence Vu/Keystone)
Kinder spielen vor der Ruine des Grande Hotel Beira in Mozambique.