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«Ich würde dich gerne von oben bis unten abschlecken»

Wie vier Journalistinnen sexuelle Belästigung erlebt haben.
Sie erzählen von ihren Erlebnissen: Jana Avanzini, Ines Rütten, Theresa Beyer und Samantha Zaugg (v.l.n.r.). Fotos: Philipp Rohner

Simone Rau, Oliver Zihlmann und Mathias Born

Im Umgang mit Vorgesetzten und Arbeitskollegen erleben Journalistinnen laufend sexuelle Belästigungen. Es passiert im Büro, bei Dreharbeiten, an Firmenfesten, in der Kantine. Das zeigt eine anonyme Umfrage des Recherchedesks und des Datenteams von Tamedia. Besonders gefährdet sind unerfahrene Berufseinsteigerinnen. Als Belästiger nennen die Umfrage-Teilnehmerinnen auffallend häufig ihre Vorgesetzten. Die Hälfte der Betroffenen erlebt mehr als nur schlüpfrige Sprüche, und viele leiden jahrelang, während die Beschuldigten kaum je belangt werden. Das liegt vor allem daran, dass nur ganz wenige Belästigte die Vorfälle melden.

Verstärkt werden die Probleme am Arbeitsplatz durch Belästigungen, die Journalistinnen ausserhalb ihres eigentlichen Büros erleben. Zum Beispiel bei Interviews mit Politikern, Managern oder Musikern, auf Reportage-Reisen oder an Treffen mit Informanten. Auch hier sind sie körperlichen Übergriffen bis hin zu sexuellen Nötigungen ausgesetzt, auch hier werden Gegenleistungen von ihnen verlangt, für ein Interview zum Beispiel. Dazu kommen Fälle von – zum Teil massivem – Stalking durch Hörer, Zuschauer und Leser.

Doch wie fühlt es sich an, selbst von sexueller Belästigung betroffen zu sein?

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«Er griff mir an den Po. Es war einfach nur eklig»


Jana Avanzini, freie Journalistin

Musikjournalistin Theresa Beyer, seit 2013 bei Radio SRF 2 Kultur angestellt, berichtet von einem Treffen mit einem Sänger im Backstage-Bereich eines Clubs. Mitten im Interview – das Aufnahmegerät läuft, das Gespräch ist interessant – legt er seine Hand auf ihren Arm: «Was für eine schöne Bluse du trägst», sagt er und streichelt Beyers Arm. Von dort greift seine Hand an ihr Knie. Und streichelt auch dieses. «Ich sagte ihm, dass ich gerne mit meinen Fragen weiterfahren will», erinnert sich die heute 32-Jährige. «Das war eine körperliche Grenzüberschreitung und respektlos gegenüber meiner Arbeit.»

Jana Avanzini und Theresa Beyer gehören zu den 244 Journalistinnen, die in einer Online-Umfrage der Redaktion Tamedia von ihren Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen und Übergriffen bei der Arbeit berichten. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, doch der sehr grosse Umfang der Rückmeldungen verleiht den Ergebnissen Gewicht. Die Journalistinnen aus Print, Fernsehen, Radio und Online schildern auf Hunderten Seiten teilweise ausführlich und im Detail erschütternde Erlebnisse. 204 Frauen machen Angaben darüber, wer hinter den Belästigungen steckt. 40 Prozent von ihnen nennen als Urheber nicht Kollegen oder Vorgesetzte, wie das sonst üblich ist bei Belästigungen am Arbeitsplatz. Sondern externe Personen, mit denen sie in ihrem Beruf täglich zu tun haben: Politiker, Manager, Musiker, Sportler, Informanten oder Experten. Aber auch Zuschauer, Hörer und Leser.

Die Tamedia-Umfrage war anonym, doch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten, wenn sie wollten, ihre Kontaktdaten hinterlassen. Musikjournalistin Beyer wollte. «Ich möchte stellvertretend für andere Journalistinnen schildern, wie ich in manchen Situationen von Männern daran gehindert wurde, meinen Job zu machen. Und dass es mitunter gefährlich werden kann.» So habe ein Musiker bei einem Interview in einem Hotelzimmer einmal die Tür verriegelt, nachdem sie eingetreten sei – sie sei «extrem erschrocken». Seither führe sie trotz guter Akustik keine Interviews mehr in Hotelzimmern.

Auch die freie Journalistin Jana Avanzini will ihre Geschichte erzählen. «Was mir passiert ist, darf nicht passieren», sagt sie. «Es braucht eine öffentliche Diskussion über sexuelle Belästigung. Deshalb stehe ich hier mit meinem Namen hin.»

Die Umfrage gibt deutliche Hinweise darauf, dass für viele der Umgang mit Journalistinnen ein Problem ist. «Sie sind offenbar viel öfters Belästigungen durch Externe ausgesetzt als der Durchschnitt in unserer nationalen Studie», sagt Marianne Schär Moser, Mitverfasserin der ersten schweizweiten Studie zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz für das Staatssekretariat für Wirtschaft. Ähnlich hohe Werte erzielten nur die Pflegerinnen, die sich mittlerweile gezielt organisiert haben, um den Belästigungen durch Patienten vorzubeugen.

Für Journalistinnen gibt es hingegen keinen organisierten Schutz vor sexuellen Übergriffen durch Interviewpartner während der Arbeit. Dabei zeigen die Beispiele aus der Umfrage, wie wichtig das wäre.

Eine Sportjournalistin aus der Romandie berichtet etwa von einem körperlichen Übergriff durch einen ausländischen Tennisspieler. Der Vorfall ereignete sich, als sie während eines Turniers im gleichen Hotel wie der Spieler wohnte: «Er spricht mich an, ich stehe vor seiner Tür. Wir reden über ein paar Banalitäten, das Turnier, das Wetter. Ich sage ihm ganz klar, dass ich Journalistin bin. Da drückt er mich plötzlich gegen die Wand und schiebt seine Zunge in meinen Mund. Ich stosse ihn zurück und versuche, ihn zur Vernunft zu bringen. Er will nichts hören, behauptet, ich wolle es auch, stösst mich aufs Bett. Ich schlage um mich und kann mich befreien. Er zieht seine Hose runter und zeigt mir, wie erregt er ist: ‹Schau, in welchen Zustand du mich gebracht hast. Küss ihn wenigstens, bevor du gehst.›»

Die Journalistin berichtet, sie habe sich während mehrerer Tage schuldig gefühlt – obwohl sie nichts gemacht habe. «Er hat die Situation ausgenutzt in der Annahme, jede Frau sei ein Groupie und würde seinen Annäherungsversuchen nachgeben», schreibt sie über den Sportler, der seine Karriere mittlerweile beendet hat.

Ähnliches sagt Theresa Beyer über ihren Vorfall mit dem Musiker. Gerade die Popmusikbranche sei «stark männlich dominiert». Für die Frauen sei traditionell die Rolle der Groupies vorgesehen; als kompetente Journalistin müsse man sich da zuerst einmal Respekt verschaffen. «Je berühmter die Männer sind, desto eher nutzen sie ihre Position aus, da sie auf die Berichterstattung nicht mehr angewiesen sind», so die Erfahrung der Radiojournalistin.

In der Umfrage gibt es zahlreiche Beispiele dieser Art: Politiker, Manager oder Künstler ziehen die Journalistinnen, die sie interviewen wollen, auf den Schoss, fassen ihnen an Busen oder Po, machen klare sexuelle Avancen. Eine Printjournalistin, die für eine Recherche in Kontakt mit einem wichtigen Informanten stand, schreibt: «Eines Abends schrieb er, er sei jetzt bereit für ein Treffen. Auf die Frage, wo wir uns treffen sollen, lud er mich zu ihm nach Hause ein. Als ich schrieb, ich würde lieber an einem neutralen Ort mit ihm sprechen, schickte er mir ein Foto seines erigierten Penis mit dem Hinweis, ‹damit› könne er nicht aus dem Haus. Da habe ich den Kontakt abgebrochen.»

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«Bis heute überlege ich mir, wie ich hätte reagieren müssen»


Ines Rütten, Journalistin «Landbote»

Die Journalistin kann nicht glauben, was sie gerade gehört hat. Und bleibt doch stumm. «Danach spulte ich das Interview ab, als wäre nichts geschehen», erinnert sich die mittlerweile 34-Jährige. Das Problem an solchen Szenen: Der Sprücheklopfer sieht das womöglich als Lappalie. Die Betroffenen ärgern sich aber oft noch jahrelang darüber, dass sie mit sexuellen Bemerkungen herabgesetzt wurden. Das ging auch Ines Rütten so: «Bis heute überlege ich mir, wie ich hätte reagieren müssen. Und ich ärgere mich, dass ich das habe mit mir machen lassen.»

«Wut» und «Ärger» sind die häufigsten Begriffe, mit denen die Journalistinnen in der Umfrage das Erlebte beschreiben. Sie verlangen, dass die Männer, denen sie professionell begegnen, sich ebenso professionell verhalten. Gerade bei jungen Journalistinnen, die noch wenig Erfahrung haben, ist das aber oft nicht der Fall.

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«Vor einem Interview überlege ich mir ganz genau, was ich anziehe»


Samantha Zaugg, Multimedia-Journalistin

«Im Lokaljournalismus trifft man die gleichen Menschen immer wieder, ist darauf angewiesen, dass sie mit einem sprechen», sagt Samantha Zaugg, die mit 19 Jahren bei Tele Top einstieg. «Als junge Journalistin wusste ich nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte.» Sie sei männlichen Interviewpartnern gegenüber heute «sehr reserviert» und überlege sich vorher «ganz genau», was sie anziehe. «Keine grellen Farben, keine Schminke, kein Lippenstift. Und das, obwohl ich mich gerne modisch kleide. Eigentlich unglaublich.»

Sie hätten vergleichsweise nichts Schlimmes erlebt, sagen die vier Frauen. Auch deshalb wollten sie an die Öffentlichkeit treten. «Wenn wir nicht reden, wer dann?», sagt Ines Rütten. «Es genügt nicht, wenn nur wir Frauen untereinander darüber diskutieren, wie wir mit sexueller Belästigung umgehen sollen.»

Sie sprechen auch für andere, die sich ebenfalls mit Namen äussern wollten, um von ihren Fällen zu berichten – dann aber im letzten Moment davor zurückschreckten. Zum Beispiel eine Radiojournalistin, die knapp zwei Monate lang täglich Gedichte mit massiven Vergewaltigungsfantasien von einem Hörer erhielt. «Er beschrieb unter anderem, wie er mich mit einer Eisenstange vergewaltigen würde», sagt sie am Telefon. Sie hat sich auf die Umfrage mit Namen gemeldet, wollte dann aber doch anonym bleiben. «Es wäre wichtig, dass ich mit meinem Gesicht hinstehe und mich auch fotografieren lasse. Aber ich schaffe es nicht.» Der Stalker sei damals aus dem Nichts aufgetaucht, genauso wie ein zweiter Stalker, der plötzlich leibhaftig vor ihr gestanden sei. Sie wolle deshalb kein Risiko eingehen.