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VOLLES RISIKO

Philipp Loser
Rechtsberaterin, Nationalrätin, Präsidentin der FDP: Petra Gössi. Foto: Joan Minder

 

Der Nationalratssaal im Bundeshaus in Bern kann der lauteste und aufregendste Ort der Schweiz sein. Wenn Debatten aus dem Ruder laufen, Zwischenrufe für einen Protokolleintrag sorgen («allgemeine Heiterkeit»), Bundesräte und manchmal Bundesrätinnen gewählt werden.

Der Nationalratssaal im Bundeshaus in Bern kann der deprimierendste Ort der Schweiz sein. Trostlos und düster und leer. Wie jetzt, an diesem Donnerstagabend im Juni. Die Lichter sind gedimmt, in den Gängen liegt Papier, Stühle stehen herum, jemand hat seinen Laptop vergessen.

Nur ganz hinten, auf den Holzthronen der Ständerätinnen und Ständeräte mit den geschnitzten Kantonswappen, sitzen Petra Gössi, Präsidentin der FDP, und Damian Müller, Ständerat der Partei. Sie stecken ihre Köpfe so nahe zusammen, wie es nur Menschen tun, die sich etwas Wichtiges, etwas Geheimes zu erzählen haben.

Petra Gössi, 43 Jahre alt, ist seit drei Jahren Vorsitzende der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz und steht vor dem wichtigsten Moment ihrer Präsidialzeit. In zwei Tagen sollen die Delegierten der Partei den neuen Umweltkurs gutheissen. Es wird auch eine Entscheidung über Gössi sein. War es richtig, die FDP auf Grün zu drehen? Will das die Partei? Nützt es ihr? Falls ja: Kann sie diesen Kurs konsequent vertreten?

Es ist Wahljahr, und Petra Gössi wagt etwas, was noch niemand in einem Wahljahr gewagt hat. U-Turn. Umkehrung einer Partei. Für Schweizer Verhältnisse ist das geradezu spektakulär. Sie selber scheint es nicht weiter zu bekümmern. «Was wäre die Alternative gewesen? Nichts tun?», hatte sie einige Tage zuvor im Restaurant des Bundeshauses, der Galerie des Alpes, rhetorisch gefragt. Andere Politiker hätten in diesem Moment die Stimme erhoben, des dramatischen Effekts wegen. Gössi nippte bloss an ihrem Saft. Oben war die Sommersession im Gang und alles sehr nervös. In einem Wahljahr sind Sessionen anders – plötzlich geht es um etwas, bei manchen um die politische Existenz. «Ich finde das schrecklich», sagte Gössi, «als gäbe es kein Leben neben der Politik.» So wie sie das sagte, meinte sie es eher beobachtend als wertend. Auch nach acht Jahren im Bundeshaus wirkt sie mitunter wie am falschen Ort. All die Aufregung, all das Getöse – dabei möchte sie doch bloss in Ruhe arbeiten.

Arbeit hat sie gerade mehr als genug. Gegen aussen. Gegen innen. Zwei Tage noch bis zu der entscheidenden Delegiertenversammlung in Zürich, und es läuft nicht gut. Es läuft sogar richtig schlecht. Darum sitzt sie jetzt auch noch im Saal und bespricht sich leise mit Damian Müller. Der Luzerner ist ein Verbündeter, er hat am Umweltpapier mitgearbeitet, stützt den neuen Kurs – ihren Kurs. Und er hat heute mitangesehen, wie die «Chefin», so nennen sie Petra Gössi in der Partei, von ihren eigenen Leuten desavouiert wurde.

Im Nationalrat wurden die Trinkwasser-Initiativen behandelt, die den Pestizideinsatz in der Schweizer Landwirtschaft radikal einschränken wollen. In der FDP-Fraktion hatte man sich zuvor auf einen Gegenvorschlag geeinigt, einen Kompromiss, der den Bauern weit entgegengekommen wäre. Doch im Rat kommt dann alles anders. Die bauernnahen Leute in der Partei schwenken um, die Romands schliessen sich ihnen an, und am Schluss stehen Petra Gössi und ihr Fraktionschef Beat Walti fast alleine da. Der erste richtige Test für den neuen Umweltkurs der FDP: völlig misslungen. «Etikettenschwindel», höhnt Regula Rytz, die Präsidentin der Grünen. «Leere Versprechen!», schimpft Balthasar Glättli, Fraktionschef der Grünen. Und in der FDP selber freuen sich jene, die es schon immer gewusst haben: dummes Zeug, dieses grüne Getue.

«Was wäre die Alternative gewesen? Nichts tun?»

Petra Gössi und Damian Müller verlassen den Saal durch verschiedene Ausgänge. Als Gössi hinaustritt, hält sie ihr Handy wie einen toten Vogel in der Hand. Kaputt, seit heute. Sie sagt etwas zur Debatte, aber es ist nicht besonders stringent, sie ist heiser, eine Erkältung. Sie will jetzt lieber weg. Entschuldigen Sie bitte.

Petra Gössi hat ein hartes halbes Jahr hinter sich. Man merkt es ihr an, ihr und ihrem engsten Mitarbeiter, dem FDP-Generalsekretär Samuel Lanz. Lanz (ausgehende Mails pro Jahr: 30 000, eingehende Mails: 45 000) sieht mager aus, bleich, er rasiert sich zu selten und zischt jedes Mal, wenn man ihm im Bundeshaus oder im Zug über den Weg läuft, eine böse Bemerkung über die Politik, die Menschheit, die Welt. «Hast du mir einen anderen Job?» 

Bei Gössi sind die Veränderungen subtiler. Sie lacht nicht mehr so häufig, ist ständig erkältet. Das Videoteam der FDP macht in der Sommersession Aufnahmen von ihr für den Wahlkampf. Sie werden alle wieder gelöscht. Unbrauchbar. Die Chefin: zu bleich.

Natürlich ist der Druck gross. Die Partei ist vorbelastet. In ihrer über hundertjährigen Geschichte hat die FDP schon öfter die Richtung gewechselt. Hat den EU-Beitritt zum Ziel erklärt und wieder aus dem Parteiprogramm gekippt. Ging nach rechts, nach links, mal abrupt, mal schleichend. Es kam selten gut. Wird es diesmal anders sein? Wird die eigene Partei den neuen Umweltkurs goutieren? Die manchmal feindselige Fraktion im Bundeshaus? Und ist Petra Gössi, die Rechtsberaterin aus Küssnacht am Rigi, die richtige Person dafür? Er stehe mit Besen und Schaufel bereit, sagt ein Freisinniger dem «Tages-Anzeiger» vor der Sommersession, «um die Scherben dieser überhasteten Aktion aufzuwischen». Er bleibt anonym, natürlich.

Zwei Tage noch bis zur Delegiertenversammlung in Zürich-Altstetten. Zwei Tage.

Der Stunt

Als Petra Gössi im Frühling 2016 zur Präsidentin der FDP gewählt wurde, stand sie verloren auf der Bühne des Hotel National in Bern und sagte: «Spinne ich eigentlich, dass ich die Einzige bin, die das machen will?» Ihr Auftritt und ihre Wahl (337 Stimmen von 337 Stimmen) gingen fast unter. Schuld war ihr Vorgänger. Philipp Müller machte ein wahnsinniges Tamtam um seinen Abgang, riss einen Witz nach dem anderen, wollte fast nicht mehr von der Bühne. Blumen, Geschenke, mehr Geschenke, Palimpalim. Einen hab ich noch. Als spielte es keine Rolle, wer nach ihm den Laden übernimmt.

«Philipp hat uns die Lust auf mehr Erfolg ins Herz gepflanzt», sagte Bundesrat Johann Schneider-Ammann und traf damit den Zeitgeist in der Partei recht genau. Gewinnen. Einfach so. Ohne nachzudenken. Müller hatte, das ist sein historisches Verdienst, seine Partei wieder «cool» gemacht. Aus einer Partei der kalten Technokraten und herzlosen Millionäre eine Partei der Kinderhüpfburgen und kosten­losen Bratwürste. In der Präsidialzeit von Philipp Müller ging es immer zuerst um ein Gefühl, um die Atmosphäre, das Miteinander – erst danach um Inhalte. Ein FDP-Anlass sei erst dann ein guter Anlass, wenn man mindestens zweimal lachen müsse, sagte Müller mal.

Der Erfolg gab ihm recht, auch wenn er ihn nie wirklich erklären konnte. Bei den Wahlen 2015 gewinnt der Freisinn Wähleranteile hinzu, zum ersten Mal seit 1979. Der Niedergang gestoppt, die Partei der Staatsgründer auf einer Welle des Erfolgs.

Petra Gössi reitet mit. Die äusserst sanfte Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative gelingt massgeblich dank ihrer FDP; aus der Suche nach den Nachfolgern für die Bundesräte Didier Burkhalter und Johann Schneider-Ammann machen Gössi und Lanz eine erfolgreiche PR-Show durch alle Landesteile, und in den Kantonen geht es weiter wie im Wahlherbst 2015. Sieg um Sieg um Sieg. Plus 33 Sitze in den kantonalen Parlamenten. Im Wahl­barometer gleich stark wie die SP. Das deklarierte Ziel der FDP: die SP überholen und zweitstärkste Partei werden. Wahlkampfgetöse, das man von 2015 kennt, das keiner wirklich ernst nahm. Bis jetzt. Ist es doch möglich?

Wer soll diesen Freisinn stoppen?

Dann wird es 2018. Der Sommer ist heisser als sonst, er will gar nicht mehr aufhören und dauert bis weit in den Herbst. In den Zeitungen drucken sie Bilder von Schweizer Feldern, die aussehen wie Wüstengebiet. Bauern klagen über fehlendes Wasser, Klimaforscher sagen: Gewöhnt euch dran.

Da baut sich etwas auf, da entsteht etwas, leise und doch dringlich. In der FDP-Fraktion spürt man es nicht. Als es Winter wird und das Parlament sich im Dezember 2018 zur Session trifft, entstellt die rechte Mehrheit von SVP und FDP das CO2-Gesetz bis zur Unkenntlichkeit. Da bleibt so wenig, dass das gesamte Gesetz danach vom Nationalrat versenkt wird. Und schuld daran: die FDP. Im Onlinemagazin «Republik» sagt Hans-Peter Fricker, ein Freisinniger und ehemaliger Chef des WWF: «Die FDP hat in den ver­gangenen zwei Wochen die Schweizer Klimapolitik verraten.»

Drei Tage nachdem der Nationalrat das CO2-Gesetz abgeschossen hat, gehen in Zürich fünfhundert Schülerinnen und Schüler auf die Strasse. «Stop wrecking our planet – we want actions now», steht in fehlerhaftem Englisch auf einem Plakat. Es ist der Beginn der Schweizer Klimastreiks. Plötzlich redet das ganze Land über das Thema. Über die Erderwärmung, über die Zukunft des Planeten. Als die schwedische Aktivistin Greta Thunberg im Januar nach Davos ans Weltwirtschaftsforum kommt, wird sie von einem Medienaufgebot empfangen, das ähnlich gross ist wie beim Besuch von US-Präsident Donald Trump im Jahr zuvor. Der Satiriker Michael Elsener the­ma­tisiert das CO2-Gesetz in der Premieren-Ausgabe seiner Sendung «Late Update» und präsentiert eine neue Bedeutung für die Abkürzung FDP: «Fuck de Planet». Zwei Wochen später halten Schülerinnen und Schüler Schilder mit diesem Slogan in die Höhe, stilecht in FDP-Blau. Es sind jetzt nicht mehr fünfhundert Jugendliche, die auf die Strasse gehen. Sondern an die vierzigtausend. Politgeograf Michael Hermann sagt: «Im letzten heissen Sommer ist ein Damm gebrochen. Jetzt ist es Winter, es ist kalt, und trotzdem ist das Thema nicht verschwunden. Die Leute sind offensichtlich bereit, den Klimawandel als ein Problem zu begreifen.»

Auch im Freisinn setzt ein Umdenken ein. Am 31. Januar 2019 treffen sich im Zürcher Hotel Walhalla 21 FDPler zur Strategiesitzung. Dabei sind, neben dem erwähnten Ex-WWF-Chef Fricker, auch Beat Kälin, Präsident der FDP Meilen und des WWF Zürich, und Peter Metzinger, Unternehmer, Lokalpolitiker und ehemaliger Kampagnenleiter bei Greenpeace. Dieser lässt sich daraufhin mit dem Satz zitieren: «Es gibt nur noch wenige Freisinnige, die glauben, Umweltpolitik sei gar kein Thema für die FDP.»

Und das, so wird der restlichen Schweiz zwei Wochen später klar, denkt auch die Chefin: Anfang Februar meldet sich der Kommunikationsverantwortliche der FDP, Martin Stucki, bei der Inlandredaktion der Tamedia-Zeitungen und bietet ein Interview mit Petra Gössi an. Exklusiv. Die FDP und das Klima. Die FDP und der Umweltschutz.

Das Interview erscheint am Samstag, 16. Februar, und es ist spektakulär. Eine Kehrtwende. Gössi bietet nun Hand für eine Flugticketabgabe und ein Inlandziel für CO2-Reduktionen. Sie kündigt eine Umfrage bei der Basis an. Hundertzwanzigtausend Mitglieder sollen ihre Meinung zur freisinnigen Umweltpolitik abgeben. Sie sagt: «Wir sind keine klimafeindliche Partei.» Sie sagt: «Wir wollen eine wirk­same Klimapolitik.» Sie sagt: «Es ist selbstverständlich, dass man die Politik anpassen kann.»

Dass Gössi das Interview geben würde, wusste nur der innerste Zirkel. Die Fraktion erfährt die Kurskorrektur aus der Zeitung. Die Fraktion tobt. Nationalrat Christian Wasserfallen aus dem Kanton Bern ist der Wortführer jener Kräfte in der Partei, die das CO2-Gesetz entscheidend abgeschwächt ­haben. Er twittert und geht sofort auf Konfrontation: «Was man alles aus der Zeitung erfährt. Wir sind nicht für wirkungslose Flugticketabgabe. Kühlen Kopf im Wahljahr bewahren.» Ein anstrengendes Wochenende für das Generalsekretariat. «Einige haben wahnsinnig täubelet», sagt Samuel Lanz.

Petra Gössi geht auf tutti. Die eigene Fraktion: zutiefst beleidigt. Die Unterstützung der Basis: ungewiss. Die Reaktionen in der Öffentlichkeit: ungläubig bis mitleidig. Ist der Freisinn so nervös, dass er jetzt auf grün macht?

Oft wird die FDP-Präsidentin in den Tagen und Wochen danach gefragt, warum sie das getan habe. Warum gerade jetzt? Warum nicht früher? Und meint sie das wirklich ernst? Ihre Antworten variieren, sind aber im Kern konstant. Man habe das Problem nicht länger ignorieren können. Alternativlos. Sagt sie in der Galerie des Alpes im Bundeshaus, auf einer Autofahrt von Tuggen nach Zürich, in einem Tram in Langenthal, bei einem Kaffee in ihrem Büro am General-Guisan-Quai in Zürich. Sie sagt es immer wieder, muss es immer wieder sagen: «Die Rückmeldungen aus den Kantonen waren überdeutlich.» Es gehe ihr nicht um die elektorale Perspektive, sonst sei man nicht mehr glaubwürdig, es gehe ihr tatsächlich um den Schutz der Umwelt. «Dieser ist in der DNA unserer Partei verankert.» Es sei doch logisch, dass jeder Mensch, der wie sie gern in der Natur sei, diese auch schützen und bewahren wolle. So simpel.

Grüne Wurzeln

Was man auf den ersten Blick nicht sieht: Es ist nicht nur der Zeitgeistdruck, der Gössi zu ihrem Manöver verleitet. Das Manöver hat auch einen strategischen Unterboden. Zum ersten Mal seit Jahren schwächelt die grösste Partei der Schweiz, die SVP, spürbar. Sie hat keine Themen, keine Resonanz, sie verliert in den Kantonen Wahl um Wahl. Das Risiko für die FDP, mit dem Umweltthema die rechte Flanke zu öffnen, ist so gering wie noch nie. Gleichzeitig wachsen links die Grünliberalen zu einer ernsthaften Bedrohung heran. Die Lagebeurteilung recht eindeutig: Es muss jetzt sein.

Schon Gössis Vorgänger hat das versucht. Nach einem Mittagessen mit Elisabeth Kopp, der ersten Bundesrätin der FDP, und nach dem Besuch von über dreihundert Veranstaltungen der Parteibasis, war Philipp Müller plötzlich klar: Die Natur zählt. Auch Müller gab Interviews zum Umweltschutz, er kündigte eine grünere, eine ökologischere Partei an – und scheiterte. Der Druck war nicht so gross. Die Ausgangslage anders. Er selbst nicht so entschlossen.

Aber dass die FDP im Kern eine irgendwie grüne Partei sei, davon sind beide überzeugt, Gössi und Müller. Gössi erzählt gerne und oft, dass es Freisinnige gewesen sind, die den ersten Nationalpark und Pro Natura gründeten. Doch so richtig dominant war Umweltschutz eigentlich nur während einer bestimmten Episode in der hundertjährigen Geschichte des Freisinns. 1983, als das Waldsterben in der öffentlichen Diskussion so dominant war wie heute der Klimawandel, entstand in der Basis eine Diskussion, der heutigen nicht unähnlich. Umweltschutz war ein Problem, auf das die Partei, die überall «weniger Staat» forderte, keine Antwort hatte.

«Es ist doch logisch, dass jeder Mensch, der gern in der Natur ist, sie beschützen und bewahren will.»

Die grüne Hoffnung kam aus Zumikon und hiess Elisabeth Kopp. Sie war dort Gemeindepräsidentin, als sie 1979 in den Nationalrat gewählt wurde. Kurz darauf installierte die Zürcher FDP unter Kopps Leitung eine neue Kommission für Umweltschutz. Im Parlament setzte sie sich erfolgreich dafür ein, dass der Bundesrat die Katalysatorpflicht beschloss. In den folgenden Jahren wurde sie «zum Gesicht für einen neuen Umgang der FDP mit dem Thema Umweltschutz», wie ihr Biograf René Lüchinger schreibt.

Kopps Wahl in den Bundesrat machte aus dem Umweltschutz, lange fast ausschliesslich Thema der Linken, einen festen Bestandteil der freisinnigen Agenda. Im Oktober 1986 verabschiedeten die FDP-Delegierten in Bern ein Manifest, das sogar Lenkungsabgaben vorsah, um den Verbrauch knapper Ressourcen zu senken. Rasch erhielten nun auch andere Politiker in der Partei Aufschwung, die auf stärkeren Schutz der Umwelt drängten. Die Bielerin Christine Beerli, spätere FDP-Fraktionspräsidentin und Bundesratskandidatin, trat der FDP in dieser Zeit bei. «Für meine politische Soziali­sierung spielten diese Jahre eine wichtige Rolle», sagt sie. «Teile der Partei strahlten eine sozialliberale Haltung und eine Öffnung in ökologi­schen Fragen aus, die besonders von Frau Kopp verkörpert wurde.»

Im Mai 1987 bestritt der Baselbieter René Rhinow seinen Ständeratswahlkampf ausschliesslich mit dem Thema «Ökoliberalismus» und begeisterte damit den damaligen FDP-Präsidenten Bruno Hunziker, einen wirtschaftsliberalen Aargauer: «Vor zwei Jahren hätte ich gesagt: Es wird schwierig sein, diese Einsichten bei uns durchzubringen. Heute sieht es anders aus: Zwischen unserem Umweltmanifest und Rhinows Ausführungen gibt es grosse geistige Überein­stimmungen.»

Doch als 1988 Elisabeth Kopp aus dem Bundesrat zurücktreten musste und 1989 die Mauer fiel, blieb nicht mehr viel von den «geistigen Übereinstimmungen» übrig. Die FDP hatte nun andere Probleme. Ohnmächtig sah sie zu, wie in den folgenden zwei Jahrzehnten rechts von ihr die SVP stärker und stärker wurde und sie schliesslich überholte. Der Freisinn reagierte zuerst mit einem ideologisch wirren Hin und Her auf den Aufstieg der SVP und später, in den Nullerjahren, mit einer klaren Ausrichtung nach rechts. Auf der Strecke blieb der Umweltschutz. Der Tiefpunkt wurde vor zehn Jahren erreicht, als die FDP mit einer Volksinitiative das Verbandsbeschwerderecht für Umweltverbände abschaffen wollte. Ein Affront für all jene Freisinnigen, die irgendwo, irgendwie grün waren.

Das ist die Ausgangslage von Petra Gössi. Das grüne Erbe der Partei, die «DNA». Umweltschutz im Freisinn: eine historische Nebenbeschäftigung weniger, aber sehr engagierter Parteimitglieder. Rechtfertigt das die Neuausrichtung einer ganzen Partei?

Petra Gössi muss die Frage nach den Kantonsratswahlen in Zürich vom März 2019 wieder und wieder beantworten. Die Siegesserie der Partei wird in Zürich jäh gestoppt. Verlust eines Regierungsratsitzes, zum ersten Mal überhaupt nur noch ein Freisinniger ­in der Exekutive. Minus zwei Sitze im Kantonsrat. Wahlverliererin FDP. Wahlverliererin Petra Gössi. «Bei diesem Thema wählt man immer das Original, und das muss uns zu denken geben», ätzt FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen am Radio, natürlich Wasserfallen. Gössis Nemesis. Unterstützt wird der Berner Nationalrat von allerlei bösen Tweets verärgerter Jungliberaler: «Letzte Alarmglocke: Bitte zurück zu den liberalen Werten!» Hashtag: #DankeGössi.

Und Gössi? Am Wahltag hört man nichts von ihr. Sie lässt Hans-Jakob Boesch den Vortritt, dem Präsidenten der Zürcher Kantonalpartei. Er ist ein Unterstützer des neuen Kurses und sagt: «Für uns Zürcher kam das Engagement von Petra Gössi zu spät.»

Sie selber spricht erst wieder zwei Tage nach den Wahlen. In ihrem Heimatort, Küssnacht am Rigi, werden an diesem Abend die Schwyzer FDP-Kandidatinnen und -Kandidaten für die eidgenössischen Wahlen vom Herbst nominiert. Die Versammlung findet im Industrieareal von Küssnacht statt, auf dem Werkhof der Christen AG, und sie ist ein Spektakel, wie es seit den Zeiten von Philipp Müller in der FDP üblich ist. Freibier, Bratwürste, eine Band. Die Stimmung: so gar nicht verkatert. Trotz Zürich. «Umweltpolitik und Umwelt gehen uns alle an. Wir haben nur eine Umwelt», sagt Gössi den Delegierten. «Bis jetzt wird Umweltpolitik vor allem von links betrieben. Es braucht darum unsere Rezepte, unsere Ideen.» Grosser Applaus.

Kurz vor der Nomination gibt der Wahlkampfleiter das Wort frei. Drei Leute melden sich, niemand redet über die Kandidaten, alle sprechen nur über ein Thema: die Umwelt. «Ich habe riesige Freude, wie sich Petra für Umweltthemen einsetzt», sagt einer. «Wir waren schon immer eine Umweltpartei», der Nächste. Und der Letzte: «Gratulation, wie standhaft du in den vergangenen Tagen im Thema geblieben bist, Petra. Wir stehen hundert Prozent zu dir.» Die paar Jungfreisinnigen im hinteren Teil des Hofs, die sich vor der Veranstaltung noch kritisch über die grüne FDP geäussert hatten, bleiben stumm. Sie schauen jetzt zu, wie Petra Gössi auf der grünen Bühne des Werkhofs steht (Grün ist die Farbe der Christen AG – Bagger, Pavatex-Platten, alles grün hier) und wie sie fast schon schreit: «Wir rocken das!»

Sie wirkt gelöst. So gelöst, wie sie im Bundeshaus nie wirkt. «Üsi Petra» wird sie in Küssnacht genannt. Der lokale Parteipräsident lobt sie dafür, dass sie sich bis heute für jede verpasste Sitzung bei der Ortspartei entschuldige («Das wäre wirklich nicht nötig!»), und Gössi macht Werbung für das Jubiläumsfest der lokalen Trachtengruppe, dessen OK-Präsidentin sie ist. Mögen sie in Bern stürmen und jammern, mögen sie in Zürich twittern und sirachen – hier kann ihr niemand etwas. Hier ist sie daheim.

Küssnacht am Rigi

Alpenidylle und Businessclass. Geisselchlepfer und Banker in steueroptimierten Eigenheimen mit Seesicht. Küssnacht, auf halbem Weg zwischen Luzern, Zug und Zürich, ist ein Abbild der modernen und ein Abbild der traditionellen Schweiz. Vereint in erstaunlicher Harmonie.

Petra Gössi ist sehr Küssnacht am Rigi. Schwingfan und Akademikerin. Besucherin von Alpchilbis und gut bezahlte Steuerberaterin in der Stadt. Kein Widerspruch. Fragt man Gössis Umfeld nach ihrer grössten Stärke, kommt immer und bei allen zuerst das: Sie ist authentisch. Sie verstellt sich nicht. Und das hat wohl viel damit zu tun, dass sie immer hier geblieben ist, hier in Küssnacht. Selbst wenn sie unterwegs war, in Bern, um Jus zu studieren, in Zürich als Assistentin an der Uni und später bei der Arbeit – am Schluss war sie immer wieder hier. Ihre Familie, ihre Freunde, ihre Förderer – in Küssnacht ist Gössi befreiter, entspannter, frecher auch. Hier ist sie behütet und beschirmt.

Besuch bei Alois «Wisel» Christen. Von seiner Stube sind es etwa dreihundert Meter Luftlinie bis zur Wohnung von Petra Gössi. «Schau, da wohnt s Petra.» Christen lebt mit seiner Frau in einer Villa hoch über Küssnacht, ganz am Ende einer Strasse namens Bürgenstockhöchi. Vor ihm der See, die Alpen, volle Lieblichkeit. Weiter hinten im Tal: seine Firma. Christen hat jene Baufirma gross gemacht, in deren giftgrüner Werkhalle die FDP des Kantons Schwyz ihre Delegiertenversammlung abgehalten hat. Er war auch Politiker: von 1992 bis 2000 im Kantonsrat, danach acht Jahre als Vorsteher des Militär- und Polizeidepartements in der Regierung. Ein gelernter Hochbauzeichner und Maurer unter lauter Akademikern, nicht immer einfach sei das gewesen.

Christen, 71 Jahre alt, ist eine Nummer im Dorf. Und eine Konstante in Petra Gössis Leben. Berater, väter­licher Freund. Wie eine Tochter sei die Petra für ihn. Erst kürzlich waren sie zusammen am Eidgenössischen Schwingfest. Er zeige ihr an solchen Festen, wen sie unbedingt grüssen müsse, wen man nicht vergessen dürfe. «Es sind solche kleinen Dinge, die ich ihr sage, fiini Sächeli.» 

Ihr Vater, der «Gössi Toni», ist ein guter Freund von Christen. In mindestens zehn Vereinen seien sie zusammen im Vorstand gewesen, sagt Christen, er und der Toni. Ein guter Mensch, ein fröhlicher Mensch, und als er dann mit seiner Tessiner Frau Edy endlich die Petra hatte, ein sehr glücklicher Mensch.

Petra Gössi ist ein Einzelkind, aber sie wächst mit drei Cousins und Cou­sinen im gleichen Haus auf. Die Eltern arbeiten beide zu hundert Prozent im eigenen Haushaltswarengeschäft, zum Mittagessen sitzen alle am Tisch und hören um halb eins das «Rendezvous». Politisierung einer sorgenfreien Generation.

Die Gössis sind schon lange in Küssnacht, und sie haben immer mitgemacht. Beim Klausjagen, der Sennen- und Älplergesellschaft, im Frauenverein, in der Müttergesellschaft. Man macht mit, weil man mitmacht. Aus Freude. Dörflicher Zusammenhalt.

Das Elternhaus katholisch und liberal. Schon der Grossvater und ein Onkel sassen für die Liberale Volkspartei – so hiess hier die FDP früher – im Kantonsrat. Doch bei Petra Gössi deutet am Anfang noch nicht viel auf eine Politkarriere. Am Gymnasium Immensee (das auch Simonetta Sommaruga besuchte) färbt sie sich die Haare mit Henna, trägt Batikshirts und fährt ein Holländervelo, mit Gänse­blumen verziert. Mehr Revolution ist nicht, warum auch. Sie ist nicht aufmüpfig, nicht antiautoritär, nicht schwierig. «Mir war einfach wichtig, die eigenen Entscheidungen zu treffen. Selbstbestimmt zu sein», sagt sie. «Dass ich aufs Gymnasium wollte und später an die Universität, das habe ich meinen Eltern jeweils mitgeteilt.»

Bis zur Anwaltsprüfung läuft alles mit beinahe erschreckender Leichtigkeit. Doch dann: Blackout. Sie fällt durch. Ein «Schock» und ein «Wendepunkt» sei das gewesen, hat sie schon mehrmals erzählt. Aus Trotz hilft sie danach ihrem damaligen Freund, einem Koch, beim Aufbau eines Cateringservice, steht in der Küche, arbeitet hart. «Das wurde für mich prägend, weil man in der Küche unbedingt mit allen zusammenarbeiten können muss. Ich lernte wohl nie so gut, auf Leute zuzugehen, wie in dieser Zeit», erzählte sie einmal der «Republik».

2003 sind eidgenössische Wahlen – und die gehen für die FDP im Kanton Schwyz nicht gut aus. Steter Niedergang, wie überall im Land. Die Freisinnigen verlieren fast vier Prozent Wähleranteile und ihren Schwyzer Nationalratssitz. Nach den Wahlen wird die kantonale Partei neu aufgestellt – und Gössis Zeit in der Politik beginnt. Sie erhält einen Brief von «Wisel» Christen, der sich bis heute brüstet, ihr die Idee eingepflanzt zu haben, für den Kantonsrat zu kandidieren. Gleichzeitig wird sie von einem ehemaligen Studienkollegen gefragt, ob sie nicht auf die FDP-Liste möchte. Sie macht mit, weil man mitmacht. Gemeinsam mit Silvia Bähler aus Merlischachen, einer Bisherigen, macht Gössi Wahlkampf mit Big Data. Die beiden schreiben alle 18- bis 35-jährigen Frauen in ihrem Wahlbezirk an, die Adressen haben sie von der Gemeinde (damals ging das noch). Frauen wählen Frauen. Sie wählen auch Gössi.

«Ich hab ihr gesagt: Du wurdest nur wegen deinem Vater gewählt!» Christens Spruch begleitet Gössi bis heute und ist längst zur beliebten Anekdote geworden. «Man muss den Satz richtig begreifen», sagt Christen in seinem Wohnzimmer mit Blick auf den Vierwaldstättersee. «Der Gössi Toni ist der liebste Mensch. Er kann es mit allen, er lacht viel. Petra hat sein Blut. Sie ist eine goldige.»

«Nie in meiner Karriere, weder während des Studiums noch im Kantonsrat oder bei meiner Arbeit, war mein Geschlecht ein Thema. Nur die Leistung zählte. Seit ich Parteipräsidentin bin, ist das anders. Ich hätte das nie gedacht: Aber es spielt tatsächlich eine Rolle, dass ich eine Frau bin.»

Als die «goldige Petra» später – schon als FDP-Präsidentin – in einem Interview mit der Lokalzeitung erwähnt, dass sie ab und an einen Chauffeur brauche, melden sich mehrere Pensionäre aus dem Kanton. Auch Christen. Es war die Zeit kurz nach dem Unfall des FDP-Präsidenten Phi­lipp Müller. «Seine» Petra in der Nacht auf dem Weg nach Genf, Bern oder Zürich, allein und müde? Eine Horrorvorstellung. Und so kommt es, dass die Präsidentin der FDP Schweiz einen 71-jährigen Unternehmer und Alt-Regierungsrat zum Chauffeur hat.

Gössi braucht einen Moment, bis sie sich in der Politik zurechtfindet. Aber dann geht es schnell. Sie ist schlau, begreift rasch, kennt die richtigen Leute. 2007 kandidiert sie für den Nationalrat, bearbeitet und überzeugt von Kantonalpräsident Vincenzo Pedrazzini und dessen Vize Martin Wipfli. Mit Wipfli ist sie im Wahlherbst 2007 oft unterwegs, klebt Plakate, besucht Podien. «Es hat damals nicht gereicht. Aber ich merkte: Doch, das will ich. Das macht Spass.» Wipfli ist von ihr beeindruckt und bietet Gössi einen Job in seiner Beratungsfirma, der Baryon AG, in Zürich an. General-Guisan-Quai, beste Lage. Auch dort: Blick auf den See.

Verantwortung übernehmen. Im Beruf, in der Politik. Gössi wird Fraktionspräsidentin im Schwyzer Kantonsrat und 2011, im zweiten Anlauf, Nationalrätin, dann Präsidentin der kantonalen Partei. Eine «coole Truppe» sei man gewesen, sagt Sibylle Ochsner, die mit Gössi im kantonalen Parlament sass. Gössi habe immer sehr kollegial geführt, konnte zuhören, war einfach auch nett. «Es war immer klar, dass sie obenaus sticht», sagt Franz Bissig, ein anderer Fraktionskollege von damals. «Und natürlich habt ihr Journalisten sie als Präsidentin unterschätzt. So wie ihr den Kanton Schwyz immer unterschätzt, so wie ihr uns belächelt. Aber sie hat es euch gezeigt!»

Haifische

Petra Gössi erlebte zwei Einstiege in Bern. Einen sanften. Einen brutalen. Als sie 2011 zum ersten Mal im Bundeshaus auftauchte, nahm kaum jemand Notiz von ihr. Sie kam in die Finanzkommission, machte gewissenhaft ihre Arbeit und hatte – unter jenen wenigen Bundeshausjournalisten, die sich in der Finanzpolitik auskennen – den Ruf einer Hardlinerin vom rechten Rand der FDP. Verstärkt wurde dieser Ruf durch den einen Moment im nationalen Rampenlicht, den sie während der ersten vier Jahre hatte. Sie profilierte sich als harte Kritikerin des Finanzausgleichs, ihr waren die Beiträge aus Schwyz viel zu hoch, und darum forderte sie, das Geld auf ein Sperrkonto einzuzahlen – bis der Bund ihrem Kanton weniger abknöpfen würde.

Der Vorschlag war typisch für ihre ersten Jahre im Nationalrat. Sie wollte nicht den Fehler von Maya Lalive d’Epinay machen, der letzten freisinnigen Nationalrätin aus Schwyz, abgewählt 2003. Je länger Lalive d’Epinay in Bern Politik machte, desto weniger war sie im Kanton präsent – so nahmen es die Schwyzerinnen und Schwyzer wahr. Gössi machte das Gegenteil. Sie war ständig im Kanton unterwegs, machte kantonale Politik im Nationalrat. Schwyz, Schwyz, Schwyz. «Das musste ich tun. Sonst wäre der Sitz wieder weg gewesen.» Vor den Wahlen 2015 veröffentlichte die NZZ eine Prognose und schloss eine Niederlage Gössis nicht aus. Doch es erwischte nicht sie, sondern Andy Tschümperlin, den SP-Fraktionspräsidenten.

Petra Gössi beginnt noch einmal neu im Bundeshaus. Nach dem unerwarteten Sieg der FDP beschliesst Philipp Müller, dass seine Zeit als Präsident abgelaufen ist. Der Gipser geht im Moment des Triumphes. Mitte Dezember 2015 gibt er seinen Rücktritt bekannt. Erster Favorit für seine Nachfolge: Christian Wasserfallen. Jener Wasserfallen, mit dem Gössi später so heftig aneinandergeraten wird. Doch Franz Stein­egger, der die Partei zehn Jahre als Präsident geführt hat und Verwaltungsratspräsident der Firma am General-Guisan-Quai ist, bei der Gössi arbeitet, bringt sie ins Spiel. «Ich könnte mir nicht nur als Innerschweizer Petra Gössi gut vorstellen.» Auch Vincenzo Pedrazzini kann sich das gut vorstellen – er ist Präsident der freisinnigen Findungskommission für Phi­lipp Müllers Nachfolge.

Gössi ist die «Aussenseiterin» in diesem Rennen, und der Ton, der ihr bald entgegenschlagen wird, zeichnet sich bereits ab. In einem Interview wird sie gefragt: «Sie gelten als spröde, leise, zurückhaltend, langweilig – sind Sie das?»

Was viele damals nicht merken: Gössi ist keine Aussenseiterin mehr. Sie gibt als Erste offiziell ihre Kandidatur bekannt – und beendet so das Rennen, ehe es überhaupt begonnen hat. Christian Wasserfallen verkündet auf Facebook seinen Verzicht, er möchte lieber Regierungsrat in seinem Kanton werden als Parteipräsident der FDP. Gössi ist die einzige Kandidatin. Unmittelbar danach reist die künftige Präsidentin der FDP für ihre Firma in die USA, keine Statements für die Presse.

Es dauert lange, bis ihr die Medien im Bundeshaus diese Nichtverfügbarkeit verzeihen. Müller, der Gipser, die Saftwurzel, immer für ein druckbares Zitat gut (und oft auch für ein undruckbares), immer erreichbar, ein Freund der Medien. Dieser Müller soll durch eine blasse Frau aus dem Kanton Schwyz ersetzt werden? Nach seinem grossen Sieg bei den Wahlen?

Es folgen Kommentare wie jener des Kolumnisten Peter Rothenbühler, der Gössi eine Stilberatung empfiehlt, weil die Auswahl der passenden Kleider «gelinde gesagt nicht zu Ihren Kernkompetenzen» gehöre. Politiker und Journalisten übersetzen das Kürzel FDP mit «Frag den Philipp», weil sie glauben, Gössi plappere nur nach, was der Vorgänger ihr einflüstert. In Texten wird sie als «reserviert» und «unfassbar» beschrieben, als eine, die ständig lacht (auf eine irgendwie ungute Art). Als SP-Präsident Christian Levrat bei einer der ersten Sitzungen mit der neuen Präsidentin des Freisinns zusammentrifft, redet er zwar mit Petra Gössi. Aber er schaut dabei meistens Samuel Lanz an, den Generalsekretär. Gössi, die Unsichtbare. Gössi, die Frau.

Zurück in der Galerie des Alpes im Bundeshaus, dieses Mal trinkt Gössi Wasser, keinen Fruchtsaft. Sie sagt: «Nie in meiner Karriere, weder während des Studiums noch im Kantonsrat oder bei meiner Arbeit, war mein Geschlecht ein Thema. Nur die Leistung zählte. Seit ich Parteipräsidentin bin, ist das anders. Ich hätte das nie gedacht: Aber es spielt tatsächlich eine Rolle, dass ich eine Frau bin.»
Diese Erkenntnis verändert Gössi. Sie stammt aus einer Generation von Frauen, für die viele geschlechterpolitischen Errungenschaften selbst­verständlich waren. Denen es normal schien, dass die Leistung zählt und nicht das Geschlecht. Ist aber nicht überall so. Vor allem im Bundeshaus nicht. Die politische Einmittung von Gössi (etwa in gesellschaftspolitischen Fragen wie der Ehe für alle) hat natürlich mit ihrem Amt als Präsidentin zu tun. Aber eben auch damit, dass sie eine Frau ist. Die nationale Politik, das Bundeshaus (und die Bundeshaus­medien) sind noch immer so männlich dominiert wie wenig andere Gesellschaftsbereiche der Schweiz. Frauen müssen im Bundeshaus mehr leisten als ihre männlichen Kollegen. Frauen werden belächelt. Frauen müssen mehr dafür arbeiten, ernst genommen zu werden. Bei Petra Gössi dauert dieser Prozess noch immer an – drei Jahre nach ihrer Wahl zur FDP-Präsidentin.

Dass auch ihr Umfeld männlich dominiert ist, diese Ironie entgeht ihr nicht. Es waren fast immer Männer, die sie gefördert haben. Leute wie Alois Christen, Franz Steinegger oder ihr Arbeitgeber Martin Wipfli. Wird die Frontfrau also doch aus dem Hintergrund gecoacht, ja, dirigiert, wie man in Bundesbern gerne flüstert? Kaum. Sie ist die Chefin. Eine Chefin mit Gespür. Alois Christen etwa, der väter­liche Freund und Bauunternehmer, verlor vor etwas über einem Jahr den ältesten Sohn bei einem Unfall. Ein schwerer Verlust. Wer heute wem hilft mit den Chauffeurfahrten, wer auf wen aufpasst: Es ist nicht so deutlich.

Spielen

Unterschätzt zu werden: Das ist das grosse Problem von Gössi, und es ist ihr grosser Vorteil. Sie erlebt es jetzt wieder, im Frühjahr 2019, im Kampf mit der eigenen Fraktion. Die freisinnigen Hardliner im Bundeshaus versuchen alles, um den neuen Klimakurs zu sabotieren, die Partei zurück auf den rechten Weg zu bringen. Ende Mai will die Parteispitze die Auswertung der Mitgliederbefragung präsentieren und das daraus entstandene Positionspapier. Zwei Tage vor der Präsentation erhält der «Tages-Anzeiger» einen Entwurf des Papiers zugespielt. Ein Kompendium des Horrors für jeden Freisinnigen: Fahrverbote in den Innenstädten, ein Verbot von Elektroheizungen, längerfristige Subventionen für die energetische Gebäudesanierung. «Dieser bunte Strauss von Verboten wird der FDP bei den Wahlen schaden», sagt ein Mitglied der Bundeshausfraktion.

Gössi schäumt. Als die Umfrageergebnisse in einer Holzfabrik in Langenthal präsentiert werden (die Ergebnisse stützen grösstenteils den neuen Kurs), gibt die Präsidentin den Tarif durch. Sie wird im Kampf mit der eigenen Fraktion (und das ist es jetzt) nicht nachgeben. «Es ist destruktiv, feige und vor allem auch dumm, mit vorsätzlichen Leaks Schaden anrichten zu wollen», sagt sie zum Auftakt der Medienkonferenz. Sie sagt es hart und entschlossen.

Das geleakte Papier war nur ein Entwurf und wird noch entscheidend abgemildert. Doch diese Abschwächung bleibt eine Randnotiz. Als nach der Pressekonferenz der Reporter des Schweizer Fernsehens wiederholt nach dem Papier fragt, einmal, zweimal, dreimal, da verliert Gössi die Contenance. «Sie stellen immer die gleiche Frage!» Generalsekretär Lanz beobachtet die Szene und sagt: «Noch nie war Politik so anstrengend.»

Kurz vor der alles entscheidenden Delegiertenversammlung werden die neuen Wahlprognosen veröffentlicht. Sie sind negativ für die FDP, zum ersten Mal seit langer Zeit. Vorteil für Gössis Gegner. Das Momentum auf deren Seite. Christian Wasserfallen, der Intimfeind, darf in die Sendung «10vor10» von SRF: «Als Freisinniger muss man gegenüber allen Technologien offen sein.» Wasserfallen wirbt dafür, die Atomtechnologie ins Umweltpapier seiner Partei zu schreiben. Kampfansage.

Jetzt aber. Die zwei Tage sind um. Es ist Samstag, der 22. Juni 2019, die Delegiertenversammlung, Tag der Entscheidung. Gössi ist schon seit acht Uhr hier, zweieinhalb Stunden vor Sitzungsbeginn. Der Eingang des Hotels Spirgarten in Zürich-Altstetten wird von bewaffneten Sicherheitskräften bewacht. Ein Novum. Die Partei fürchtet sich vor illegalen Aktionen durch die Klimajugend. Dabei sitzen Gössis wahre Gegner drinnen im Saal. Fünfzig Anträge gibt es zum Klimapapier. Vor allem die Jungfreisinnigen wollen diesen Tag nutzen, um das Papier entscheidend abzuschwächen. Zurück zu den liberalen Wurzeln! #DankeGössi. Doch zuerst redet die Chefin – und holt zum Präventivschlag aus: «Sie haben jetzt die Möglichkeit, Ihre Individualpositionen einzubringen», sagt Gössi, «aber danach, meine sehr verehrten Damen und Herren, erwarte ich von allen, dass die Beschlüsse der Delegiertenversammlung akzeptiert und respektiert werden.»

Es dauert weitere eineinhalb Stunden, bis die Diskussion über das ominöse Papier eröffnet wird. Eineinhalb Stunden, in denen Petra Gössi und ihre Getreuen den Rahmen für die Debatte setzen. Deren Botschaft ist so deutlich, dass sie jeder hier drin begreift: Wir wollen das. Wir wollen das jetzt.

In Videobeiträgen erklären Freisinnige aus allen Landesteilen, was sie selbst im Alltag für den Umweltschutz machen. In einer Grundsatzrede wiederholt Petra Gössi ihr Mantra: «Eine liberale Umweltpolitik ist eine Chance für Gesellschaft und Wirtschaft.» Auf der Bühne begründen Firmenvertreter, warum die freisinnige Kehrtwende in Umweltfragen so bitter notwendig ist.

Dann endlich beginnt die Behandlung der Anträge. Und schon nach wenigen Minuten, als das CO2-Emis­sionsziel entscheidend verschärft wird, ist klar: Es wird ein Triumph für Gössi. «Das freut mich schon sehr, wie das heute läuft», sagt sie in der Mittagspause im Vorbeigehen. Sie gestattet sich ein Lächeln. Seit ihrer Präventivschlag-Rede vom späten Vormittag hat sie nichts mehr zu den Delegierten gesagt. Es war nicht nötig. Still und ernst sass sie vorne auf dem Podium und sah zu, wie alles seinen Gang nahm. Den von ihr gewünschten Gang.

Das Papier der Parteispitze ist am Ende des Tages grüner als am Anfang. Die FDP will jetzt offiziell eine Flugticketabgabe, eine Treibstoffabgabe auf Benzin und Diesel, eine CO2-Lenkungsabgabe und ein Bekenntnis zum Pariser Klimaabkommen (netto null CO2-Emissionen bis 2050). Die Delegierten aus den Kantonen drücken die Mitglieder der Fraktion und die anderen Kritiker an die Wand, als wäre es nichts.

Es ist eine spektakuläre Versammlung, zu vergleichen mit der Delegiertenversammlung von 1995 in Interlaken. Damals war es umgekehrt, damals überrumpelten die Delegierten die Parteispitze und schrieben der FDP den EU-Beitritt ins Programm. Es kostete die FDP die Wahlen. Wiederholt sich die Geschichte? Wie lange hält das an? Hallt das nach? Klar ist: Die Versammlung hat Konsequenzen. Inhaltliche, personelle. Alain Schwald, jungfreisinniger Kritiker des grünen Kurses, gibt in der Woche darauf seinen Rücktritt als Präsident der FDP Bezirk Affoltern bekannt. «Was ist das für eine Partei!», hatte er während der Delegiertenversammlung gerufen.

«Ich habe in den letzten Monaten in menschliche Abgründe geblickt.»

Christian Wasserfallen erlebt das Ende der Versammlung nicht mehr – er fährt zum Formel-E-Grand-Prix nach Bern. In der Woche darauf tritt er als FDP-Vizepräsident zurück. «Ich habe es gesehen», sagt er dem Portal nau.ch. Später wird Gössi sagen: «Ich habe ihm drei Möglichkeiten gegeben. Entweder du unterstützt unsere Position. Du schweigst. Oder du gehst. Sonst wird es schwierig als Vizepräsident.» Wasserfallen selber will im Nachhinein nicht mehr über seinen Entscheid und seine Beziehung zur Parteispitze reden. «Ich möchte davon absehen, hier aktiv zu werden», schreibt er auf Anfrage.

In den Medien wird die FDP-Präsidentin für die erfolgreiche Delegiertenversammlung gefeiert. «Petra und die Wölfe», titelt die NZZ. Im Text heisst es: «Die Basis trägt nicht nur den neuen, grüneren Klimakurs mit, sie setzt auch ein starkes Zeichen der Loyalität gegenüber ihrer Parteipräsidentin. Für sie ist Petra Gössi nicht Greta Gössi. Sie ist Petra Courage.»

Gössi liest nicht jeden Text über sich, sagt sie, diesen aber schon. Petra Courage. Hat ihr gefallen. Sie sitzt jetzt in ihrem kleinen blauen Audi und fährt von Tuggen nach Zürich. Sie war an einem Ausflug mit ihren alten Kollegen aus dem Kantonsrat und ist kaputt. Die Stimme krächzt schon wieder. Draussen ist es 36 Grad, drinnen sitzt Gössi im klimatisierten Auto, noch immer erkältet. Raubbau. Morgen muss sie an eine Delegiertenversammlung im Kanton Uri, gestern war sie bei den Rotariern, vorgestern … keine Ahnung mehr. Es ist etwas viel im Moment.

Das Gedreckele der vergangenen Tage und Wochen sei extrem gewesen, die Missgunst, das Gegeneinanderschaffen. Sie hat mehr Briefe bekommen als nach der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Unterstützende und weniger unterstützende. «Das war richtig hart. Ich habe in den letzten Monaten in menschliche Abgründe geblickt.»

Lust

«Politik ist nicht das Einzige in ihrem Leben. Darum konnte sie das mit dem Klima durchziehen. Wenn es nicht geklappt hätte, dann hätte sie gesagt: Dann wählt mich halt ab.» Vincenzo Pedrazzini sitzt auf einer Terrasse am Ende der Schweiz, Campo heisst das Dorf, acht Einwohner, zuhinterst im Maggiatal. Dreimal umsteigen von Locarno, die Busse werden dabei immer kürzer, die Kurven enger, die Fahrer waghalsiger.

Pedrazzini war lange Zeit Vizepräsident der Partei, unter Fulvio Pelli und Philipp Müller, zweimal leitete er einen nationalen Wahlkampf. Seit ein paar Jahren ist er weg vom Unterland. Er hat sein Patentanwaltsbüro an die ehemaligen Mitarbeiter verkauft und führt jetzt mit der Lebensgefährtin ein Hotel in Campo, seinem Bürgerort. Abgeschieden, dafür mit Gault-Millau-Küche und einer Auswahl von zweihundert Whiskys. Samuel Lanz, der Generalsekretär, ist regelmässig hier, Philipp Müller, die ehemalige Fraktionschefin Gabi Huber und andere Grössen des Freisinns.

Pedrazzini ist eine der meistunterschätzten Figuren der FDP. Er hat massgeblich dazu beigetragen, dass sich der Freisinn in der Zeit von Fulvio Pelli ­geeint hat (rechts der Mitte). Auch sind ihm die neuen Strukturen innerhalb der Partei zu verdanken. Ohne Pedrazzini hätten die kantonalen Präsidenten nicht jenes Gewicht, das sie heute haben – ein Korrektiv zur Fraktion, entscheidend für den parteiinternen Erfolg des Klimakurses. «Jetzt muss sich einfach die Fraktion noch daran halten. Ich wünschte mir dort schon etwas mehr Disziplin.»

Als er noch aktiv in der Partei war, erlebte er, wie die Katastrophe in Fukushima den Freisinn 2011 auf dem falschen Fuss erwischte. «Da waren wir nicht gut.» Umso besser mache es nun Petra Gössi. Pelli sei der Intellektuelle gewesen. Müller der Bauchmensch. Und Gössi die Ungebundene, Authentische. Sie nehme sich nicht so ernst wie die anderen, sie könne etwas wagen.

Auch Martin Wipfli, Gössis Chef bei der Beratungsfirma und ehemaliger Vize der FDP Schwyz, sagt: «Sie ist ehrlich. Sie ist immer, wie sie ist. In der Schweizer Politik ist das sehr untypisch.» Zudem könne sie zuhören und habe ein wahnsinnig gutes Gespür.

Ist es Gespür? Oder Opportunismus? Tiefe Überzeugung? Und wäre es schlimm, wenn jemand in der Politik aus praktischen Gründen etwas tut – und nicht aus ideologischen?

Es ist nicht einfach, fundierte Kritik zu Petra Gössi einzuholen. Kritik, die über das hinausgeht, was zu Beginn ihrer Präsidentschaft über sie geschrieben wurde, als sie als blass und langweilig galt. «Ihr Kurswechsel war mutig», sagt zum Beispiel Tiana Moser, die Fraktionschefin der Grünliberalen. «Aber meint sie das auch wirklich? Wirklich? Bis heute spüre ich bei Petra Gössi keine echten Überzeugungen.» Während der Legislatur habe die FDP zu allem Nein gesagt, was auch nur ansatzweise nach Umweltschutz roch, sagt Moser. «Auch nach vielen Gesprächen mit Freisinnigen bin ich nicht überzeugt, dass das ein tatsäch­licher Wandel ist. Bis jetzt ist es primär eine Strategie.» Ob diese verfängt? Moser weiss es nicht.

Die Sommerferien sind vorbei, und Petra Gössi sieht anders aus. Gesünder. Zwei Wochen war sie mit ihrem Freund in Italien, am Strand. «Die Frau, die mir über Mittag jeweils ein Panino verkauft hat, meinte am Schluss, es sei schön, dass ich doch noch etwas Farbe bekommen hätte. Ich sei so grau gewesen am Anfang!» Gössi lacht. Das macht sie jetzt wieder öfter. Sie hatte eben ein Treffen mit ihrer Werbeagentur im Zürcher Kreis 4. «Heimat» heisst die Agentur und macht sonst Werbung für Banken, Telekommunikationsunternehmen und Baumärkte.

Diesen Sommer für die FDP. Eben haben Gössi und Wahlleiter Lanz die Plakate abgesegnet, es geht um Heimat und Vorwärtskommen und Fortschritt. Fröhliche, glatt polierte Polit-PR. Auch der Generalsekretär sieht besser aus. Er ist mit seiner Frau zwei Wochen quer durch England gewandert und hat danach offenbar beschlossen, sich wieder zu rasieren.

Fast schon aufgekratzt ist die Stimmung auf der Fahrt mit dem Tram vom Kreis 4 ins Seefeld. «Die Themenkonjunktur ist immer noch nicht auf unserer Seite», sagt Gössi. Dass das Klima immer noch so wichtig ist – es hilft dem Original. Es hilft den Grünen und Grünliberalen – egal, wie umweltschützerisch sich der Freisinn gibt. «Doch wir haben es durchgerechnet, und es sieht nicht schlecht aus. Wenn wir unseren Wahlanteil halten können, dann ist das ein Erfolg.» Die SP überholen, wie es das offizielle Ziel der Partei ist? Davon redet Gössi nicht.

Später, beim Essen in der Blauen Ente, erzählt Gössi vom Anfang ihrer Präsidentschaft. Es sei hart gewesen. «Da bleibt dir nicht viel anderes übrig, als einfach weiterzuarbeiten.» Lanz erinnert sich an eine Strategiesitzung der neuen Parteileitung auf der Rigi. Erkenntnis Nummer 1: Petra als Absender stärken. «Das ist uns gelungen.»

In der Blauen Ente reden sie vom täglichen Wahnsinn der Schweizer Politik. Von Krisensitzungen am Sonntagmorgen, wenn in irgendeiner Sonntagszeitung wieder irgendetwas steht. Dass Lanz sein Handy selbst in der Nacht auf laut stellt, erreichbar für definierte Kontakte. Dass Gössi normalerweise den Flugmodus reinmacht. Dass sie beide gerne mehr lesen würden (Gössi hat in den Ferien mit Joël Dickers zweitem Roman angefangen, um ihr Französisch zu verbessern), die tägliche Flut aber einfach zu gross sei. Politik in der Schweiz ist für die meisten Menschen etwas Schwerfälliges, stabil und auf gute Art langweilig. Für Gössi und Lanz ist es ein Hochgeschwindigkeitsjob.

Warum tut man sich das an? «Es war eine Türe, durch die ich gehen konnte», sagt Gössi. «Solche Möglichkeiten muss man ergreifen. Ich kann für meine Partei etwas bewirken.» Sie sagt zuerst «Verein», korrigiert sich dann, dabei wäre es genauso richtig gewesen. Vielleicht noch richtiger. Petra Gössi macht den Job als Parteipräsidentin, weil sie ihn kann. Das hat sie in den vergangenen drei Jahren be­wiesen. Sie macht ihn, weil sie einen Unterschied macht («Wenn die FDP ihre Politik ökologischer gestaltet, hat das einen Einfluss auf die gesamte bürgerliche Politik»), und sie macht ihn, weil er manchmal aufregend ist. «Didier Burkhalter hat uns nur zwei Stunden vor der Öffentlichkeit über seinen Rücktritt informiert, weisst du noch, Sämi?» Der Generalsekretär nickt, Gössi redet weiter. «Bämbämbäm machte es im Generalsekretariat. Wir haben uns nur noch angeschrien, aber am Schluss kam alles gut. Eine Bundesratswahl hautnah zu erleben, das ist ziemlich eindrücklich.» Schlachtengeschichten. Momente, die mit der Zeit ihren Schrecken verlieren und zu Anekdoten werden.

Happy End?

Es ist Herbst geworden, der Sommer 2019 war lange nicht so heiss wie der letzte, doch die Stimmung bleibt grün. Im Kaufleuten findet eine Diskussion zum Klimawandel statt, die Leute stehen Schlange. Auf dem Podium eine junge Aktivistin, ein Wissenschaftler, ein SVP-Nationalrat und Petra Gössi. Die Sympathien des Publikums sind eindeutig verteilt. Es gibt Applaus für den Wissenschaftler, heftigen Applaus für die Klimaaktivistin, Buhrufe für den SVP-Nationalrat. Gössi wird vom Pu­blikum in Ruhe gelassen. Sie sagt Sätze wie: «Jede Lösung muss ökonomisch, ökologisch und sozialverträglich sein. Sonst gibt es keine Mehr­heiten dafür.» Man dürfe nicht überschiessen, sonst komme es nicht gut. «Wir haben eine andere Aufgabe als die Aktivisten auf der Strasse. Wir müssen Lösungen bringen.»

Zurückhaltender Applaus.

«Das Publikum an solchen Veranstaltungen ist aufmerksamer geworden», erklärt Petra Gössi am Tag darauf an ihrem Arbeitsplatz in Zürich (der mit dem Blick auf den See). Kurz vor der Podiumsveranstaltung hat der Bundesrat beschlossen, die Schweiz bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Die Haltung der FDP ist jetzt auch die Position des Bundesrats. «Das hat mich extrem gefreut. Unsere Position ist massiv gestärkt worden.»

Läuft gar nicht so schlecht, dieses zweite halbe Jahr. Läuft sehr viel besser als die erste Hälfte. Ende August feiert die Partei in Aarau sich selber, Tag der FDP nennen sie es. Euphorische Musik, bunte Videoclips, Konfettikanonen, zwölfhundert Ballone, Gratiswürste, alles sehr amerikanisch. Nur das Bier müssen die Freisinnigen selber zahlen. Gössi hält die Abschluss­rede, so aufgeputscht, wie sie selten Reden hält. Sie hat sie geübt, das hilft, und das mit den Gefühlen macht sie bewusst. «Man muss den Leuten auch manchmal die Emotionen zwicken.» Sie macht es heute wie Müller. Inhalte sind nicht so entscheidend, heute geht es um die Atmosphäre, um das Miteinander. Wir werden gewinnen!

Tatsächlich sind die letzten Umfragen positiv, plötzlich wieder. Noch einen knappen Monat dauert es bis zu den Wahlen. Ob das hält? Ob es reicht? Minus 0,5 Prozent, plus 0,5 Prozent. Unschärfebereich.

Klar ist: Am 20. Oktober hört es nicht einfach auf. Ihre Fraktion, die sie in den vergangenen Monaten so gegen sich aufgebracht hat, wird auch nach den Wahlen zu grossen Teilen die gleiche sein. Frohes Wiedersehen. Im Winter wird das CO2-Gesetz erneut vom Nationalrat behandelt. Was werden dann Leute wie Christian Wasserfallen machen? Was geschieht, wenn der Gewerbeverband von FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler ein schärferes CO2-Gesetz per Referendum bekämpft? Was, wenn die SVP wieder stärker wird? Die Themenkonjunktur dreht? Wird die FDP dann von ihrem Kurswechsel eingeholt? Wie so oft in der Geschichte?

Wer weiss das heute schon. Manchmal macht man Dinge einfach, weil man sie machen kann.

Weil eine Türe offen steht.