Das Coronavirus ist für die ältere Bevölkerung besonders gefährlich. Von den 4065 bestätigten Fällen bei über 80-Jährigen in der Schweiz überlebte über ein Viertel die Krankheit Covid-19 nicht.
Die meisten starben in Alters- und Pflegeheimen, wo sich das Virus relativ einfach ausbreiten kann, da dort viele Menschen auf engem Raum zusammenleben. Die Pflegekräfte ziehen von Raum zu Raum und kommen in engen Kontakt mit den zu Betreuenden. Trotz aller Vorsichtsmassnahmen habe sich das Virus eingenistet, sagte Gabriela Bieri, Ärztliche Direktorin der Stadtzürcher Pflegezentren, Ende April. Und sie gestand: «Wir waren etwas hilflos.»
Im Kanton Zürich fielen bis heute von den 127 Todesfällen insgesamt 81 auf Bewohner in Altersresidenzen, das sind 64 Prozent. In Genf wurden in 23 der 54 Altersheime Corona-Infektionen entdeckt. 109 starben insgesamt, das sind 41 Prozent aller Covid-19-Todesfälle im Kanton. Allerdings ist in Genf die Heimversorgung vergleichsweise schlecht: Weil es zu wenig Plätze gibt, sind viele Betagte in den Spitälern gestorben. In der Waadt sind insgesamt 240 Personen in Altersheimen gestorben so viele wie in keinem anderen Kanton.
Schweizweit sind bis jetzt 927 Personen in Alters- und Pflegezentren an den Folgen von Covid-19 verschieden, das sind 53 Prozent aller Corona-Todesfälle, wie eine Anfrage bei den Kantonen ergab. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erfasst diese Fälle nicht zentral. Wir stützen unsere Zahlen auf Angaben aus 18 Kantonen, welche insgesamt 94 Prozent der Corona-Todesfälle in der Schweiz verzeichnen. Nur drei Kantone (Basel-Stadt, Wallis und Zürich) geben in den Statistiken auch an, wenn Bewohner von Altersresidenzen ins Spital verlegt wurden und dort verstarben. Die anderen begnügen sich mit dem Sterbeort als Datenerfassung. Darum dürfte die effektive Zahl der verstorbenen Altersheimbewohner noch höher liegen.
In einzelnen Kantonen spielten sich in Heimen regelrechte Tragödien ab: Die bisher zwölf Todesfälle im Glarnerland wegen der Corona-Pandemie konzentrieren sich weitgehend auf das Alterszentrum Bühli in Ennenda. Auch im Kanton Schwyz entfällt fast die Hälfte der Todesfälle, die mit dem Coronavirus in Verbindung stehen, auf ein einziges Altersheim. Im Zentrum Bon-Séjour in Versoix GE sind seit Beginn des Jahres 26 der 92 Bewohner gestorben - normal sterben im gleichen Zeitraum 5 oder 6 Personen. Nicht alle Toten wurden auf Corona getestet. Im Altersheim Haut-de-Cry in Vétroz VS sind mindestens 15 der 100 Bewohner am Coronavirus gestorben.
Was auffällt: Es gibt keine grossen Unterschiede zwischen der lateinischen Schweiz und der Deutschschweiz. Sowohl im Tessin, wie in Zürich und Bern als auch in der Waadt oder in Genf fällt ein grosser Teil der Sterbefälle auf Alterseinrichtungen.
In Schweden wurde der Schutz der Alten zu einer zentralen Säule des schwedischen Kurses erklärt. Statistiken zeigen aber, dass auch dort weit mehr als die Hälfte der Todesfälle in Alten- und Pflegeheimen gezählt wurden. Dieser Teil der Strategie war «katastrophal gescheitert», wie die Zeitung «Aftonbladet» schrieb. Schweden habe «die Alten geopfert», titelte der staatliche finnische Sender YLE. Schwedens Behördenvertreter gestehen mittlerweile in diesem Punkt ihr Scheitern ein. Die Regierung untersucht, was schiefgelaufen ist.
Auch in Grossbritannien, wo 40 Prozent aller Todesfälle in Alterszentren aufgetreten sind, wächst der Druck auf Premier Boris Johnson. Ein Streit über die Krise in den Alten- und Pflegeheimen ist entbrannt. In einem Rundfunkinterview räumte der Minister für Wohnungsbau und Kommunen, Robert Jenrick, ein, die Situation in Altenheimen sei «absolut grauenhaft». Jüngsten Studien zufolge könnten in britischen Pflegeeinrichtungen bisher bis zu 20’000 Menschen gestorben sein.
In der Schweiz allerdings, wo anteilsmässig ähnlich viele Menschen in Pflegeeinrichtungen gestorben sind wie in Schweden, scheint sich niemand wirklich zu empören. Bezeichnend dafür die Bilanz der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO): Generell verzeichnete die Organisation bis anhin generell nur «wenige Rückmeldungen» im Zusammenhang mit dem Coronavirus, wie Daniel Tapernoux, Mitglied der Geschäftsführung, sagt. Und davon betrafen nur «vereinzelte Anfragen eine Corona-Ansteckung in einer Institution».
Auch die Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz (VKS) sieht keinen Handlungsbedarf. Deren Präsident Rudolf Hauri, eine wichtige Figur in der Bekämpfung der Pandemie, sagt: «Es ist unangebracht, davon zu sprechen, dass ältere Personen in der Schweiz geopfert wurden. Sobald die Faktenlage klargemacht hatte, dass unter anderem ältere Personen besonders durch das neue Coronavirus gefährdet sind, haben Bund und Kantone ihre Kommunikation und ihre Massnahmen entsprechend ausgelegt.»
Es liege «in der Natur der Sache», dass es in Alters- und Pflegeheimen zu häufigen Todesfällen komme. «Zudem muss man beachten, dass nicht bei allen gemeldeten Covid-Todesfällen dieses Virus die alleinige oder tatsächliche Todesursache war. Viele der verstorbenen Personen in Pflegeheimen haben sich bereits unabhängig von dieser Erkrankung in kritischen oder terminalen Gesundheitszuständen befunden.»
Dass man die Todesfälle der Betagten hierzulande mehr oder weniger hinzunehmen scheint, ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass in den Heimen tatsächlich vieles nicht optimal gelaufen ist. Selbst bei Curaviva, dem nationalen Verband der Alters- und Pflegeheime der Schweiz, räumt man jetzt Fehler ein.
Ein Problem war das fehlende Schutzmaterial, wie die Medien bereits zu Beginn der Krise berichtet hatten. Mit zunehmender Dauer der Pandemie verschärfte sich der Engpass sogar noch. «Es gab Mängel in der Schutzmaterialversorgung», sagt Markus Leser, bei Curaviva Leiter des Fachbereichs Menschen im Alter. «Die Situation war in den Heimen grundsätzlich angespannt, in Einzelfällen sogar sehr schwierig.»
Dass dies nicht nur der Fehler der Heime ist, sondern auch ein strukturelles Problem, liegt auf der Hand: Die Heime stehen unter grossem wirtschaftlichem Druck, und die vorsorgliche Beschaffung von Schutzmaterial ist kostspielig.
Probleme bereitete den Heimen aber auch grundsätzlich die Neuartigkeit des Coronavirus. «Dessen Gefährlichkeit zeigte sich in der zweiwöchigen Inkubationszeit ohne oder nur mit leichten Symptomen», sagt Leser. So habe sich das Virus anfangs unbemerkt in den Heimen ausbreiten können - zuerst über Besucher und Bewohner sowie vor und nach dem Besuchsverbot auch über das Personal.
Die Folge: Die bestehenden Schutzkonzepte der Heime, ausgerichtet auf Krankheiten wie die Schweinegrippe und das Norovirus, versagten - und mussten in der Folge angepasst werden.
Und da stellt sich natürlich die Frage, wie die Heime für eine mögliche zweite Welle gerüstet sind.
Andreas Stuck ist Medizin-Professor und Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG). Er sagt: «Im Hinblick auf eine mögliche zweite Welle braucht es jetzt ein nationales Schutzkonzept, das für alle Heime gilt und klare Regeln vorgibt.» Ein solches Konzept müsse zum Beispiel vorschreiben, «wie man mit Neueintritten umgeht, wie Patienten isoliert werden und wer das Ganze überwacht». Stuck denkt auch an mögliche neue Rollen in den Heimen: Spezialisten etwa, «die sich um das Viren-Management kümmern». Und vielleicht, so sagt der oberste Geriater der Schweiz, müssten die Heime künftig auch Schutzmaterial für Besucher bereitstellen können.
Von einem nationalen Schutzkonzept ist man in der Schweiz derzeit allerdings weit entfernt. Der Bund schreibt bloss vor, dass die Heime überhaupt ein Schutzkonzept haben müssen - wie dieses ausgestaltet ist, kann von Kanton zu Kanton und sogar von Ort zu Ort unterschiedlich sein.
Der Heim-Verband Curaviva begrüsst den Status quo. Es gebe «keine Anzeichen» dafür, dass es mit der bestehenden Regelung Probleme gebe, sagt Leser von Curaviva. Die Heime seien daran, die neuen Schutzkonzepte umzusetzen, oder sie hätten dies schon gemacht.
Selbst minimale Vorgaben vom Bund lehnt Curaviva ab. Einem solchen Eingriff zustimmen würde der Verband laut Leser erst, «falls sich der aktuelle Ansatz als nicht zielführend erweisen sollte». Um dies zu beurteilen, sei es aber noch zu früh. Die Kantone müssten jedoch selbst in diesem Fall die Möglichkeit haben, «den regionalen Gegebenheiten Rechnung zu tragen». Hinzu kommt, dass der Bundesrat aus Sicht von Curaviva ausserhalb des Notrechts gar keine Möglichkeit hat, ein Schutzkonzept für Heime national verbindlich zu erklären.
Befürworten würde Curaviva indessen die Idee des Viren-Managements, wie Leser sagt. Allerdings sei dies gegenwärtig «illusorisch, da im Moment noch nicht einmal klar ist, ob und wie die Institutionen ihre Covid-19-bedingten Mehrkosten zurückerstattet erhalten».