Schweden | ||
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Fläche | 447'435 km² | |
Einwohner | 10,33 Mio. (2019) | |
Altersmedian | 41,1 Jahre (2020) |
Schweiz | ||
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Fläche | 41'285 km² | |
Einwohner | 8,60 Mio. (2019) | |
Altersmedian | 43,1 Jahre (2020) |
Irrfahrt oder Vorzeigebeispiel? Schwedens Sonderweg im Umgang mit der Covid-19-Pandemie polarisiert. Einerseits hat der Verzicht der Regierung auf Zwangsmassnahmen bei der Eindämmung von Sars-CoV-2 unmittelbare Auswirkungen auf den Verlauf der Pandemie: eine hohe Anzahl Todesfälle und eine weiterhin nicht sinkende Rate der Neuinfektionen. Anderseits wirft der sanfte Kurs Schwedens die Frage auf, ob die weniger radikalen Massnahmen Schwedens zu einer mittelfristig besseren wirtschaftlichen Entwicklung des Landes führen.
Durch den Weg der schrittweisen Lockerung des Lockdowns seit Ende April schwenkt die Schweiz zusehends auf einen Kurs ein, der dem schwedischen sehr ähnlich ist. So sieht es die Science Task Force des Bundes, die dem Vergleich der Schweiz mit Schweden einen Bericht widmete.
Schweden begeht in der Bekämpfung von Covid-19 einen Sonderweg: Statt auf staatliche Vorschriften setzt man auf Eigenverantwortung. Zwar rät die Regierung ihren Bürgern wie in anderen Ländern zu Social Distancing und zur Beachtung von Hygieneregeln – doch die Befolgung der Empfehlungen basiert weitgehend auf Freiwilligkeit.
Die grössten Unterschiede zum Schweizer Lockdown: Die obligatorischen Schulen in Schweden blieben die ganze Zeit geöffnet, und das öffentliche Leben wurde nicht durch Versammlungsverbote und die Schliessung von Läden, Cafés und Restaurants zum Erliegen gebracht.
Schweden | Schweiz (vor 11. Mai) | |
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Obligatorische Schulen | Geöffnet | Geschlossen |
Höhere Schulen | Online | Online |
Universitäten | Online | Online |
Läden (ausser Lebensmittel und Apotheken) | Geöffnet | Geschlossen |
Cafés, Bars, Restaurants | Geöffnet, es gelten Abstandsregeln | Geschlossen |
Büros | Geöffnet, Homeoffice empfohlen | Geöffnet, Homeoffice empfohlen |
Versammlungen | Maximal 50 Personen | Maximal 5 Personen |
Nachtclubs | Geöffnet | Geschlossen |
Museen | Geöffnet | Geschlossen |
Mit den beiden Lockerungsschritten am 27. April und am 11. Mai ist das öffentliche Leben in der Schweiz wieder erwacht: Die obligatorischen Schulen sind geöffnet; die Museen nehmen ihren Betrieb wieder auf; Restaurants dürfen wieder Gäste empfangen. Allerdings bestehen weiterhin wesentliche Unterschiede zu Schweden: Dort wurde das Nachtleben gar nie gestoppt, und öffentliche Versammlungen mit bis zu 50 Teilnehmern sind erlaubt. Zwar empfehlen die schwedischen Gesundheitsbehörden, man soll auf «nicht essenzielle» Reisen verzichten und den öffentlichen Verkehr zu Stosszeiten meiden – die generelle Devise «Bleiben Sie zu Hause!» gilt jedoch nicht.
Der «Government Response Stringency Index» der Universität Oxford misst, wie streng staatliche Eingriffe zur Eindämmung des Coronavirus sind. Er vergleicht systematisch Massnahmen in 17 verschiedenen Kategorien – wie etwa Reisebeschränkungen oder Contact-Tracing – und berechnet eine Punktzahl, die einen länderübergreifenden Vergleich ermöglicht. Die Schweizer Massnahmen seit dem 11. Mai liegen nur noch 24 Indexpunkte über den schwedischen.
Der nächste Schweizer Lockerungsschritt wird die Verhältnisse hierzulande noch stärker den schwedischen angleichen. Die Science Task Force hält dazu in ihrem Bericht fest: «Nach dem 8. Juni (wenn Schwimmbäder, Theater, Kinos, Schulen der Sekundarstufe II, Zoos, botanische Gärten sowie Bergbahnen wieder öffnen, und wenn Ansammlungen von mehr als fünf Personen wieder erlaubt sind) werden die schweizerischen und die schwedischen Massnahmen praktisch identisch sein.»
Beim Vergleich des Verlaufs der Covid-Epidemie in der Schweiz und in Schweden stechen zwei Umstände hervor: Schweden testet deutlich weniger und hat mehr Todesfälle. Die Schweiz hat bisher pro Kopf rund doppelt so viele Tests durchgeführt. In Schweden sind fast doppelt soviele Menschen an Covid-19 gestorben.
Stand 24. Mai | Schweden | Schweiz |
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Infektionen pro Mio. Einwohner | 3288 | 3553 |
Todesfälle pro Mio. Einwohner | 396 | 220 |
Anzahl Tests | 209’900 | 367’037 |
Tests pro Mio. Einwohner | 20’797 | 42’442 |
R-Wert (13. Mai 2020) | 0.98 | 0.73 |
Der schwedische Chef-Epidemiologe Anders Tegnell erklärte gegenüber BBC News: «Die Zahl der Todesfälle hat sich nicht gut entwickelt. Dies liegt zu einem kleinen Teil an unserer Strategie, ist aber hauptsächlich dadurch begründet, dass die Altersheime sich nicht gegen das Virus wehren konnten.» Etwa die Hälfte der Covid-Todesfälle in Schweden stamme aus Alters- und Pflegeheimen – in der Schweiz sind es mit rund 53% etwa gleich viele.
Der schwedische Sonderweg ist umstritten. Bei den Covid-Infektionen wird derzeit eine Verdoppelungszeit von 43 Tagen ausgewiesen, die Anzahl der Todesfälle pro Million Einwohner ist überdurchschnittlich – vor allem im Vergleich mit anderen skandinavischen Ländern. Annika Linde, die als Vorgängerin des Chef-Epidemiologen Anders Tegnell für die Bekämpfung der Schweinegrippe und von Sars zuständig war, hatte die schwedische Strategie ursprünglich unterstützt. Nun hat sie angesichts der vielen Todesfälle jedoch ihre Meinung geändert. «Wir sehen langsam, dass das schwedische Modell vielleicht nicht in jeder Hinsicht das schlauste war», sagte sie in der schwedischen Zeitung «Dagens Nyheter». «Es war ein klares Fehlurteil.» Ihrer Meinung nach hätte es rückblickend einen Lockdown gebraucht. «Ich denke, wir hätten mehr Zeit benötigt, um uns vorzubereiten. Wenn wir früher zugemacht hätten, hätten wir sicherstellen können, dass wir über die Mittel verfügen, die Schwachen zu schützen.»
Vom Vorwurf, die schwedische Strategie verfolge auf Kosten der Schwachen das Ziel der «Herdenimmunität», will Chef-Epidemiologe Anders Tegnell nichts wissen. Johan Carlson, der Generaldirektor der schwedischen Gesundheitsbehörde, hatte Mitte Mai gegenüber dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» erklärt: «Wir nähern uns [der Herdenimmunität] hoffentlich an, vielleicht im Juni.» Tegnell widerspricht auf dem Radiosender BBC: Diese Durchseuchung eines wesentlichen Teils der Bevölkerung entspreche nicht der schwedischen Strategie. Vielmehr treffe die Epidemie verschiedene Länder unterschiedlich, sodass jede Regierung ihre eigenen Entscheidungen fällen müsse – erst die Zukunft werde zeigen, welche davon richtig gewesen seien. Brisant: Bei lediglich 7,3 Prozent der Einwohner Stockholms wurden bis Ende April Antikörper auf das Coronavirus nachgewiesen. Das zeigt eine neue Studie der schwedischen Gesundheitsbehörde. Die geringe Durchseuchung weckt Zweifel an der Strategie Schwedens im Kampf gegen die Pandemie. Tegnell räumte ein, dass der Wert «ein bisschen niedriger liegt, als wir dachten». Allerdings spiegele die Zahl die Situation von vor drei Wochen wider. Er gehe davon aus, dass sich mittlerweile etwa 20 Prozent der Einwohner Stockholms mit dem Virus infiziert hätten, so Tegnell.
Die kurzfristigen wirtschaftlichen Aussichten nach der Krise sind für beide Länder trüb – mit oder ohne Lockdown. Gemäss Prognosen des schwedischen Konjunkturinstituts und des Staatssekretariats für Wirtschaft geht im Jahr 2020 in beiden Ländern das Bruttoinlandprodukt um rund sieben Prozent zurück – allerdings gefolgt von einer Erholung im Folgejahr.
Prognosen für 2020 | Schweden | Schweiz |
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Bruttoinlandprodukt | –7,0% | –6,7% |
Exportwachstum | –4% | –10,7% |
Arbeitslosenquote | 10,2% (+3,4) | 3,9% (+1,6) |
Schweden und die Schweiz sind stark vom Aussenhandel abhängig und reagieren empfindlich auf den Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt. Die Prognosen für die Exporte beider Länder rechnen auch hier mit einem starken Rückgang. Bei der Beschäftigung zeichnen die Prognosen für beide Länder ein ähnliches Bild – wenn auch jeweils mit einer anderen Ausgangslage: In Schweden soll die Arbeitslosenquote von 6,8 auf 10,2 Prozent steigen, in der Schweiz von 2,3 auf 3,9 Prozent. Allerdings gehen die Experten nicht davon aus, dass sich die Lage bereits 2021 entschärft. Sie rechnen mit einer weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Die Krise wird für alle Staaten teuer. Das Schweizer Parlament bewilligte im Rahmen der Sondersession von Anfang Mai Kredite in der Höhe von 57 Milliarden Franken für die Folgen der Coronakrise, darunter 40 Mrd. für Bürgschaften für KMUs und 11,3 Mrd. für Kurzarbeit und Erwerbsersatz. Auch Schweden hat ein umfassendes Hilfpaket für die Wirtschaft verabschiedet. Gemäss einer Studie des Wirtschaftsprofessors Ceyhun Elgin von der Columbia-Universität liegt das Hilfspaket der Schweiz im internationalen Vergleich mit 10,4 Prozent des BIP auf Platz 18, das schwedische mit 13,5 Prozent auf Platz 8.
Wie viel der Unterstützungsleistungen schliesslich als Staatsausgaben verbucht werden müssen, ist noch nicht klar. Der IWF sagt allerdings in seinem «Fiscal Minitor» vom April für 2020 einen deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung in beiden Ländern voraus.
Es ist es noch zu früh, um über Erfolg oder Misserfolg der staatlichen Covid-Strategien zu urteilen. Dennoch lässt sich festhalten, dass der Schweizer Lockdown offenbar eine Eindämmung des Coronavirus bewirkt hat, und dass die mittelfristigen Aussichten für die Wirtschaft sich hierzulande nicht wesentlich von Schweden unterscheiden – dem Land, das auf einen Lockdown verzichtete.