Im Juni 2020, wenige Tage nach dem Ende des Corona-Lockdown, sassen wir in der Lobby des Grand Resort Bad Ragaz, und die grösste Sportlerin, die die Schweiz je hatte, die lange so gut wie nichts mit den Medien zu tun haben wollte, schaute uns fragend an.
Es war nicht ganz einfach gewesen, mit Martina Hingis ins Gespräch zu kommen. Nach vielen Absagen über Jahre hinweg hatte sie schliesslich doch eingewilligt, mit uns zu reden. Aus einem Gespräch waren viele geworden, in denen sie uns nach und nach ihr Leben erzählte. Fast ein Jahr lang hatten wir uns immer wieder getroffen, als plötzlich die Rückfrage kam:
«Wieso macht ihr das eigentlich, wieso wollt ihr so viel Zeit mit mir verbringen?»
«Wieso machen Sie mit?», fragten wir zurück.
«Weil ich gemerkt habe, dass ich hier vielleicht einmal meine Sicht darstellen kann. Mich so zeigen kann, wie ich wirklich bin. Ich denke, die Chance ist da. Ich hoffe, es kommt auch so.»
Sie, die sonst ohne Punkt und Komma sprach, ständig scherzte und lachte, machte nun eine längere Pause.
«Ich möchte einfach, dass endlich mein wahres Ich gezeigt wird. Nicht die arrogante Zicke, die wieder mal kein Interview gegeben hat, sondern die Martina, die ich bin.»
Und dann folgte, was sie uns ab da immer wieder sagte, bis zum letzten Treffen kurz vor Erscheinen dieses Texts: «Meine Geschichte ist keine Opfergeschichte, sie ist eine Erfolgsgeschichte.»
Die Tennisspielerin Martina Hingis ist einer jener Menschen, von denen man denkt, dass man eigentlich alles über sie weiss. Selbst wer Tennis nicht von Squash unterscheiden kann, hat mitbekommen, dass sich in den 1990er-Jahren ein Teenager aus der Schweiz an die Weltspitze spielte und zur jüngsten Nummer 1 der Geschichte wurde. Ein technisch und taktisch aussergewöhnliches, vielleicht nie zuvor dagewesenes Tennistalent, das auf die Topspin-Maschinerie von Steffi Graf und Monica Seles mit Spielfreude und Raffinesse antwortete.
Bekannt ist zudem, dass sie etliche Grand-Slam-Titel gewann und jahrelang die Weltrangliste anführte. In Erinnerung blieb auch, dass es eine Kokainaffäre gab. Dass sich Hingis vom Tennis verabschiedete und wieder zurückkam. Dass sie nicht auf den Mund gefallen war. Dass sie eine strenge Mutter hatte, die sie trainierte und über sie wachte und die 1997 sagte: «Bei Patty (Schnyder) ist immer alles positiv, bei uns nicht. Martina ist immer die Ausländerin.»
Wenn man so will, ist damit alles gesagt.
Trotzdem hatten wir das Gefühl: Eigentlich ist überhaupt nichts gesagt. Von Roger Federer gibt es – schnell gezählt – zwölf Biografien, von Martina Hingis keine einzige. Nicht mal ein ausführliches Porträt. Nach ihrem Rücktritt 2017 erschienen sporadisch oft nichtssagende Interviews. Und irgendwann gar keine mehr. Sie hatte sich zurückgezogen, enttäuscht nicht von der Schweiz, aber von den immergleichen negativen Medienberichten über sie.
Über zwei Jahre haben wir uns Martina Hingis angenähert, haben recherchiert, gelesen und uns mit Weggefährtinnen und Gegnerinnen von Florida bis Taiwan unterhalten. Vor allem haben wir mit ihr selbst und schliesslich auch mit ihrer Mutter, Melanie Molitor, gesprochen, in Tennishallen und Restaurants, auf Spaziergängen, bei Hingis zu Hause und in ihrem Stall, wo sie uns ihre Pferde zeigte.
Eines der einzigen Bücher über Hingis, und zwar ein sehr gutes, stammt vom Westschweizer Schriftsteller Étienne Barilier, der sonst über Bach und Giacometti schrieb. Auch das Spiel der jungen Hingis betrachtete er literarisch, mit dem Auge des Bewunderers.
Bariliers Buch ist vergriffen, aber das Exemplar, das wir auftreiben konnten, war uns Hilfe und Inspiration. Barilier hatte seine Arbeit Ende 1996 fertiggestellt, also vor dem grossen Durchbruch von Hingis, was die Lektüre ein Vierteljahrhundert später nur noch eindrücklicher macht.
Unsere Geschichte beginnt auf einem Tennisplatz in Rožnov in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR), wo Martina Hingis im Alter von drei Jahren das erste Mal einen Tennisschläger in die Hand nahm. Sie war ein Wunderkind, wurde eine Legende ihres Sports, gefeiert überall auf der Welt – nur nicht so richtig hier in der Schweiz.
Das Land scheint Martina Hingis – anders als Roger Federer – nie so recht in sein Herz geschlossen zu haben. Es ist schwierig, dieses diffuse Gefühl zu benennen, aber es zeigte sich immer wieder: Obwohl ein internationaler Superstar, hatte Hingis nie grosse Schweizer Sponsoren, die NZZ nannte sie noch bei ihrem Rücktritt «die Unvollendete», der Psychologe Allan Guggenbühl ferndiagnostizierte eine «ungesunde» Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die «Schweizer Familie» stellte Prominenten die Frage: «Verdient Martina Hingis zu viel?», und eine der renommiertesten Journalistinnen des Landes, Margrit Sprecher, raunte genüsslich, die Mutter hätte den biologischen Vater nach den richtigen Genen und den Stiefvater nach den richtigen Papieren ausgewählt.
Als das Magazin «Facts» 1997 in einer repräsentativen Untersuchung die «grösste Schweizer Sportlerin aller Zeiten» ermittelte, setzte ein Drittel der Befragten Hingis auf Platz 1. Doch in der Beliebtheitsrangliste sah es anders aus. Da siegte die Läuferin Franziska Rochat-Moser vor dem Skifahrer Michael von Grünigen und der Läuferin Anita Weyermann. Martina Hingis folgte auf Platz 12.
Im gleichen Jahr grub «10 vor 10» einen Bauernlehrling aus, der in der Schule mal Sitznachbar von Hingis gewesen war. Die erste Frage an ihn: «Wie viel verdienst du?» (Antwort: «1300 Franken brutto.») Die «Story» des Journalisten: Martina vs. Martin, sie reich, er arm, sie abgehoben, er bodenständig. Und nach einem Turniersieg in Tokio fragte der «Tagesschau»-Reporter sie am Flughafen: «Verliert man nicht langsam den Boden unter den Füssen?» Und: «Was macht man mit dem vielen Geld?»
Martina Hingis entsprach offensichtlich nicht dem Bild, wie Frauen und besonders Einwanderinnen in der Schweiz sein sollten: Sie war zu aufmüpfig, zu selbstbewusst. Und zu erfolgreich.
«Ich habe dieses Bild von mir nie verstanden», sagt sie uns einmal. «Ich hatte nie ein Problem mit der Schweiz. Und ich glaube auch nicht, dass die Schweizer mit mir eines hatten. Im Gegenteil. Wenn mir heute Menschen im Bus sagen: ‹Wir sind aufgestanden mitten in der Nacht wegen Ihnen, haben Ihnen zugeschaut und uns mit Ihnen gefreut› – dann denke ich: Ich bin hier zu Hause, hier bin ich glücklich.»
Es ist heute schwer vorstellbar, aber als Hingis 1994 auf der Profitour debütierte, gab es keine einzige Schweizerin (und eigentlich auch keinen einzigen Schweizer), die auf der ganzen Welt bekannt war. Zu einer Zeit, als die Schweiz sehr auf sich fokussiert war – das EWR-Nein und die Entwicklung der SVP zur wählerstärksten Partei prägten die 1990er –, als die einzige im Ausland bekannte Schweizerin die Kinderbuchfigur Heidi war, als Pirmin Zurbriggen, Vreni Schneider und Stéphane Chapuisat mehr regionale Berühmtheiten als globale Stars waren, in diese Zeit fiel der Aufstieg von Martina Hingis.
Sie selbst stiess mit ihrem internationalen Erfolg auf Widerstand, für andere war sie eine Wegbereiterin. Für einen ganz besonders: Roger Federer. Die Schweiz ergötzte sich für die überwiegende Dauer seiner Karriere an der Tatsache, einen dermassen guten Tennisspieler in ihren Reihen zu haben. Egal wie reich er dabei wurde, wie wenig er überhaupt noch in der Schweiz auftrat, unabhängig davon, dass er eine südafrikanische Mutter hat.
Wir fragten ihn, ob er das auch so sehe. Er schrieb uns: «Martina war tatsächlich sehr wichtig für mich, weil vor ihr noch nie jemand aus der Schweiz einen Weltsport derart dominiert hatte. Sie war eine Inspiration und ein unglaubliches Vorbild. Sie motivierte mich und zeigte, was möglich ist. Es ist absolut unglaublich, was sie in so einem jungen Alter alles erreichte.»
Die erste Schweizerin, die man nicht nur in ganz Europa, sondern auch in Asien, Südamerika, Australien und den USA kannte, die beim legendären Talkmaster David Letterman ebenso lässig auftrat wie in japanischen Spielshows, die Millionen verdiente und um die Welt jettete – kurz: Der erste Schweizer Superstar war eine Teenagerin, eine Frau, eine Migrantin.
Melanie Molitor kam 1957 in Rožnov zur Welt, einer Kleinstadt im Gebiet Mähren im tschechischen Teil der damaligen Tschechoslowakischen Republik (ČSR). Ihre Mutter war Schulleiterin, ihr Vater Landschaftsarchitekt. Er stammte aus der rumänischen Walachei und war für Melanie Molitor eine prägende Figur: Im Zweiten Weltkrieg hatte er sich gegen die deutsche Besatzungsmacht aufgelehnt, dann widersetzte er sich dem kommunistischen Regime und wurde zu acht Jahren Arbeitslager in einer Uranmine verurteilt.
«Die Kommunisten wollten ihn brechen», sagt Melanie Molitor. «Das gelang ihnen nicht, aber sie schadeten ihm und unserer Familie.» Sie bewunderte ihren Vater für sein Rückgrat und seinen Mut und war ihm dankbar für seinen Glauben an sie.
Schon als Kind ahnte sie, dass sie als Tochter eines Dissidenten Schwierigkeiten haben würde. Später verstand sie, dass sie weggehen musste, wenn sie frei sein wollte. Ihre Chance sah sie im Sport. Nur dort, dachte sie, würde niemand fragen, welche politischen Ansichten ihr Vater vertrat.
«Für Schweizer Verhältnisse sind das natürlich Hügel, was wir in Rožnov hatten», sagt sie uns. «Aber für mich waren es Berge. Ich wurde Sportlerin, um über die Berge zu kommen.» Die Berge waren für Molitor eine Metapher für den Eisernen Vorhang.
Zum Tennis fand sie durch ihren älteren Bruder. Ihrer Mutter war es wichtig, was sie in der Schule leistete, weshalb sie nur ins Training durfte, wenn sie gute Noten hatte. Weil es keine Hallen gab, trainierte sie im Winter Langlauf und schaffte es fast ins Nationalteam. Doch Tennis gefiel ihr besser.
Mit zwanzig ging Molitor nach Košice, einer Stadt im slowakischen Teil der damaligen ČSSR, und nahm das Angebot an, für den dortigen Tennisklub bei den Vereinsmeisterschaften anzutreten. Der Entscheid stellte sich als Fehler heraus, aber nur aus sportlicher Sicht. Sie war unzufrieden mit den Trainingsmöglichkeiten und überfordert vom Niveau in der obersten Liga, doch sie lernte Karol Hingis kennen, einen Stammspieler des Tennisklubs VSŽ Košice, und gebar am 30. September 1980, drei Jahre nach ihrer Ankunft in Košice, eine Tochter.
Sie nannte ihre Tochter nach der damals besten Tennisspielerin der Welt, Martina Navrátilová. Aber nicht wegen ihrer sportlichen Ausnahmeleistungen, wie es später oft hiess, sondern weil Navrátilová fünf Jahre zuvor die ČSSR hinter sich gelassen und in den USA politisches Asyl beantragt hatte. Für Melanie Molitor war der Name Martina ein Symbol der Hoffnung und der Freiheit.
Drei Jahre blieb die junge Mutter in Košice, dann zog sie mit ihrer Tochter zurück nach Rožnov. Sie hatte in einer Fabrik gearbeitet und Kindergärtnerin gelernt, nun übernahm sie ein Café, das zehn Minuten zu Fuss von ihrer Wohnung entfernt lag und zu einer Tennisanlage gehörte.
1948 formulierte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) den Plan, «die kapitalistischen Länder auf dem Gebiet der Sportrekorde einzuholen und zu überholen». Man durchsuchte die kommunistischen Länder nach talentierten Jugendlichen, um sie in straff geführten Sportinternaten teilweise bis zur Erschöpfung zu trainieren. Unterstützt wurde der Drill durch hochmoderne Sportwissenschaft und – wie man heute weiss – systematisches Doping.
Die Massnahmen zeigten schnell Wirkung: Bei den Olympischen Sommerspielen 1952 in Helsinki belegte die Sowjetunion in der Medaillenwertung Rang 2. Vier Jahre später war sie bereits Erste, sowohl an den Winter- als auch den Sommerspielen.
Jedes kommunistische Land entwickelte seine Spezialdisziplinen: Ungarn war im Fechten, Ringen und Schwimmen spitze, Rumänien im Turnen. In der ČSR konzentrierte man sich auf Eishockey, Fussball und Turnen. Tennis galt als «Freizeitvergnügen des Klassenfeindes». Als Jaroslav Drobný 1954 Wimbledon gewann, erschien darüber in der tschechoslowakischen Presse kein Wort – er war 1949 aus der ČSR emigriert.
Das änderte sich, als Věra Suková 1962 in den Wimbledon-Final vorstiess und Jan Kodeš 1973 das Turnier sogar gewann. Allmählich erkannte die Partei die Signalwirkung der Tennisspielerinnen und Tennisspieler, die im Westen erfolgreich waren. Mit dem Slogan «Wer ist die neue Suková, wer der neue Kodeš?» versuchte man 1975 – im Jahr, als Martina Navrátilová in die USA floh – neue Talente aufzuspüren.
Zwei Ausnahmeerscheinungen wurden auf diesem Weg entdeckt: Hana Mandlíková und Ivan Lendl. Beide nahmen später ebenfalls andere Staatsbürgerschaften an, doch ihre Erfolge feierten sie für die ČSSR. Das beendete die Skepsis der Parteiführung gegenüber dem «Kapitalistensport». Tennis wurde zu einem Schwerpunkt des tschechoslowakischen Sports.
Als Melanie Molitor 1983 nach Rožnov zurückkehrte, war sie zwar zu einer grossartigen Sportlerin geworden, aber besonders weit über die Berge gekommen war sie nicht. Aus dem Land heraus schon gar nicht.
Ihr Traum, dass der Sport ihr die Freiheit schenken würde, wandelte sich zum Plan, ihrer Tochter diese Möglichkeit zu verschaffen. Martina Hingis sollte so gut werden, dass sie die Enge der ČSSR verlassen könnte.
Später in der Schweiz war das häufig ein Anlass für Missverständnisse. Viele sahen in Molitor eine gnadenlose Tennis-Mami, eine Art weibliche Nick Bollettieri, die ihre Tochter zu dem Erfolg zwang, den sie selbst nicht erreicht hatte, die Martina ihrer Kindheit beraubte und mit ihr Geld verdienen wollte. Doch um Ruhm oder Geld ging es ihr nie.
«Wenn ich heute sage, ein Traum sei in Erfüllung gegangen, meine ich nicht Martinas Erfolge», sagt sie uns. «Ich meine, dass ihre Erfolge es uns möglich machten, die Welt zu sehen.»
Und tatsächlich: Als Martina Hingis 1993 mit zwölf Jahren am French Open in Paris das Juniorinnenturnier gewann – als bis heute jüngste Spielerin der Geschichte –, bestand die Mutter darauf, dass die beiden nach dem Training und zwischen den Spielen die Notre-Dame, den Eiffelturm, die Sacré-Cœur besuchten.
«Sie wollte, dass wir rauskommen, etwas anderes sehen, nicht immer nur Tennis, Tennis, Tennis», erinnert sich Martina Hingis. «Mich hat das ziemlich genervt, aber heute denke ich: Bei anderen Tenniskindern geht viel verloren in der Juniorenzeit. Meine Mutter wollte mir neben dem Tennis auch die Welt zeigen.»
Der Weg dahin – das verstand Melanie Molitor früh – musste ein anderer als ihr eigener sein. Schon während ihrer Karriere hatte sie analysiert, warum es für sie nicht reichte im Vergleich zu Lendl, Mandlíková, Navrátilová: Die hatten das ganze Jahr über Tennis gespielt, jeden Tag fünf oder sechs Stunden, während sie im Winter langlaufen gegangen war. Ihr fehlten, so schloss sie, jedes Jahr mehrere Monate Training. Sie hatte zahllose Bälle weniger geschlagen als die anderen, und das hatte den Unterschied gemacht.
Im Alter von drei Jahren konnte Martina den Ball mit ihrer Mutter bereits fünfzehn Mal hin- und herspielen. Als sie vier war, erhöhte die Mutter des Trainingspensum auf zwanzig Minuten am Tag. Mit fünf stand Martina täglich vier bis fünf Stunden auf dem Platz.
Das sind ihre ersten Erinnerungen an den Tennisplatz: «Wir gingen immer mit dem Velo hin und verbrachten den ganzen Tag dort, jeden Tag, ob Ferien oder nicht, bis ich mit sieben in die Schule kam. Vierzig, fünfzig Kinder waren da, und auf fünf Sandplätzen fünf verrückte Eltern, die uns trainierten, darunter meine Mutter. Die Anlage befand sich in einem Park. Waren die Plätze voll, spielten wir etwas anderes: Verstecken, Fangen, Räuber und Polizei. Ich liebte es.»
Vielleicht ist an dieser Stelle noch einmal ein kurzer Rückblick in die Wirklichkeit des Kommunismus notwendig, um zu verstehen, was damals in Rožnov geschah: In der ČSSR waren praktisch alle berufstätig, auch die Frauen, aber der Beruf hatte nicht die gleiche Bedeutung wie im Westen. Arbeit war für die meisten nichts, mit dem sie brillieren konnten, denn ausserhalb der Partei gab es kaum Aufstiegsmöglichkeiten, kaum Karriereaussichten. Leistung im Beruf lohnte sich nicht.
Wer den Drang verspürte, etwas im Leben zu erreichen, verlegte seine Aufmerksamkeit häufig auf andere Dinge. Auf den Sport zum Beispiel. In der Schweiz ist es umgekehrt: Wer hier von Erfolg spricht, meint in der Regel beruflichen Erfolg. Wer hier Tennis spielt, macht das als Ausgleich zum Beruf, weil es gesund ist oder Spass macht. Und wer in der Jugend Sport macht, vielleicht sogar Spitzensport, erhofft sich davon nicht unbedingt ein besseres Leben, sondern leitet umgekehrt später Fähigkeiten wie Durchhaltewillen, Teamgeist oder Disziplin daraus ab, die auch im Beruf wichtig sind.
Für die Eltern, die sich auf der Tennisanlage in Rožnov verabredeten, war der Einsatz ein kleines Aufbegehren gegen das System. Und manche verbanden damit die Hoffnung, das System vielleicht sogar verlassen zu können. So wie Melanie Molitor.
Im Leben aller Eltern kommt wohl der Moment, in dem man sich fragt, was für einen Charakter das eigene Kind hat. Beim Spielen erhält man erste Hinweise. Manche Kinder mögen Wettkämpfe: «Wer ist zuerst beim Baum?» Andere – wie Martina Hingis – haben daran weniger Interesse.
Auf dem Platz war sie keine verbissene Arbeiterin, erzählt uns ihre Mutter, sondern ein verspieltes Kind. Sie mochte Ausdauertraining nicht, wollte den Bällen nicht hinterherlaufen, langweilte sich bei monotonen Übungen. Martina Hingis hatte keine Lust auf Training. Von allen Kindern auf dem Tennisplatz in Rožnov war sie das jüngste und kleinste. Aber auch das beste. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie gut Martina Hingis bereits als Sechsjährige war, hilft es, sich sein sechsjähriges Kind oder Enkelkind neben einem neunjährigen vorzustellen. Selbst wenn es richtig, richtig gut ist, ist das sechsjährige chancenlos. Egal in welchem Bereich. Weil es schwächer ist und langsamer. Auch im Kopf.
Das war auch die sechsjährige Martina Hingis. Doch sie kompensierte ihre Unterlegenheit mit etwas, das nur schwer zu fassen ist. Ihre Mutter erklärt es uns folgendermassen, in einem langen, immer intensiver werdenden Monolog an ihrem Esstisch in Schindellegi oberhalb des Zürichsees:
«Martinas Vater kam aus dem Ungarisch-Slawischen. Die slawischen Tennisspieler haben einen wahnsinnigen Schwung und viel Ballgefühl. Die Ungarn wiederum sind Schlitzohren. Meine Familie hingegen stammt von Hirten ab, die einst vom Balkan über die Karpaten in die Walachei gekommen waren. Wir sind ein sehr zähes Volk. Unsere grösste Stärke ist die Anpassungsfähigkeit. Die Tschechen sind immer gefallen. Gegen die Russen, die Polen, die Deutschen. Dreihundert Jahre unter Herrschaft der Habsburger, dann eine kurze Periode der Freiheit, dann kamen die Nationalsozialisten, dann die Kommunisten. Ich staune immer, dass die tschechische Sprache überlebt hat. Das ist diese Anpassungsfähigkeit: Man wird überrollt, aber lebt weiter, bleibt sich selbst. Wir wissen, was es heisst, mit wenig auszukommen. Wenn wir uns gut vorbereiten, schaffen wir es. Ich denke manchmal, dass wir den Schweizern ziemlich ähnlich sind, die in den Bergen überleben mussten. Ich bewundere diese Leute, die es sich in so kargen Landschaften einrichteten und dort überlebten. Und wenn man all das nun zusammennimmt, also das schwungvolle slawische Tennis, die ungarische Schlitzohrigkeit und die walachische Überlebenskunst, dieses akribische Vorbereiten auf jede Situation, damit du nie überrascht wirst, nicht von einem kalten Winter, aber auch nicht von einem unerwarteten Schlag – ja, dann ist es in der Summe das, was Martinas Spiel schon früh ausgezeichnet hat.»
An dieser Stelle setzt sie ab und mustert uns. Vergewissert sie sich, ob wir ihren ethnologischen Ausführungen folgen? Dann fährt Melanie Molitor fort: «Ich bin wirklich überzeugt: Vorher und nachher hat nie jemand so Tennis gespielt wie Martina. Sie war nicht die Stärkste, sie hat nicht am meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen, sie war nicht am längsten die Nummer 1. Aber sie konnte Tennis spielen. Und das war für mich wahnsinnig schön und auch wichtig. Zu sehen, dass sie Tennis wirklich spielt. Ich werde häufig gefragt, welcher Erfolg mir am meisten bedeutet. Ich sage dann immer: Ihr erstes Kinderturnier, als ich zum ersten Mal sah, dass sie Tennis wirklich spielt. Das war genauso wichtig wie ein grosses Turnier zu gewinnen. Wenn sie einen Grand-Slam-Titel gewann, aber nicht wirklich gespielt hatte, dann gefiel mir das nicht.»
Und Martina spielte nicht nur mit grosser Freude, sondern auch viel. Mit sechs Jahren blickte sie bereits auf die Erfahrung von achtzig Turniermatches zurück, sie war die beste tschechoslowakische Tennisspielerin bei den unter Neunjährigen.
Das war 1986, zwei Jahre vor dem Umzug in die Schweiz. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, das sie sich in Rožnov aneignete, aber auch ihre kindliche Freude auf dem Platz sollten in ihrer neuen Heimat verblüffend häufig missverstanden werden. Und ihr Leben bis heute prägen.
Am 4. September 1988 – an das Datum erinnern die zwei sich wie an ihre Geburtstage – überquerten Melanie Molitor und ihre acht Jahre alte Tochter die Grenze zur Schweiz. Für die Mutter war es die lang ersehnte Reise über die Berge in die Freiheit. Martina Hingis verband mit der Autofahrt ganz andere Gefühle: «Alles, was mir wichtig war, musste ich in Rožnov zurücklassen», sagt sie.
Sie waren unterwegs nach Grabs, Kanton St. Gallen, wo der Computervertreter Andreas Zogg wohnte, Molitors neuer Ehemann. Die beiden hatten sich auf einer seiner Geschäftsreisen kennen gelernt. Er war ehrenamtlich in einem Skiclub tätig und sprach über Skifahren so, wie sie über Tennis. Das passt, dachte sie.
«Wenn ich gewusst hätte, dass 1989 der Eiserne Vorhang fällt, wären wir nicht geflohen», sagt Melanie Molitor. «Aber nun waren wir da. Und weil ich erkannte, dass der Schweizer Sport – abgesehen vom Skifahren – im Mittelalter feststeckte, fing ich an zu kämpfen.»
Zwar gab es mehr als genug Tennisanlagen, doch die Hobbyspieler:innen wollten die Platzzeiten nicht für ein achtjähriges Mädchen freigeben.
Molitor: «Sagen wir es so, ich habe mich dann organisiert.»
Auch ihre Tochter organisierte sich. «Die ersten Nächte habe ich durchgeheult», sagt sie uns. «In Rožnov hatte ich Cousinen, Freundinnen, wir waren den ganzen Tag gemeinsam auf dem Tennisplatz. In Grabs war ich alleine. Ich fürchtete mich vor dem ersten Schultag. Ich konnte ja kein Wort Deutsch. Es war keine schöne Zeit. Aber sie hatte etwas Gutes: Sie schweisste Mama und mich zusammen.»
Die Schulleitung wollte sie zuerst zurückstufen, doch die Mutter beharrte darauf, dass man ihr eine Chance gibt, und so stieg Martina Hingis nach den Herbstferien in der zweiten Klasse ein. Sie reagierte wie viele Einwandererkinder: mit radikal schneller Anpassung. Sie lernte in Rekordzeit Schweizerdeutsch. Nach drei Monaten verstand sie praktisch alles, nach sechs Monaten erkannte man in ihrem Rheintaler Dialekt keinen Akzent mehr.
«Schon nach drei Wochen schrieb ich einen Sechser in Mathe», erzählt sie. «Da wusste ich: Ich bin angekommen. Ich bin eine von denen.»
Die Mutter tat sich schwerer. Sie sprach Deutsch, ihr Akzent verriet sie jedoch als Ausländerin. Aber auch sie besann sich ihrer mährischen Anpassungsfähigkeit und änderte den Nachnamen ihrer Tochter von Hingisová in das schweizerischere Hingis.
In dieser Zeit hatte die Tochter zwei Anker: ihre Mutter und das Tennis. Allerdings war die Schweiz nicht vorbereitet auf ein achtjähriges Wunderkind. An vielen Turnieren gab es für sie gar keine Kategorie, sie spielte gegen Jugendliche, auch mal gegen Hausfrauen.
«Die dachten: ‹Jööö, wie herzig, ein kleines Mädchen› und wollten mir den Ball sanft zuspielen», erinnert sich Hingis. «Doch sie merkten dann schnell, dass man dem Mädchen den Ball nicht sanft zuzuspielen braucht.»
Das herzige Mädchen mit dem unwirklichen Ballgefühl und dem humorlosen Return war aber nicht nur ein verspieltes Naturtalent. Martina Hingis trainierte. Viel. «Ich kann mich nicht erinnern, je ausgeschlafen zu haben», sagt sie. «Wir haben jeden Tag trainiert, jeden Tag. Als Kind denkst du schon mal: ‹Am Sonntagmorgen gibts doch diese Kindersendung im Fernsehen – könnte ich nicht vielleicht …?› Aber nicht für mich.»
Zugleich wusste Melanie Molitor, dass Tennis ein einseitiger Sport ist, also sorgte sie für Abwechslung. Sie gingen wandern, biken, skaten am Rhein und im Winter zum Skifahren nach Wildhaus. Bei diesen Ausflügen lernte die Mutter viel über die Unterschiede zwischen der ČSSR und der Schweiz: «Als ich die vielen Kinder sah, die an Schweizer Skiliften Schlange standen, sagte ich meinen Freunden in Rožnov: ‹Hört auf mit Skifahren, ihr habt sowieso keine Chance.›»
Martina Hingis hatte aus demselben Grund schon früh verinnerlicht, wie gut sie war: «Ich war in meinem Jahrgang mit Abstand die beste Tennisspielerin der Tschechoslowakei. Und von dort stammten einige der besten Tennisspielerinnen der Welt. Klar, dass ich dachte, ich könnte es auch an die Spitze schaffen. In der Schweiz denkt von einem Juniorenmeister im Skifahren auch niemand, er habe ein ungesundes Selbstvertrauen, wenn er davon spricht, Weltspitze werden zu wollen.»
Einmal sagen wir zu Martina Hingis: «Das ist eine etwas hypothetische Frage, aber wären Sie überhaupt Tennisspielerin geworden, wenn Sie in der Schweiz zur Welt gekommen wären?»
«Das ist überhaupt keine schwierige Frage», antwortet sie. «Ich wäre ganz bestimmt nicht Tennisspielerin geworden. Vielleicht Skifahrerin. Wohl eher Bankerin. Warum hätte ich auch Tennisspielerin werden sollen? Der Traum, die Welt zu sehen, lässt sich als Bankerin leichter umsetzen.»
Spielerisch fuhr sie in der Schweiz fort, wo sie in der ČSSR aufgehört hatte: Sie schlug als Achtjährige Zwölfjährige und gewann mit zehn erstmals gegen ihre Mutter. Sie spielten beide für den TC Grabs in der untersten Liga. Vom Niveau der Gegnerinnen gelegentlich unterfordert, verglichen sie, wer von ihnen ihr Spiel schneller gewann.
Dann war Martina Hingis alt genug für internationale Turniere.
Tarbes, ein Städtchen am Fuss der französischen Pyrenäen, ist für europäische Tennistalente, was Wimbledon für die Profis ist. Das Turnier «Les Petits As» gilt als Meilenstein auf dem Weg zum Tennisstar. Wer sich hier durchsetzt, weiss: Die Richtung stimmt.
Michael Chang, Rafael Nadal, Andy Murray, Anna Kurnikowa, Kim Clijsters, Justine Henin, Lindsay Davenport – sie alle gewannen das Turnier oder erreichten den Final. Die erste Spielerin, die in beiden Jahren siegte, in denen sie teilnehmen durfte: Martina Hingis.
Die Anfangszeit von Hingis hat die drei Jahre ältere Joana Czapalla miterlebt. Damals war sie, unter ihrem Mädchennamen Manta, eine der grossen Tennishoffnungen der Schweiz, heute führt sie eine Sandwich-Bar mit Filialen in Winterthur und im Glattzentrum. Wir erreichen sie nach mehreren erfolglosen Versuchen auf dem Bürotelefon.
«Wir sind immer zusammen gereist, ich mit meinem Vater, Martina mit ihrer Mutter», erzählt sie. «Meistens waren wir im Zug unterwegs, wir hatten Brot und Käse dabei. Geschlafen haben wir in einfachen Hotels. Uns hat das nicht gestört, wir wollten einfach Tennis spielen. Am meisten blieb mir Tarbes in Erinnerung, es hatte viel Publikum, alles war sehr professionell. Wir hatten das Gefühl, zu den Grossen zu gehören.»
In Tarbes zu gewinnen, garantiert allerdings nicht, dass man den Weg zu Ende gehen wird. Es siegten dort auch Spielerinnen, von denen man danach nie wieder etwas gehört hat: Nicole London etwa, Stephanie Mabry oder Heike Rusch.
«Es war klar, dass Martina viel besser ist als wir», erinnert sich Joana Czapalla. «Sie war eine Ausnahmeerscheinung, aber da steckte auch viel Arbeit dahinter. Die Leute sahen immer nur das Wunderkind. Aber das gibt es nicht. Es gibt keine Wunderkinder. Es gibt nur Talente, die sehr hart arbeiten.»
Wegen einer Knieverletzung musste Czapalla 1996 zurücktreten, während Hingis gerade ihre ersten Profiturniere gewann. Die Wege trennten sich, doch Czapalla fühlte sich Hingis auch aus der Distanz verbunden. «Was wir hatten, war speziell», sagt sie. «Wir hatten es gut, als wir zusammen unterwegs waren. Das war schön, denn normalerweise hast du keine Freundinnen im Profitennis.»
Aber auch Martina Hingis bedeutete es viel, in der Schweiz eine Spielerin zu finden, die ähnlich leidenschaftlich Tennis lebte. Sie spricht von der Zeit mit Joana Czapalla emotionaler als von Turniersiegen als Profi, erinnert sich an ein Gefühl von Unbeschwertheit und Sicherheit. Es waren erlebnisreiche Jahre. Zwei Mädchen entdeckten Europa. In Genua gewann Hingis mit elf ein Turnier, bei dem sonst Vierzehnjährige siegten, und erhielt als Prämie eine Vespa.
Tennis war im Jahr 1992, als Hingis zum zweiten Mal in Tarbes gewann, der finanziell lukrativste Sport für Frauen. Für einen Sieg am US Open gab es umgerechnet über eine halbe Million Franken. Die bestverdienende Schweizerin im Ski-Weltcup im gleichen Jahr war Vreni Schneider, sie verdiente über die ganze Saison ein Preisgeld von 79’000 Franken. Es war auch das Jahr, als Jennifer Capriati im Alter von sechzehn Jahren Steffi Graf an den Olympischen Spielen schlug und die achtzehn Jahre alte Monica Seles die Nummer 1 der Welt wurde.
Sponsoringfirmen und Vermarktungsagenturen suchten das nächste «Wunderkind». IMG, einer der weltweit grössten Sportvermarkter, kontaktierte Melanie Molitor ein erstes Mal 1990, um ihre Tochter unter Vertrag zu nehmen. Da war Martina Hingis zehn. Melanie Molitor lehnte ab.
Für sie war alles neu. Sie lernte dauernd dazu, behielt aber die Grundhaltung bei, die der Kommunismus sie gelehrt hatte: Immer misstrauisch bleiben. Lieber dreimal nein als einmal zu oft ja sagen.
So kam es, dass sie die Avancen von IMG zwei Jahre lang ausschlug, so wie sie in der ČSSR bereits Angebote eines Herstellers von Tennisschlägern abgelehnt hatte. Sie glaubte, ein Vertrag würde auf ihre Tochter zu viel Druck ausüben. Was, wenn die Karriere nicht hielt, was sie versprach? Muss sie dann das Geld zurückzahlen?
Auch der Schweizer Tennisverband offerierte Hilfe, Privatpersonen wollten Geld investieren. Aber häufig waren die Angebote an die Bedingung geknüpft, dass sich die Mutter als Trainerin zurückzog. Man traute ihr nicht zu, Hingis gross rauszubringen. Und zeigt nicht genau das exemplarisch, wie viel Misstrauen in der Schweiz allem Fremden entgegengebracht wird?
Wir sprechen mit Damir Skenderovic, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Sein Schwerpunkt ist historische Migrationsforschung. Wir wollen von ihm wissen, warum die Schweiz mit Martina Hingis und Melanie Molitor nie richtig warm wurde.
«Ich glaube, da muss man ein wenig ausholen», antwortet Skenderovic.
«Von 1945 bis 1989 waren die Menschen aus Osteuropa in der Schweiz willkommen. Sie kamen in drei Phasen: Jene aus Ungarn 1956, jene aus der ČSSR 1968, jene aus Polen und Jugoslawien in den 1980er-Jahren. Es waren teilweise politische Flüchtlinge, gut ausgebildete Leute, Bauarbeiter, Spitalangestellte. Sie waren tüchtig, lernten schnell Deutsch. Sie waren unauffällige und somit gerngesehene Ausländerinnen und Ausländer. Die Frage, ob jemand aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen flüchtet, stellte man damals nicht. Das änderte sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Jetzt kamen Personen, die nicht vor einem totalitären Regime flohen. Sie suchten in der Schweiz bessere Lebensbedingungen. Und ihnen begegnete man mit Skepsis.»
Hingis und Molitor kamen in einer Zwischenphase, nur ein Jahr vor dem Ende des Ostblocks. Sie waren durch die Spezialisierung der Tochter eigentlich Eliteimmigrantinnen, die man gern aufnahm. Wieso wurden die beiden trotzdem als anders und fremd wahrgenommen?
«In den Sozialwissenschaften», sagt Damir Skenderovic, «spricht man von Intersektionalität, wenn sich verschiedene, oft unterschiedlich ausgeprägte Diskriminierungsaspekte überschneiden. Jeder für sich genommen hat bereits Auswirkungen, aber sie verstärken sich gegenseitig und werden irgendwann zu einer schweren Belastung. Mir scheint, bei Hingis kamen drei solche Diskriminierungsebenen zusammen: Herkunft, Geschlecht, Fähigkeit.»
«Wenn Männer sich wehren, sind sie meinungsstark, wenn Frauen es tun, sind sie Zicken.»
Erstens: Herkunft. Hier geht es zunächst darum, wer überhaupt Schweizer:in sein darf und wer nicht. Doch mit der Einbürgerung und dem Beginn ihrer Tenniskarriere verschob sich bei Hingis das Herkunftsthema. Die Frage war nicht mehr, ob sie dazugehört. Die Frage war nun, ob sie die Schweiz gebührend repräsentiert. Ob die Art, wie sie in der Öffentlichkeit auftrat, dem entsprach, wie sich die Schweiz selbst sah. Skenderovic sagt: «Martina Hingis war selbstbewusst, trotzig und sehr erfolgreich. Das entsprach nicht unbedingt den Erwartungen, die man in der Schweiz an das Auftreten von jungen Menschen in der Öffentlichkeit hatte, und für dieses aufmüpfige Verhalten wurde sie in gewisser Weise bestraft.»
Zweitens: Geschlecht. Das Thema ist oft subtiler als die Herkunftsfrage, schwieriger zu benennen. Weder Martina Hingis noch ihre Mutter erzählen von direkten Anfeindungen, und doch lesen wir in Artikeln und Leserbriefen immer wieder abwertend von der «alleinerziehenden», «überehrgeizigen», «strengen» Mutter. Und als man Martina Hingis finanziell unterstützen wollte, allerdings unter der Bedingung, dass sie ohne ihre Mutter weitermacht: Traute man da der Mutter nicht, weil sie eine Frau ist?
«Viele Frauen, die aus dem Osten kamen, haben solche oder ähnliche Diskriminierungserfahrungen gemacht», sagt Skenderovic. «In Osteuropa hatten sie eine Ausbildung, viele waren an der Universität, die Rolle der Frau in der Gesellschaft war eine andere als hier, auch das Selbstverständnis. Und das prallt dann auf das Schweizer Frauenbild, das im Vergleich hinterherhinkt: Weniger berufstätige Mütter, weniger berufliche Chancen für Frauen.»
Martina Hingis wiederum erfuhr die infantilisierende und zugleich sexualisierende Bewertung, die praktisch alle weiblichen Sportstars kennen: «Tennissternchen», «Prinzessin», «Fräuleinwunder». Als sich dann aber herausstellte, dass sie nicht das brave Mädchen sein wollte, sondern auch mal ihre Meinung sagte, galt sie sofort als rüpelhaft, aufbrausend, frech. «Das ist ein klassischer diskriminierender Geschlechterstereotyp», sagt Skenderovic. «Wenn Männer sich wehren, sind sie meinungsstark, wenn Frauen es tun, sind sie Zicken.»
Drittens: Fähigkeit. Skenderovic spricht von einem Anti-Elitarismus in der Schweiz: «Man nahm Martina Hingis paradoxerweise übel, dass sie so gut war. Dass sie ihren Tenniserfolg zu Geld machte, dass sie zu der Elite der Sportmillionärinnen aufstieg und es auch noch zeigte.» Genüsslich beschrieben die Medien, dass sie ihr eigenes Pferd ritt und einen Porsche fuhr, wie sie sich zuerst in Trübbach, Kanton St. Gallen, ein Haus baute, dann eine Villa in Regensdorf, Kanton Zürich, bezog, die «mehr neureichen Prunk als architektonische Schlichtheit ausstrahlt».
Der Erfolg von Martina Hingis war geprägt von einer merkwürdigen Gleichzeitigkeit: Sie hatte hochdotierte Werbeverträge in Japan, den USA, Deutschland und Italien, galt als kompatibles, leicht zu vermarktendes Gesicht – erntete dafür in der Schweiz statt Bewunderung aber Verachtung. Überspitzt kann man sagen: Sie war ein globaler Star, aber ein lokaler Loser. Sie war jemand Ausserordentliches in einer Zeit, als man in der Schweiz lieber jemand Ordentliches gehabt hätte.
Skenderovic sagt: «Für Migrantinnen und Migranten waren die 1990er-Jahre in Bezug auf Anderssein und Dazugehörigkeit eine schwierige Zeit, besonders für Frauen. Es gab eine kollektive mentale Krise in der Schweiz: Die EWR-Abstimmung, die Diskussionen über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, das im Vergleich zu vielen Ländern relativ rückständige Familienbild, die Selbstverortung als provinzielles Land in einer globalisierten Welt. Und dann kommt plötzlich ein Global Player im wahrsten Sinn des Wortes und zeigt einen viel ambitionierteren Weg auf. Hätte es ohne Hingis einen Federer gegeben?»
Hingis fiel in der Schweiz die undankbare Scharnierfunktion zwischen dem Gestern und dem Morgen zu. Der Widerstand, den sie erlebte, war der Widerstand der 1990er-Jahre-Schweiz gegen den gesellschaftlichen Wandel, der auch vor diesem Land nicht haltmachte.
Das macht die Geschichte von Martina Hingis auch zu einer Geschichte der Schweiz und ihres Umgangs mit Spitzensport, mit Migration, mit Frauen.
Der Unterschied zwischen Tennis und Fussball ist der, dass man im Fussball Fehler machen darf. Natürlich entscheiden auch im Fussball manchmal Zentimeter, aber in der Regel kann man auch einen schlecht gespielten Pass irgendwie annehmen, eine verunglückte Flanke erreicht eventuell doch die Mitspielerin, ein Fehlpass im Aufbau führt nicht zwangsläufig zu einem Gegentor.
Im Tennis ist das anders. «Wenn Sie zumindest ein wenig Tennis gespielt haben, haben Sie wahrscheinlich eine Vorstellung davon, wie schwer es ist, es gut zu spielen, aber ich behaupte, dass Sie wirklich überhaupt keine Ahnung haben», schrieb David Foster Wallace, selbst ein verhinderter Tennisprofi, dessen schriftstellerisches Genie auch in der Beschreibung seines geliebten Sports Ausdruck fand. «Im Fernsehen kann man nicht wirklich erkennen, was echte Spitzenspieler leisten – wie hart sie den Ball tatsächlich schlagen und mit welcher Kontrolle und taktischen Fantasie und Kunstfertigkeit.»
Tennis verlange nicht nur absolute Körperkontrolle, Hand-Auge-Koordination, Schnelligkeit, Reaktionsvermögen, Kondition und Mut, sondern auch diesen merkwürdigen, widersprüchlichen Mix aus Vorsicht und Rücksichtslosigkeit. Manchmal muss man geduldig und abwartend spielen, manchmal draufgängerisch und aggressiv. Und das Spiel gehört jenen, die das richtige Mass dafür kennen. Nicht ohne Grund wird Tennis oft mit Schach verglichen. Man ist ähnlich einsam. Plant mehrere Züge im Voraus. Und ist an jedem Fehler, der einem unterläuft, selbst schuld.
Es zählt auch nur der Sieg. Wer im Final knapp verliert, wird nicht Zweite:r, Halbfinalist:innen belegen nicht die Plätze 3 und 4. Der Weg ist im Tennis nie das Ziel. Nur das Ziel ist das Ziel.
Vielleicht ist es durchaus bezeichnend, dass die erste historische Darstellung von Tennis ein Bild aus der Hölle ist: Ein Abt des Klosters Morimond im heutigen Fresnoy-en-Bassigny soll Ende des zwölften Jahrhunderts beobachtet haben, wie sich Dämonen eine Menschenseele wie einen Ball mit der flachen Hand zuspielten. Es waren Mönche, die verbotenerweise zwischen den Gebeten im Innenhof eines Klosters einem Ballspiel nachgingen und sich dabei zu Dämonen verwandelten. Der Abt beschrieb die Szene einem Freund, der sie wiederum dem Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach weitererzählte, der die Szene in seinem Werk «Dialogus miraculorum» festhielt.
Das frevelhafte Ballspiel hiess auf Französisch «Jeu de Paume» («Spiel mit der Handinnenfläche») und war eine Art Tennis ohne Netz und Schläger. Mit den Jahren fand es seinen Weg aus den Klöstern in die Höfe der Adligen. Statt mit der Hand spielte man den Ball nun mit einem Handschuh und bald mit einem Schläger, trennte das Feld durch ein Netz und begrenzte es mit Linien. Das Wort Racket, dies nur am Rande, stammt vom Arabischen «rakhat» und bedeutet ebenfalls Handinnenfläche.
Aber woher der Name des Spiels selbst – Tennis? Die Etymologie ist rätselhaft. Eine Erklärung könnte sein, dass man in Frankreich vor jedem Service «Tenez!» rief, Französisch für «Nimm das!», eine Art Warnung im Sinne von: «Hier kommt der Ball». Bis heute «warnen» wir unsere Gegner:innen, indem wir vor dem Aufschlag kurz den Spielstand übers Netz rufen (auch, um Diskussionen über den Spielstand vor dem Ballwechsel auszutragen, nicht danach).
Durch Lautverschiebung entstand im Italienischen «tenys» und schliesslich das englische «Tennis». Damals war es noch ein Teamsport, die mentale Brutalität aber muss der heutigen geähnelt haben, denn in einer mittelalterlichen Ballade von 1536 verglich der Mönch John Lydgate die Schlacht von Azincourt während des Hundertjährigen Kriegs mit einem Tennisspiel.
Überall an den europäischen Adelshöfen baute man in der Folge «Ballhäuser», in denen der Sport ausgeübt wurde. In einem solchen kam es in Paris am 20. Juni 1789 zum legendären Ballhausschwur, dem «Serment du Jeu de Paume», einem der entscheidenden Ereignisse der Französischen Revolution: Der dritte Stand – bestehend aus Bürgertum, Bauern und Handwerkern – schwor, «sich niemals zu trennen, bis der Staat eine Verfassung hat (…), und nur der Gewalt der Bajonette zu weichen». Wer sagt, Tennis sei mehr als ein Spiel, hat also nicht unrecht.
Der Sport entwickelte sich aber nicht nur in den Ballhäusern der Oberschicht, sondern auch auf öffentlichen Plätzen als «Strassentennis» und in Schuldnergefängnissen als «Racketsport», einer Art Vorläufer des heutigen Squash.
Das moderne Tennis entstand durch zwei sehr unterschiedliche, aber zeitliche nah beieinanderliegende Entwicklungen: 1830 erfand Edwin Budding den Rasenmäher. 1839 entdeckte Charles Goodyear die Vulkanisierung. Erst dadurch war es möglich, Bälle herzustellen, die unempfindlich gegenüber Feuchtigkeit und Schmutz waren und trotzdem gute Sprungeigenschaften hatten. Und dank des Rasenmähers konnte man das Spiel von den unebenen Sandböden auf den gleichmässig gestutzten Rasen verlegen.
Die meisten populären Sportarten im damaligen viktorianischen Grossbritannien waren rohe oder steife Angelegenheiten wie Rugby, Cricket und Fussball. Tennis hingegen war künstlerisch und subversiv. Beide Geschlechter spielten es, oft sogar zusammen. Ein Tennisspiel wurde nicht mit Kraft und Ausdauer gewonnen, man siegte durch Geschicklichkeit. Langsam entwickelten sich auch Regelwerke und Meisterschaften, und man begann, Ergebnisse und Rekorde festzuhalten – etwas, das im Mittelalter und in der Renaissance völlig unbedeutend gewesen war.
Ein Major namens Walter Clopton Wingfield brachte schliesslich eine bis heutige gültige Akribie in den Sport, er machte aus dem vogelfreien Spektakel ein geschlossenes System, dessen Regeln streng befolgt werden. Übertretungen werden nicht nur angezeigt, man ruft sie laut aus: «Out!»
Als Martina Hingis am 4. Oktober 1994 in Zürich auf der Profitour der Women’s Tennis Association (WTA) debütierte, war sie gerade vierzehn Jahre alt geworden. Ihre Gegnerin, eine um fünfzehn Jahre ältere Amerikanerin, hiess Patty Fendick und war die Nummer 45 der Weltrangliste. Nummer 45 klingt nach nichts, aber es bedeutet, dass auf der ganzen Welt nur vierundvierzig Frauen besser sind als du. Seit mehr als einem Jahr diskutierte die Tennisszene eine Frage besonders heftig: Welches Mindestalter sollte eine Spielerin haben, um zur Tour zugelassen zu werden?
Im Frühling 1993 hatte Hingis als jüngste Spielerin der Geschichte den Juniorinnenwettbewerb des Grand-Slam-Turniers in Paris gewonnen. Sie war zwölf, ihre Gegnerin achtzehn. Die französische Zeitung «Le Monde» schrieb: «Sie ist kleiner als die Mädchen, die ihr auf dem Tennisplatz die Bälle holen. Man könnte schwören, dass sie Schwierigkeiten hat, ihren Schläger hochzuheben. Aber sie spielt und gewinnt mit einer verblüffenden Hellsicht.»
Skeptisch über die schon zu ihrer Nachfolgerin stilisierten Schweizerin äusserte sich auch die sechsunddreissig Jahre alte Martina Navrátilová, die Namensgeberin von Hingis: «Meinem zwölfjährigen Kind würde ich das nicht zumuten. Das ist eine Erwachsenenwelt, und mit zwölf Jahren ist es verdammt schwierig, damit umzugehen. Es ist zu früh. Es ist zu viel Druck.»
Navrátilová war da längst eine Ikone, auf dem Platz ebenso wie daneben. In den frühen 1980er-Jahren hatte sie sich als einer der ersten Sportstars als homosexuell geoutet, zwischen 1978 und 1990 gewann sie im Einzel achtzehn Grand-Slam-Titel. Was sie sagte, wurde gehört.
Auf Navrátilovás Urteil angesprochen, erwiderte die zwölfjährige Martina Hingis: «Ich urteile nicht über sie, warum urteilt sie über mich? Ich denke nicht, dass sie zu alt zum Spielen ist. Warum denkt sie, ich sei zu jung?» So clever die Antwort scheinen mag, natürlich lag Navrátilová nicht völlig daneben: 1990 hatte Jennifer Capriati kurz vor ihrem vierzehnten Geburtstag eine Sondergenehmigung erhalten, um Profi zu werden. Die halbe Welt schaute ihr in den Jahren danach dabei zu, wie sie ihre Jugend im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit nachholte, beim Ladendiebstahl und Haschischbesitz erwischt wurde, mit Depressionen kämpfte und schliesslich ihre Karriere vorzeitig beendete.
Dass Hingis spielerisch mit den Profis mithalten konnte, war nicht die Frage. Die Frage war, ob ein Mädchen ihres Alters seelisch für die Anforderungen der Tour gerüstet war.
Nein, fand ihre Mutter damals, 1993. Ein Jahr später, sie war inzwischen dreizehn, wiederholte Hingis ihren Triumph in Paris und gewann den Grand-Slam-Titel der Juniorinnen in Wimbledon. Jetzt ist sie bereit, urteilte ihre Mutter.
Uns sagt sie: «Ich fand das ganze Theater völlig übertrieben. Martina war die beste Juniorin der Welt, warum sollte sie nicht gegen Erwachsene spielen können? Vielleicht würde sie verlieren, vielleicht würde sie gewinnen – das weiss man vorher nicht.»
Am 4. Oktober 1994 also betrat Martina Hingis den Court der Zürcher Saalsporthalle, um gegen Patty Fendick ihr erstes Profimatch zu spielen. Auf der Tribüne sassen tausende Neugierige, zudem Journalist:innen aus aller Welt. Die meisten dachten wohl, Hingis würde nun auf den Boden der Realität zurückgeholt. Wie die zwei Balljungen, etwas jünger als Hingis, die das Schweizer Fernsehen vor dem Spiel befragte: «Ich glaube, dass sie verliert. Es wird sicher ein schönes Match, aber sie hat wenig Chancen», sagte der eine. «Ich glaube auch, dass sie verliert. Sie ist sicher ein Talent für ihr Alter, aber das waren schon viele», sagte der andere.
Mit auffällig erhobenem Haupt schaute sich Hingis um, nachdem sie gemeinsam mit Fendick den Platz betreten hatte. Nicht arrogant, eher erwartungsfroh. Das Spiel aber begann wie von den meisten angenommen: Hingis verlor gleich ihren ersten Service. Sie wirkte fahrig und nervös. Doch langsam, beinahe unmerklich veränderte sich etwas.
Hingis schlug die Bälle nicht härter als Fendick, sie machte keine direkten Punkte und diktierte auch das Spiel nicht. Dazu fehlten ihren Schlägen die Kraft und die Präzision. Aber sie durchschaute Fendicks Pläne und verführte die viel erfahrenere Gegnerin zu Fehlern. Sie spielte noch nicht spektakulär, sie machte einfach im richtigen Moment den richtigen Schlag. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt sah man ihr Markenzeichen: Sie bewegte sich auf dem Platz mit der Grazie einer Tänzerin, und sie spielte mit der Gerissenheit einer Trickdiebin.
Hingis gewann in 66 Minuten 6:4, 6:3.
Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass ihr trotz ihrer Begabung nicht alles auf Anhieb gelang. Gleich ihr nächstes Spiel gegen Mary Pierce verlor sie. Und viele weitere auch. Es dauerte zwei Jahre, bis sie ihre ersten Turniere gewann, im Juli 1996 in Wimbledon im Doppel an der Seite Helena Sukovás – was sie zur jüngsten Grand-Slam-Siegerin der Geschichte machte – und im Oktober in Filderstadt dann im Einzel.
Den zwei Erfolgen war ein Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter vorausgegangen. Im März 1996 in Key Biscayne, Florida, hatte Hingis so gelangweilt und gleichgültig ihr Auftaktspiel gegen eine um 85 Weltranglistenplätze schlechter klassierte Gegnerin verloren, dass Melanie Molitor ihrer Tochter ein Ultimatum stellte: Tenniskarriere oder zurück in die Schule (die Hingis mit vierzehn verlassen hatte).
«Das war ein Wendepunkt», sagt Martina Hingis. «Wir waren nicht sehr zufrieden miteinander.»
Und Melanie Molitor sagt offen: «Wenn die Kinder klein sind, kann man sich als Mutter nicht vorstellen, dass mit der Pubertät einmal solche Probleme kommen. Wir stritten uns über Monate. Ich hatte einfach nicht kommen sehen, dass es Martina einmal viel wichtiger sein würde, ein selbstständiger Mensch statt eine gute Tennisspielerin zu sein. Davor war sie von mir beeinflusst gewesen, jetzt hatte sie eine Persönlichkeit, wollte nicht trainieren. Sie dachte, der Erfolg stelle sich auch so ein. Ich musste ihr klar machen, dass Tennis nie die wichtigste Sache für mich gewesen war. Ich sah Tennis bloss als Chance, dass sie ein gutes Leben hat. Ich sagte ihr, dass sie diese Chance nicht ergreifen müsse, dass ich sie immer lieben werde. Ich sagte: ‹Ich habe dich Tennis gelehrt, aber wenn du das nicht machen willst, hast du in der Schweiz viele andere Möglichkeiten. Dann spiele nicht.›»
Hingis sagte nicht viel – sie sagt nie viel in wichtigen Momenten –, aber sie verstand. Sie erhöhte ihr tägliches Trainingspensum von 1,5 auf 2,5 Stunden, fing mit Aerobic und Schattenboxen an.
Es folgten: Halbfinal am US Open, der Turniersieg in Filderstadt, Final in Zürich, Halbfinal in Chicago, Sieg in Oakland.
Und dann: Das unglaubliche Jahr 1997. Im Januar in Melbourne gewann Martina Hingis als jüngste Spielerin des zwanzigsten Jahrhunderts das Australian Open. Am 31. März rückte sie als jüngste Spielerin der Geschichte auf Platz 1 der Weltrangliste vor. Im Juli gewann sie Wimbledon, im September das US Open. Von den vier Grand-Slam-Turnieren gewann sie in jenem Jahr nur das French Open nicht. Dass sie im Final überraschend gegen Iva Majoli verlor, lag daran, sagt sie, dass «der Tank leer war».
1997 war auch das Jahr, in dem Martina Hingis siebzehn wurde. Zum Vergleich: Die derzeitige Weltranglistenerste Ashleigh Barty war dreiundzwanzig, als sie zum ersten Mal ein Grand-Slam-Turnier gewann.
Hingis war nun die beste Tennisspielerin der Welt. Doch die Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter gingen weiter. Vorübergehend entschied sich Hingis sogar, ohne ihre Mutter auf die Tour zu gehen.
«Ich denke, ich wollte ihr zeigen, dass ich es auch ohne sie kann», sagt sie uns über die Alleingänge in den Jahren 1998 und 2001. «Oder wollte ich es mir zeigen? Meine Mutter machte sicher keine Freudensprünge, aber sie liess es zu. Wir waren nie zerstritten. Und ich rief sie dann trotzdem nach jedem Match an, sagte: ‹Heeeey, ich habe gewonnen!› Und sie: ‹Ja, ja.› Sie schaute sich am Fernsehen natürlich alle Spiele an, freute sich für mich, aber dachte vermutlich, dass ich mit ihr in den Final vorgestossen wäre, nicht bloss in den Halbfinal. Ich merkte dann schnell, dass es für mich härter war, ohne sie unterwegs zu sein. Es fiel mir schwer, mich selbst zu pushen. Dafür brauchte ich sie.»
Nach einer Pause sagt sie: «Am Ende kommt man eben doch immer dorthin zurück, wo es am besten funktioniert. Mir wurde klar, dass meine Mutter der Mensch ist, auf den ich mich in meinem Leben am meisten verlassen kann.» Dass die Verbindung zwischen Martina Hingis und Melanie Molitor über all die Jahre so eng blieb, ist umso bemerkenswerter, wenn man weiss, wie viele Leute sich in den 1990er-Jahren den Mund über die Beziehung zerrissen.
Wer möchte, kann einen kleinen Test im persönlichen Umfeld machen: Fragen Sie Bekannte, was ihnen zur Mutter von Martina Hingis einfällt. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass eines der folgenden Wörter fällt: «Tennis-Mami», «unsympathisch», «verbissen». Befeuert durch unzählige Medienartikel, hat sich ein merkwürdiges Bild von Melanie Molitor im kollektiven Schweizer Bewusstsein eingenistet: das der unbarmherzigen Erzieherin, die ihrer willigen Tochter den eigenen verpassten Traum aufstülpt.
Als wir Melanie Molitor mit dem Vorwurf, sie habe ihre Tochter instrumentalisiert, konfrontieren, sagt sie: «Martina war immer frei. Das war mir wichtig. Ich wollte, dass sie frei ist, ich akzeptierte ihre Entscheidungen ohne Umschweife.»
Es verhielt sich also genau umgekehrt: Molitor wollte nicht Hingis nach ihren Vorstellungen formen, sie wollte, dass die Persönlichkeit der Tochter auch auf dem Platz zum Ausdruck kommt. «Wie du lebst, so spielst du», sagt sie uns. Was sie meint: Wenn wir die Frechheit und den Spielwitz von Martina Hingis auf dem Platz lieben, müssen wir auch ihre Unangepasstheit abseits des Platzes anerkennen. Es gibt das eine nicht ohne das andere.
Vielleicht ist das der Unterschied zu Andre Agassi oder Tracy Austin, die ebenfalls als Teenager Profis wurden, gezwungen von den Eltern, und die trotz aller Erfolge am Tennis litten wie an einer schweren Krankheit und die erleichtert waren, als es vorüber war: Martina Hingis ist noch heute nirgends lieber als auf dem Tennisplatz.
Das ist natürlich einer der plattesten Sätze, den man über Sport schreiben kann. Die Sache ist bloss: Er stimmt. Während unserer Recherche treffen wir Martina Hingis immer wieder auch an tennisnahen Orten: In Zug spielt sie Interclub mit drei alten Freundinnen, in Biel ist sie Coach des Schweizer Fedcup-Teams, in der Tennishalle von Melanie Molitor in Wollerau trainiert sie mit Schülerinnen ihrer Mutter. Mit dem Racket in der Hand wirkt sie befreit. Tennis war für sie vielleicht tatsächlich keine Belastung, sondern ein grosses Glück.
Und ist es immer noch. Wenn sie auf dem Platz steht, ist das keine wehmütige Erinnerung an früher, kein verzweifelter Versuch, an vergangene Triumphe anzuknüpfen. Sie ist wirklich einfach nur da. Schaut nicht zurück und nicht nach vorne, hat keine Erwartungen. Sie betritt den Platz und geniesst das Spiel.
1997, fünf Jahre nach ihrer Grundsatzkritik, sprach auch Martina Navrátilová anders, nachdenklicher über Martina Hingis. Einer Journalistin der «Sports Illustrated» sagte sie: «Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich versuchen, sie davon abzuhalten, so früh so viel zu spielen. Aber die Mutter ist sehr klug mit Martina umgegangen. Sie hat ihr ein Leben ermöglicht. Martina ist eine Tennistochter, aber sie ist in erster Linie eine Tochter.»
Tennis ist ein eigenwilliger Sport voller Mysterien und Widersprüchlichkeiten. Allein die Zählweise ist etwas vom Bizarrsten, das man im organisierten Sport finden kann. Sie geht so: Love (das steht für Null), 15, 30, 40, Punktgewinn. Die Punktevergabe orientiere sich, so sagen die einen, an den Viertelstunden einer Uhr. Aber warum dann 40 und nicht 45? Andere behaupten, sie sei abgeleitet von einer Frühform des Tennis, als man bei jedem Punkt 15 Fuss vorrückte. Aber 45 Fuss sei zu nah am Netz gewesen, also nur 40.
Noch rätselhafter ist die Entstehung von «Love» für Null. Eine Theorie verortet den Ursprung im sechzehnten Jahrhundert, als niederländische Protestant:innen während der Religionskriege nach England flohen und – mittellos, wie sie waren – nicht um Geld, nur um die Ehre spielen konnten («iets voor lof doen»). Eine andere Erklärung geht zurück auf den Umstand, dass die Null wie ein Ei, französisch «l’œuf», aussieht. In Grossbritannien machten sie daraus dann «Love».
Beide Theorien scheinen denkbar, aber was wirklich fasziniert: Durch die kryptische Zählweise und die Dreiteilung in Spiel, Satz, Sieg kann man mehr Punkte machen als die Gegnerin – und dennoch verlieren. Es ist das «Simpson-Paradoxon». Am besten verständlich wird es, wenn man sich das Ergebnis 0:6, 7:5, 7:5 ansieht. Hier hat die Unterlegene 16 Spiele gewonnen, die Siegerin nur 14.
Auch ist nicht jeder Punkt gleich wichtig. 5:5, 15:30, zweiter Aufschlag – das ist ein dramatischer Punkt. Der Punkt davor ist im Vergleich weniger bedeutend. Zugleich ist es falsch, das Tennis nur anhand von «Big Points» zu betrachten. Denn die wichtigen Punkte bauen auf den vorherigen auf.
Oft misst man grosse Champions daran, wie gut sie in den entscheidenden Momenten waren. Dabei geht vergessen, dass der entscheidende Moment auf vielen vorherigen aufbaute.
Am 5. Juni 1999 kam es in Paris zu einem langersehnten Duell: Die achtzehn Jahre alte Martina Hingis traf im Final des French Open auf die neunundzwanzig Jahre alte Steffi Graf. Die eine, Martina Hingis, wollte sich den einzigen Grand-Slam-Titel holen, der ihr noch fehlte. Die andere, Steffi Graf, war die grösste Tennisspielerin seit Martina Navrátilová und auf einer Art Abschiedstournee. Sie hatte einundzwanzig Grand-Slam-Titel gewonnen, aber von Verletzungen geplagt seit drei Jahren keinen Final mehr erreicht.
Dieses Spiel sollte die Beziehung zwischen Hingis und der Schweizer Öffentlichkeit auf einen neuen Tiefpunkt bringen, doch wir finden in unseren Gesprächen mit ihr lange nicht den Mut, das ihr gegenüber zu thematisieren.
(Es gehört zu den vielen Ungereimtheiten des menschlichen Daseins, dass man sich nicht traut, das Naheliegende, das Offensichtliche, das Dringende anzusprechen. Weder mit den eigenen Eltern noch mit der ehemaligen Nummer 1 der Weltrangliste. Die Erklärung dafür ist wohl banal: Wir wollen das Gegenüber nicht verletzen, fürchten einen Konflikt oder den Abbruch der Beziehung.)
An einem schönen Herbsttag, wir sitzen im Stübli eines ihrer Lieblingsrestaurants, beginnt Martina Hingis dann plötzlich selbst davon zu reden.
«Die Begegnung war über Monate aufgeheizt worden. Es hiess ja immer, ich wäre gar nicht die Nummer 1, wenn Steffi nicht verletzt wäre. Ich wusste, dass die Leute das dachten. Und wollte beweisen, dass sie falsch lagen. Ich hatte Steffi schon dreimal geschlagen, zweimal in Tokio, einmal in Rom, aber dieses Spiel wollte ich so fest gewinnen wie keines zuvor. Ich wollte sie unbedingt schlagen und den Titel holen.»
Dass Graf überhaupt in den Final vorgestossen war, mit qualvollen Siegen gegen Lindsay Davenport, die Nummer 2, und Monica Seles, die Nummer 3 der Welt, grenzte schon an ein Wunder. Und nun traf sie auch noch auf die Spielerin, die ihre Nachfolge angetreten hatte.
Es war ein Duell zweier sehr unterschiedlicher Generationen und Spielstile: Auf der einen Seite Graf, deren Spitzname «Fräulein Vorhand» sich auf ihren Hauptschlag bezog, der so vernichtend war, dass Gegnerinnen ihr mitunter ein ganzes Spiel lang nur auf die Rückhand spielten. Zudem verfügte sie über eine unglaubliche Beinarbeit und eine fehlerfreie Rückhand, die sie fast ausschliesslich als Slice spielte.
Auf der anderen Seite Martina Hingis, die Tennis spielte, als sei das Wort «Ballgefühl» allein für sie erfunden worden. Sie besass die Fähigkeit, Bälle, die andere nur mit grösster Anstrengung erreichen, scheinbar mühelos übers Netz zu spielen. Was anderen schwer fiel, fiel ihr leicht.
Diese beiden Antipoden des Sports trafen nun in Paris aufeinander. Hingis war die Favoritin, auch wenn sie Graf noch nie an einem Grand-Slam-Turnier geschlagen hatte.
Anfang 1997 hatte Martina Hingis im deutschen Fernsehen gesagt: «Die Steffi ist zu lange raus aus den Turnieren, sie wird es nicht mehr schaffen, oben mitzuspielen». Und: «Die Zeiten haben sich geändert. Nur die Deutschen können das anscheinend nicht akzeptieren.» Es klang grossmaulig, war aber vermutlich bloss ehrlich. Hingis hatte wirklich das Gefühl, sie sei besser und die Zeit von Graf vorbei.
Es gibt zwei Lesarten des Spiels: Die eine kann man in dem Statement von Graf zusammenfassen, die das Spiel im Nachhinein als «den schönsten Moment meiner Karriere» beschrieb. Die andere in den Worten von Martina Hingis, die mit tränenerstickter Stimme auf Französisch zum Publikum sagte: «Ich komme nächstes Jahr wieder, und vielleicht seid ihr ja dann auf meiner Seite.»
Was war geschehen? Das Tournoi de Roland-Garros, so der offizielle Name, bietet im Vergleich zu Wimbledon eine lebendige, farbenfrohe, laute Kulisse. Das Publikum ist den peniblen Regeln des Sports gegenüber recht gleichgültig. Es gibt Zwischenrufe, Anfeuerungen, aber auch Buhrufe; das «Silence, s’il vous plait!» der Schiedsrichter:innen wird gern ignoriert.
An diesem sonnigen Samstagnachmittag schien die Mehrheit der 16’000 Zuschauer:innen, die sich für den Final in den Court Philippe Chatrier drängten, eher von der Idee fasziniert, dass eine fünffache French-Open-Siegerin ein letztes Mal an ihrer alten Wirkungsstätte siegt, als dass ein Teenager die Hierarchie durcheinanderbringt.
Doch Hingis liess sich kaum beeindrucken. Schon im ersten Game wurde ihr Plan klar: Wie hunderte Spielerinnen vor ihr bespielte sie konsequent die Rückhandseite von Graf. Aber anders als bei hunderten Spielerinnen vor ihr, gelang es Graf nur selten, die Rückhand zu umlaufen. Zu genau, zu lang waren die Grundlinienschläge von Hingis, zu oft streute sie Stoppbälle oder Netzangriffe ein und variierte ihr Rückhandmantra mit einem Angriffsball auf Grafs Vorhand. Und sobald Graf einen zweiten Aufschlag brauchte, stand Hingis lauernd wie eine Schlange einen Meter im Feld.
Um es ganz kurz zu machen: Sie spielte wie ein Routinier, der um die eigenen Stärken weiss – und um die Schwächen der Gegnerin.
Den ersten Satz gewann sie erschreckend leicht. Im zweiten führte sie mit einem Break schnell 2:0. Das Publikum spürte, dass der Deutschen nicht mehr viel einfiel, und begann, sie mit «Steffi, Steffi»-Rufen anzufeuern. Im dritten Spiel gab die Linienrichterin einen Return von Hingis «out», eine Entscheidung, die Hingis anzweifelte, woraufhin die Schiedsrichterin von ihrem Stuhl herunterstieg, um den Abdruck zu überprüfen.
Die Schiedsrichterin bestätigte die Entscheidung. Und in diesem Moment, mit achtzehn Jahren, beging Hingis einen Fehler, an den sie bis heute, zweiundzwanzig Jahre später, immer wieder erinnert wird.
Statt das Urteil zu akzeptieren – es wäre dann 0:15 gestanden, Hingis hätte ihr Game noch immer problemlos gewinnen können –, statt sich also auf den nächsten Punkt zu konzentrieren, ging sie auf die Seite ihrer Gegnerin – ein absoluter Tabubruch im Tennis –, um den Ballabdruck selbst zu überprüfen. Die Schiedsrichterin aber blieb dabei: Der Ball war draussen. Hingis setzte sich auf ihren Stuhl wie ein trotziges Kind. Erst die Androhung der Disqualifikation brachten sie dazu, weiterzuspielen. Das Publikum war ausser sich, feierte aber nicht nur seine «Steffi», sondern stiess auch wüste Beleidigungen und Buhrufe gegen die Schweizerin aus.
Drei Dinge muss man an dieser Stelle festhalten.
Erstens: In der verlangsamten Wiederholung sieht man recht deutlich, dass der Ball von Hingis die Linie berührte, und man kann sich zumindest fragen, ob es nicht Steffi Graf war, die ein «Unsportsmanlike Conduct» beging, als sie nicht zugeben wollte, dass der Ball drin war. Sie war zwölf Jahre älter als Hingis, hatte solche Szenen x-fach erlebt. Warum hatte sie nicht die Grösse, die Entscheidung der Schiedsrichterin zu korrigieren? Sie wäre in diesem Moment zurecht zur Königin von Roland-Garros gekürt worden.
Zweitens: Das Intermezzo brachte Graf zurück ins Spiel. Hingis gelang zwar beim Stand von 4:4 erneut ein Break mit einer Longline-Rückhand, die für Graf so überraschend kam, dass sie nicht einmal den Versuch unternahm, den Ball zu erreichen. Aber die Deutsche entschied die Partie und den Satz für sich.
Und drittens: Hingis war achtzehn. Andere machen in dem Alter die Matura. Das ist sicher auch ein Moment grossen Drucks, aber niemand schaut dabei zu. Niemand buht dich aus, wenn du einen Fehler machst. Niemand hält die Kamera drauf, wenn dir Tränen der Verzweiflung in die Augen schiessen. Hingis war ganz allein, als sie zusammenbrach. Und 16’000 johlende Zuschauer:innen sahen zu. Tennis, lernt man in diesem Augenblick, ist die einsamste aller Sportarten. Im Boxen hat jeder seine Ecke, in der ihm der Trainer fast zärtlich Vaseline ins Gesicht streicht und Mut zuredet. Im Tennis darf die Trainerin von der Tribüne aus höchstens höflich klatschen.
Im letzten Satz verlor Hingis dann das Gefühl für den Ball, für die Situation, für sich selbst. Jeder Hobbysportler, jede Hobbyspielerin kennt das: Auf dem Platz wird man auf eine höchst unangenehme Weise an sich selbst erinnert. Man bekommt die schönsten, aber auch schlimmsten Seiten seiner selbst präsentiert.
Hingis haderte mit der Schiedsrichterin und dem Publikum, das sie nun feindselig ausbuhte. Sie war so frustriert, dass sie zum letzten Mittel der Gegenwehr griff: Grafs ersten Matchball wehrte sie mit einem unsportlichen Aufschlag von unten ab, was aber weniger Ausdruck von Arroganz war, als ein Einblick in ihre Verzweiflung. Als wolle sie das offensichtliche Ende irgendwie doch noch abwehren, servierte Hingis beim zweiten Matchball wieder von unten und begann direkt im Anschluss eine Diskussion mit der Schiedsrichterin, diesmal wegen der Pfiffe von der Tribüne. Graf stiess dazu und sagte die legendären Worte: «Are we gonna play tennis or are we talking a little bit? We play tennis? Okay.»
Hingis verlor das Spiel. Und die Fassung. Unter dem Jubel der Zuschauer:innen ging sie weinend vom Platz, ohne die Ehrung abzuwarten. «Wenn meine Mutter nicht da gewesen wäre, wäre ich nicht zurückgegangen», erzählt sie uns. «Ich dachte, die wollen mich umbringen.»
Melanie Molitor sagt: «Ich persönlich wäre auch nicht zurück. Nie würde ich in einer solchen Situation zurückkommen. Aber Martina ist nicht ich. Und ihre Position wäre wahnsinnig geschwächt worden, wenn sie nicht zurückgekommen wäre. Dass ich sie wieder hinausschickte, dass ich mit ihr zurück auf den Platz ging, war eine reine Kopfentscheidung von mir. Das Herz, die Gefühle sagten etwas ganz anderes. Ich habe das alles auch als sehr unfair erlebt.»
Nach schier endlosen Minuten erschien Martina Hingis Arm in Arm mit Melanie Molitor wieder auf dem Court. Lange klammerte sie sich an ihre Mutter, bitterlich weinend, bis sie sich schliesslich aufraffte, zur Preisverleihung schritt und Steffi Graf gratulierte. Dann richtete sie sich an das Publikum und sagte auf Französisch: «Ich komme nächstes Jahr wieder, und vielleicht seid ihr ja dann auf meiner Seite.»
Sie sollte nie mehr einen Grand-Slam-Titel im Einzel gewinnen.
In all den Jahren, die seit dem Paris-Final 1999 vergangen sind, wurde Hingis immer wieder auf diesen Moment angesprochen, nie war sie in der Lage, ihr Verhalten an diesem Nachmittag vollständig zu erklären.
«Man hat lange nicht verstanden, wie ich funktioniere», sagt sie uns. «Steffi war eine Arbeiterin. Eine Maschine. Ihr sah man die Anstrengung an. Mir nicht. Bei mir sah es so leicht aus. Nach wenig Aufwand.»
Und das passte der Schweiz nicht. Erfolg kann man sich nicht erspielen, man muss ihn sich erarbeiten. Wer etwas mit Leichtigkeit schafft, ist suspekt. Möglich, dass sich das mit Roger Federer ein wenig änderte. Seine Eleganz und Schwerelosigkeit auf dem Platz bewundern wir, mehr noch: Wir ahnen, dass auch Mühelosigkeit Kraft kostet, dass auch Leichtigkeit Übung braucht. Und grosse Anstrengung unsichtbar sein kann.
So bedeutend Martina Hingis für das Frauentennis war, so untypisch war ihr Spiel für die damalige Zeit. Denn parallel zu ihrem Aufstieg begann die Ära des «Power-Baseline-Tennis». So nennt man das bis heute dominierende Grundlinienspiel, das das stakkatoartige Serve-and-Volley der 1980er-Jahre verdrängte. Die Veränderung war massiv, und sie war eng verknüpft mit einer technischen Innovation: dem Aufkommen der Kunststoffschläger.
Vereinfacht gesagt, gibt es im Tennis zwei Schläge: Vorhand und Rückhand. Beide kann man auf zwei unterschiedliche Arten spielen. Topspin bedeutet, dass man den Ball mit einer Aufwärtsbewegung des Schlägers so streift, dass er einen Vorwärtsdrall bekommt. Dadurch wird die Flugbahn gekrümmt, und der Ball fliegt nach dem Aufprall hoch weg. Das drängt die Gegnerin aus dem Feld heraus.
Die zweite Schlagvariante ist der Slice. Der Ball wird mit einer Abwärtsbewegung des Schlägers «angeschnitten» und erhält einen Rückwärtsdrall. Beim Slice hat der Ball eine extrem flache und lange Flugbahn, und nach dem Aufprall springt er niedrig ab, was es für die Gegnerin schwierig macht, ihn zurückzuspielen.
Topspin und Slice wurde schon immer gespielt, aber mit dem Aufkommen der grösseren Kunststoffschläger wurde der Topspin schneller und gefährlicher. Die Topspin-Ära führte zu einer merkwürdigen Uniformiertheit – alle benutzten plötzlich den gleichen Schlag – und einer grossen äusseren Ähnlichkeit der Spielerinnen.
Die Williams-Schwestern standen sinnbildlich für diese neue Spielerinnengeneration, die die Tenniswelt mit raketenhaften Aufschlägen und extrem früh genommenen Returns aus den Angeln hob. Alles an ihnen war einschüchternd: ihre Grösse, ihr Körperbau, ihre Kraft, ihr Defensivspiel. Athletik, Muskelkraft und Ausdauer wurden wichtiger als Ballgefühl, Raffinesse und Ideenreichtum.
In gewisser Weise war Hingis die Antithese zu diesem Tennis. Mit ihren 1,70 Metern war sie schlicht zu klein, um körperlich mitzuhalten, weshalb sie früh verstand, dass sie Serena (1,75 Meter) oder Venus Williams (1,85 Meter) nie mit Kraft würde schlagen können, nur mit Spielwitz.
Die Schläge der Williams-Schwestern waren Geschosse. Die von Hingis waren im Vergleich von einer grossen Leichtigkeit. Ihnen fehlte die Wucht, sie zerschmetterten die Gegnerinnen nicht, sie drängten sich ihnen eher auf wie ein brillanter Einfall.
Im Final des US Open 1997 gelang es Martina Hingis noch, Venus Williams auszuspielen, sie kontrollierte die hochgelobte Debütantin mit frechen Stoppbällen und herausragender Übersicht. Zwei Jahre später, im Herbst 1999, verlor sie gegen die Schwester Serena Williams. Diesmal siegte Athletik über Finesse.
Am deutlichsten lässt sich dieser Paradigmenwechsel am Aufschlag beobachten. Als eher kleine und leichte Spielerin hatte Hingis keinen harten Aufschlag, die Geschwindigkeit lag typischerweise bei etwa 150 km/h. Ganz anders Serena Williams, die im Schnitt mit 170 km/h aufschlägt, in der Spitze mit über 200 km/h. Der Service von Williams dient nicht der Vorbereitung eines Punktes, er ist der Punkt.
Der Aufschlag ist eine der technisch anspruchsvollsten Bewegungen im Sport überhaupt, in seiner Komplexität vergleichbar mit dem Drive beim Golf. Die Idee des Services ist es, die Gegnerin vor maximale Probleme zu stellen. Es geht eben gerade nicht darum, den Ball «zu servieren», also die Gegnerin zu bedienen. Es geht umgekehrt genau darum, wie der Westschweizer Etienne Barilier schrieb, «jemandem einen schlechten Dienst zu erweisen», also den Ball so im gegnerischen Feld zu platzieren, dass er nicht erreicht wird.
Der Service im Tennis eröffnet das Spiel und diktiert den weiteren Verlauf des Ballwechsels. Ein für die Gegnerin unerreichbarer Aufschlag resultiert direkt in einem Punkt, ein schwacher oder unplatzierter Aufschlag lädt zum Gegenangriff ein. Entsprechend neurotisch gehen die meisten Spieler:innen mit diesem einleitenden Moment des Spiels um. Ivan Lendl hatte Sägespäne in der Hosentasche, mit denen er den Schlägergriff abrieb, Novak Djokovic tippt den Ball enervierend oft auf, bevor er serviert, und Rafael Nadal … Nadal ist ein Kapitel für sich.
Martina Hingis war anders. Sie tippte den Ball zweimal, manchmal dreimal, blickte kurz auf und servierte. Keine überflüssigen Bewegungen, keine Rituale. Kein endloses Rudern mit dem Schläger, kein Scharren mit den Füssen, kein Zupfen am Trikot. Sie servierte einfach den Ball. Fast schien es, als hätte sie es eilig.
Als sich Martina Hingis Anfang 2003 zum ersten Mal vom Tennis zurückzog, war sie erst zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte zunehmend Mühe mit dem Powertennis der Williams-Schwestern, von Lindsay Davenport und der wiedererstarkten Jennifer Capriati, doch vor allem zahlte sie nun Tribut für ihr frühes Debüt auf der Tour. Acht Jahre lang, seit sie vierzehn war, hatte sie auf Topniveau gespielt. Häufig bestritt sie über zwanzig Turniere pro Jahr und musste wegen ihrer körperlichen Unterlegenheit oft kämpfen. Auch schlug sie eher selten Asse, musste also jeden Punkt ausspielen, was eine immense Kraftanstrengung bedeutete. Ihre Spielweise resultierte in chronischen Entzündungen im linken Fuss, Bänderrissen, Operationen.
Es waren vor allem die Niederlagen gegen drei Russinnen im Jahr 2002, die sie im Entschluss bestärkten, aufzuhören. «Die waren schon gut, und im Jahr darauf sind sie richtig explodiert», erzählt sie uns. «Aber damals dachte ich: Gegen solche Gegnerinnen darfst du nicht verlieren.»
Und da war noch etwas: «Habt ihr den ‹Borg / McEnroe›-Film gesehen? Ich konnte total mit Borg mitfühlen: Entweder hast du die Chance, die ganz grossen Turniere zu gewinnen, oder du lässt es sein. Ich empfand genau gleich: Wenn du mal die Nummer 1 warst, willst du nicht die 2 sein.»
Hingis hörte mit zweiundzwanzig Jahren auf, weil sie die Überzeugung verloren hatte, die sie zuvor acht Jahre lang von Sieg zu Sieg getragen hatte: jede Spielerin dieser Welt schlagen zu können.
Als wir Martina Hingis im Herbst 2019 zum ersten Mal treffen, liegt ihr Rücktritt zwei Jahre zurück (man vergisst das leicht, auch weil es schwer zu glauben ist, aber sie hatte mehrere Comebacks und spielte noch im Alter von siebenunddreissig Jahren auf Weltklasseniveau Tennis). Sie hat eine Tochter zur Welt gebracht, Lia, und lebt mit ihrem Mann Harald Leemann, einem Sportmediziner am Zuger Kantonsspital, in einer Wohnung in Zug mit Blick über den See. Leemann arbeitet viel, aber in die Kita will Hingis ihre Tochter nicht schicken. Wenn sie Tennis spielt oder ihre Pferde ausreitet – beides tut sie mehrmals pro Woche –, schaut Grossmutter Molitor zu Lia.
Es war nicht ganz leicht, diesen Termin zu bekommen, und wir denken zu dem Zeitpunkt auch noch nicht daran, die Lebensgeschichte von Martina Hingis aufzuschreiben. Wir möchten einfach ein Interview mit ihr führen. Auf uns macht sie allerdings nicht den Eindruck, dass sie besonders interessiert daran wäre, sich den Medien zu erklären.
Mit der Zeit aber begreifen wir, dass das nicht ganz stimmt. Sie hat sehr wohl das Bedürfnis, verstanden zu werden. Nur wurde sie Mal um Mal enttäuscht. Sie will gern über sich reden und hat zugleich genug davon. Sie möchte ihr Leben erzählen, aber scheut sich davor, weil sich die Medien in ihrer Wahrnehmung auf die immergleichen Geschichten beziehen.
«Es schmerzt, immer nur auf meine Fehler angesprochen zu werden, auf den Paris-Final, die Kokainaffäre, Männergeschichten», sagt sie eineinhalb Jahre nach unserem ersten Treffen, als sie uns im Frühling 2021 überraschend aus dem Auto anruft. Sie ist auf dem Heimweg von einem Fernsehinterview, das nicht in ihrem Sinn verlief, und genervt, dass sie überhaupt zugesagt hatte. «Ich tue es dann doch immer wieder, aber eigentlich bin ich es leid, mich zu rechtfertigen.»
In diesem ersten Interview im Herbst 2019 sprechen wir vor allem über ihre Kindheit in der ČSSR. Vieles hören wir zum ersten Mal. Am Ende fragen wir schüchtern, ob wir uns vielleicht noch einmal treffen können, es gäbe ja noch viel zu fragen. Sie zögert ein wenig, dann sagt sie lächelnd: «Es gibt auch noch viel zu erzählen.»
Einmal treffen wir sie in der Tennishalle, in der sie mit ihrer Mutter Kinder trainiert. Wir fragen, was in ihren Augen ihr bestes Spiel gewesen sei.
«Das war im März 2000 gegen Monica, im Halbfinal auf Key Biscayne. Ein ziemlich perfektes Spiel. Ich gewann 6:0, 6:0. Sie war die Nummer 7 der Welt, und ich habe sie …», sie hält kurz inne, «doch, das kann man so sagen: Ich habe sie demontiert. Ich glaube, das war recht hart für sie.»
Die Rede ist von der Amerikanerin Monica Seles, geboren 1973 im damaligen Jugoslawien. Als sie 2008 ihren Rücktritt bekannt gab, ging sie als vielleicht meistverehrte Spielerin, die das Tennis je gesehen hat.
«Key Biscayne? Ich erinnere mich noch genau», lacht Seles, als wir eines Nachmittags über Zoom mit ihr sprechen. «Martina hat mich völlig auseinandergenommen.» Sie sitzt in ihrem sonnendurchfluteten Wohnzimmer in Sarasota an der Westküste Floridas, wo sie lebt, seit Nick Bollettieri sie 1986 für seine Tennis-Akademie entdeckte. «Fragt, was immer ihr wollt!», sagt sie und lächelt. «Wenn es um Martina geht, habe ich alle Zeit der Welt.»
Von Monica Seles sagen viele, sie hätte die erfolgreichste Tennisspielerin der Geschichte werden können. Sie war fünfzehn, als sie 1989 auf der Profitour debütierte, und gewann noch vor ihrem zwanzigsten Geburtstag acht Grand-Slam-Turniere. 1991 löste sie Steffi Graf nach 186 Wochen als Nummer 1 der Weltrangliste ab.
So erinnert sie sich an ihre erste Partie gegen Hingis Ende 1996, als die beiden im Final eines Turniers in Oakland, Kalifornien, aufeinandertrafen: «Martina war ein Kind, aber spielte wie eine Erwachsene. Nie zuvor war ich einer so jungen Spielerin begegnet, die so viel vom Spiel verstand. Das wirklich Besondere aber war ihre Schnelligkeit im Kopf. Die meisten Spielerinnen ziehen ihren Plan durch, machen während einer Partie vielleicht eine oder zwei Anpassungen. Die richtige Analyse erfolgt hinterher. Martina hingegen konnte ich regelrecht dabei zusehen, wie sie nachdachte und ihr Spiel anpasste, während wir spielten.»
Hingis gewann, es war ihr zweiter Turniersieg auf der Profitour. Die Saison beendete sie als Nummer 6 der Welt, mit sechzehn Jahren. Als wir Monica Seles erzählen, dass manche Hingis in der Schweiz lange als arrogant und etwas abgehoben wahrgenommen haben, versteht sie zuerst gar nicht, wovon wir sprechen, so abwegig erscheint ihr das. Dann sagt sie:
«Dass sie immer die Gleiche blieb, im Erfolg ebenso wie im Misserfolg, mochte ich an Martina am meisten. Sie war so geerdet, hatte nie eine riesige Entourage um sich wie andere Topspielerinnen. Es waren nur sie, ihre Mutter und Mario. Sie liess nicht einmal Sparringspartnerinnen einfliegen wie viele andere, sie trainierte mit den Spielerinnen, die gerade da waren.»
Besonders verbunden fühlte sich Seles mit Melanie Molitor, die sie aus Respekt auch heute noch «Miss Molitor» nennt. Molitor erinnerte Seles an ihren Vater Károly, der sie bis zu seinem Tod 1997 trainierte und an jedes Turnier begleitete. «Ich sagte Martina immer: ‹Wenn Du deine Mutter als Trainerin entlässt, bin ich die Erste, die sie einstellt.›»
«Warum?», fragen wir.
«Weil sich Miss Molitor von den anderen Trainerinnen und Trainern auf der Tour unterschied. Wenn Martina und ich zusammen trainierten, dachte sie nicht: ‹Oh, Monica ist eine Gegnerin meiner Tochter, ich will nicht, dass sie besser wird.› Sie teilte ihr Wissen mit mir, gab mir Feedback und Tipps, als wäre sie nicht Martinas, sondern meine Trainerin. Sie war bescheiden und selbstlos, es ging ihr immer um das Spiel. Dafür bewunderte ich sie sehr. Es gab auf der Tour auch ganz andere Eltern, solche, die mir die schlimmsten Beleidigungen zuriefen, wenn ich gegen ihre Töchter spielte.»
In diesem Moment klingelt das Telefon von Monica Seles. Sie geht ran – es ist wohl ihr Ehemann Tom Golisano – und lässt uns warten. Gerade als wir denken, dass sie nicht mehr zurückkehren wird, erscheint sie wieder im Bild. Sie wolle noch einmal etwas über Hingis sagen.
«So viele Spielerinnen auf der Tour grüssen dich nicht mal, wenn du an ihnen vorbeigehst. Manche denken vielleicht, sie müssten so sein, um Erfolg zu haben. So war Martina nie. Sie hatte immer Zeit für einen Schwatz oder ein Lachen. Wenn ich ein junges Mädchen trainieren könnte, möchte ich, dass es die Persönlichkeit von Martina hat: Sie war kompetitiv, aber wusste auch, dass es im Tennis nicht um Leben und Tod geht.»
Seles macht wieder eine Pause. Wir können nur ahnen, woran sie denkt. Mehr als jede andere weiss sie, dass man das Spiel nicht mit dem Leben verwechseln sollte. Bei einem Turnier in Hamburg 1993 hatte ihr ein psychisch kranker Steffi-Graf-Verehrer ein Messer in den Rücken gestochen. Die Wunde verheilte, aber sie selbst kam nicht mehr zur Ruhe. Tennis wurde zur Nebensache.
Wir bitten sie, uns noch mehr über diese Seite von Hingis zu erzählen.
«Schaut euch ihre Pferde an, wie sehr sie schon als Mädchen Pferde liebte. Selbst als sie die Nummer 1 der Welt war, ging sie reiten, skifahren, skaten. Jeder normale Trainer hätte ihr das wegen der Verletzungsgefahr verboten.»
Seles spielt auf die Geschichte an, als sich Hingis 1997 nach einem Sturz vom Pferd einer Kniespiegelung unterziehen musste, die fehlende Fitness kostete ihr vielleicht den Finalsieg gegen Iva Majoli am French Open und damit den Gewinn des Grand-Slams in dem Jahr.
«Martina aber zog das durch, weil sie das Leben liebt», fährt Seles fort, «weil sie auch neben dem Tennis ein Leben haben wollte. Ich glaube, das ist der Grund, warum sie mit allem so gut zurechtkam.»
0:6, 0:6. Gibt es in irgendeiner anderen Sportart ein eindeutigeres, brutaleres Resultat? Es bedeutet, dass du chancenlos warst, dass du auf eine überlegene Gegnerin gestossen bist, die immer schon ahnte, wohin du den Ball spielen würdest, und dich selbst an den Orten überraschte, wo du dich sicher fühltest.
Dass Hingis das 6:0, 6:0 gegen Seles als das beste Spiel ihres Lebens beschreibt, liegt aber nicht daran, dass sie Seles «demontierte». Es liegt daran, dass sie an diesem Tag ihre beiden grossen Stärken in Perfektion vereinte: Das Lesen des gegnerischen Spiels. Und das Gefühl für ihr eigenes.
Sie selbst sagt uns: «Seles und Capriati waren fürs Mami halt die Anhaltspunkte. Wir versuchten, ihr Spiel zu imitieren und noch zu verbessern. Ich habe versucht, die Bälle auch so früh zu nehmen. Aber auch, noch variantenreicher zu spielen.»
Warum, so fragen wir uns während der Recherche einige Male, sind Spitzensportler:innen so wenig erhellend, wenn es darum geht, ihre Leistungen zu beschreiben, wenn sie doch die einzigen Menschen sind, die tatsächlich wissen, wie es sich anfühlt, so wahnsinnig gut zu sein?
Es ist – der Gedanke stammt von David Foster Wallace – das uralte Paradox zwischen Kreieren und Betrachten, zwischen «etwas tun» und «darüber reden». Es gibt das eine nicht ohne das andere, und zugleich kommt beides selten zusammen. Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass Medienkonferenzen oft so verführerisch und zugleich enttäuschend sind: Man erhofft sich einen Einblick in das Denken einer Gottheit, einen O-Ton aus den innersten Kammern der Genialität. Und erfährt doch nur Banales.
Die Zuschauerin, die das aussergewöhnliche Talent von Martina Hingis am häufigsten gesehen hat, ist natürlich ihre Mutter. Auch sie hält die Fähigkeit der Tochter, sich anzupassen – also das Spiel der Gegnerin zu lesen und darauf zu reagieren –, für eine ihrer grossen Stärken. Aber sie erzählt es anders.
Sie erklärt uns: «Bei Martina gibt es ist nicht einen Ball, den sie nicht kann. Klar, sie trifft nicht jeden Ball und macht nicht jeden Punkt. Aber es gibt keinen Ball, auf den sie nicht theoretisch eine Antwort hätte. Ihre körperliche Unterlegenheit war wiederum ihre grösste Schwäche, wir konnten das nicht ändern, aber wir konnten damit arbeiten.»
«Sie musste schneller auf den Beinen sein als andere?», fragen wir.
«Nein!», ruft Molitor aufgebracht, «sie war nicht schneller auf den Beinen. Sie war schneller im Kopf, mit den Augen!»
Die Sache mit dem Sehen ist für Molitor zentral. Es geht ihr nicht nur darum, richtig zum Ball zu stehen, sodass man den Ball genau an der richtigen Stelle trifft – auf Taillenhöhe, ein wenig vor dem Körper – und zum richtigen Zeitpunkt. Es geht laut Molitor um eine ganz andere Art des Sehens: «Wenn die Gegnerin den Ball schlug, wusste Martina schon, was mit dem Ball passiert. Bei Agassi war das auch so: Der war nicht schnell, aber der stand immer schon dort, wo der Ball hinkam.»
Es sind eigentlich drei Arten des Sehens, von denen Molitor spricht: Man muss – erstens – den Ball, seine Geschwindigkeit und den Aufprallwinkel im Blick haben. Man muss – zweitens – die Gegnerin im Blick haben, ihre Bewegungen lesen, mögliche Schlagwinkel berechnen und am besten schon drei Schritte nach vorne gemacht haben, wenn sie zum Stoppball erst ansetzt. Und man muss – drittens – den Platz im Blick haben, seine Begrenzungen und die freien Räume darin.
Wenn man über Roger Federer sagt, er sehe den Ball wie in Zeitlupe, weshalb er mehr Zeit habe als der Gegner, kann man über Hingis sagen, dass sie in ihrer Art zu spielen an die grossen Spielmacher des Fussballs erinnert: Zinédine Zidane, Michel Platini, Thiago Alcántara. Sie überblickten das Feld, bevor sie den Ball erhielten, wussten also schon vor der Ballannahme, wie es weitergeht, und spielten den Ball in freie Räume, die niemand ausser ihnen sah. Sie waren im Kopf immer einen Schritt weiter als der Gegner, eigentlich weiter als das Spiel, was ihre Bewegungen so ruhig und unangestrengt wirken liess.
Genau das traf auf Hingis zu: Sie stand immer richtig zum Ball, die Gegnerinnen erwischten sie selten auf dem falschen Fuss, sie schien auf eine merkwürdige Weise zu wissen, wohin die Bälle kommen und wohin sie sie schlagen muss.
Wie lernt man sowas?
Melanie Molitor sagt: «Als wir in die Schweiz kamen, konnte sie nur gegen Erwachsene spielen, weil es hier fast keine Kinder im Tennis hatte. Und bei Erwachsenen ist die Sache so: Alle haben einen guten und einen schwächeren Schlag. Ich sagte Martina, dass sie den besten Schlag ihrer Gegnerin eliminieren müsse. Kann die Gegnerin ihre Waffe nicht mehr benutzen, haben Martinas physischen Nachteile keine Bedeutung mehr.»
Klingt einfach, aber ist schwierig, wenn auf der anderen Netzseite Serena Williams steht.
«Serenas Vorhand war selbstverständlich viel besser als die von Martina», antwortet Molitor. «Deshalb versuchten wir, dass Serena gar nie in die Situation kommt, um eine gute Vorhand zu schlagen.»
«Wie macht man das?», fragen wir.
An dieser Stelle gibt Melanie Molitor uns einen Grundkurs in Tennis. «Wenn Sie auf der Grundlinie stehen, können Sie einen Tennisball auf fünf verschiedene Arten nehmen», doziert sie. «Nehmen Sie ihn nach dem Kulminationspunkt, wenn er schon wieder im Fallen ist, müssen Sie zwei Schritte nach hinten machen und können den Ball nur hoch zurückspielen (1). Sie können aber auch stehenbleiben und entweder hoch ausholen (2) oder den Ball als Halbvolley nehmen (3). Oder Sie gehen zwei Schritte nach vorne und nehmen den Ball Topspinvolley (4). Oder Sie gehen ganz nach vorne und spielen ihn Slicevolley (5).»
Sie mustert uns streng, bevor sie weiterfährt.
«Sie haben also fünf Möglichkeiten, beherrschen aber nicht alle fünf davon. Welche wählen Sie? Sie müssen sich zudem überlegen, wohin sie den Ball spielen, wer auf der anderen Seite steht – Serena Williams! – und wie die Gegnerin den Ball zurückspielen könnte. Dann müssen Sie auch berücksichtigen, in welchem Moment des Spiels Sie sich befinden. Zu Beginn hat Serena vielleicht die Vorhand besser gespielt, jetzt ist sie müde, aber die Vorhand ist ihr bester Schlag … Fragen über Fragen. All das müssen sie in Sekundenbruchteilen überlegen und entscheiden.»
Es sind Fragen, die sich jede Hobbyspielerin, jeder Hobbyspieler stellt. Das Besondere an Martina Hingis? Sie war schneller darin als jede andere auf der Tour, diese Fragen zu beantworten.
Ihre zweite Stärke war laut ihrer Mutter die Mentalität.
«Martina war eine ganz andere Spielerin als ich. Ich bin ‹schaffe, schaffe›. Martina hat gespielt. Für sie war es kein Problem, sich von den fünf Möglichkeiten für den Halbvolley zu entscheiden. Ich hätte nie den Halbvolley gespielt, aber meine Aufgabe als Trainerin war es nicht, sie mir anzugleichen. Ich wollte sie noch mehr zu dem machen, wie sie selbst war.»
Es ist schwer, dieses Eigenschaft zu beschreiben, diesen Sinn für das Unerwartete. Sicher ist, dass Hingis mehr davon hatte als alle anderen.
Doch es reicht nicht, einfallsreich zu sein, es bedarf paradoxerweise einer grossen Ernsthaftigkeit, um Ideen zu entwickeln, und Mut, um an sie zu glauben – im Wissen, dass sie misslingen können. Denn das ist der Preis des genialen Schlags: ein missratener Stoppball ist eine Einladung für die Gegnerin zum Netzangriff, ein ungenauer Lob der sichere Punktverlust.
Und so ist das Spiel tatsächlich ein Spiegel des Lebens: Wer Neues ausprobiert, macht sich angreifbar. Wer fantasievoll ist, entblösst sich. Wer wagt, gewinnt – aber wird auch scheitern.
Lange war die Karriere von Martina Hingis ein Mutter-Tochter-Projekt, zu dem nur wenige Personen Zugang hatten. «Ich machte alles», sagt Melanie Molitor. «Ich leitete das Training, wusch die Kleider, bespannte den Schläger sogar noch dann, als wir schon auf der Profitour waren. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, das an jemanden abzutreten. Ich traute niemandem.»
Molitor und Hingis käme es nie in den Sinn, sich als Feministinnen zu bezeichnen, dabei waren sie genau das: Zwei Frauen, die sich ihren Platz erkämpften in einer Welt, die nicht auf sie gewartet hatte.
Die Teamkonstellation änderte sich Mitte der 1990er-Jahre, als sich Molitor und Mario Widmer ineinander verliebten. Widmer, geboren 1940, war eine der prägenden Figuren des Schweizer Sportjournalismus, ein Haudegen mit pointierter Schreibe. Damals arbeitete er als «Blick»-Korrespondent in den USA, danach war er kurz Sportchef der Zeitung. Doch 1997 kündigte er, zog zu Mutter und Tochter nach Regensdorf und übernahm das Management von Hingis.
Wir lernen Mario Widmer kennen, als Molitor und er uns an einem Morgen im Frühling 2021 in Schindellegi empfangen. Sie begrüssen uns höflich, aber kaum haben wir uns an ihren Esstisch gesetzt, machen sie uns klar, dass sie uns nicht trauen. Sie kennen unsere Namen von den «Magglingen-Protokollen», die wir ein halbes Jahr zuvor im «Magazin» veröffentlicht haben, und halten uns für Sporthasser. Sie können sich schlicht nicht vorstellen, dass wir Hingis in unserem Text fair beurteilen werden.
Zwei Stunden verbringen wir damit, uns zu erklären. Mehrmals befürchten wir, der Gesprächsabbruch stehe kurz bevor, was uns nervös macht, denn ein Hingis-Porträt ohne die Stimme ihrer Mutter wäre kein Hingis-Porträt.
Nicht besonders hilfreich in diesem Moment ist die Tatsache, dass auch Martina Hingis nervös war vor unserem Treffen mit ihrer Mutter. Aber warum? Dazu müssen wir ein wenig ausholen.
Anfangs zierte Martina Hingis sich, ihre Mutter überhaupt zu fragen, ob wir sie sprechen könnten. Und als der Termin endlich stand, wollte sie partout nicht dabei sein. Was für eine Beziehung haben die beiden eigentlich?
Als wir Hingis einmal in ihrem Appartement in Zug besuchen, ist sie gerade am Packen.
«Sie verreisen?», fragen wir. (Es ist mitten in der dritten Corona-Welle.)
«Nein», sagt sie. «Harry ist an einer Weiterbildung, da fahre ich mit der Lia nach Hause.»
Zu Hause, das ist bei der Mutter in Schindellegi.
Vermutlich ist das die unschweizerischste Seite von Hingis: Sie stellt die Familie über alles, findet ein enges Zusammenleben nicht nervig, sondern schön.
«Man ist im Osten viel näher miteinander», sagt sie uns. «Warum schicken die Schweizer ihre Eltern ins Altersheim? Damit sie alleine in ihren Vierzimmerwohnungen sitzen können, während die Alten alleine sterben. Warum lässt man das zu?»
Wir fragen, warum sie so nervös sei, dass wir ihre Mutter treffen.
Sie sagt: «Entweder man versteht sie, oder man versteht sie nicht. Entweder man kommt mit ihr aus, oder man kommt nicht mit ihr aus. Und ich mache mir ein bisschen Sorgen, wie sie euch finden wird.»
An all das denken wir, während die Mutter uns mit gekreuzten Armen und durchgedrücktem Rücken skeptisch beäugt.
Doch dann, mitten in eine eisige Gesprächspause hinein, sagt sie plötzlich: «Also, was möchten Sie wissen?»
Was folgt, ist eines der interessantesten und offensten Interviews, das wir je geführt haben. Als wir uns von ihr und Mario Widmer verabschieden, ist es später Nachmittag.
(Zum besseren Verständnis: Alle Zitate von Melanie Molitor in diesem Text stammen aus diesem Gespräch – auch die in den vorangegangenen Kapiteln.)
Melanie Molitor und Mario Widmer, das wird im Lauf der Stunden deutlich, ging es nicht um sich selbst. In den Jahren in der Öffentlichkeit machten sie natürlich Fehler, sie wären die Letzten, die das nicht einsehen würden. Doch bei allem, was sie taten, verfolgten sie, wie viele Eltern, zwei anspruchsvolle und manchmal widersprüchliche Ziele. Sie wollten Martina Hingis schützen, aber sie wollten sie auch selbst bestimmen lassen.
Molitor: «Ich war der Meinung, dass sie im Alltag möglichst viel Verantwortung übernehmen muss, damit sie auch auf dem Tennisplatz kluge Entscheidungen treffen kann, unter Druck und vor Publikum. Dann geschah es halt ein paar Mal, dass sie in der Öffentlichkeit Dinge sagte, die sie besser nicht gesagt hätte.»
Wir erinnern uns daran, wie Melanie Molitor ihren Vater, Martinas Grossvater, beschrieb: als autonom, gradlinig, freiheitsliebend. Als jemanden, der sich nicht unterkriegen, nicht einordnen lassen wollte. Wir möchten die Küchenpsychologie nicht überstrapazieren, aber war nicht genau dies das Wesen von Martina Hingis’ Spiel: freiheitsliebend, schwer einzuordnen, autonom?
Als Mario Widmer zu Molitor und Hingis stiess, kannte er sich im Fussball aus – manche sagen, er habe Nationaltrainern die Aufstellung diktieren können –, auch im Boxen fühlte er sich heimisch. Mit Muhammad Ali war er befreundet. Doch die Welt des Tennis war ihm fremd. Er staunte über die schlechte Stimmung in den Frühstücksräumen der Spielerinnenhotels und welchem Stress die Topspielerinnen ausgesetzt waren, wenn sie Woche für Woche irgendwo auf der Welt ein neues Turnier bestreiten und zugleich Medientermine, Sponsorentermine, Fantermine wahrnehmen mussten, während einer zermürbenden elfmonatigen Saison.
2021 machte der Tennissuperstar Naomi Ōsaka öffentlich, wie belastend es für sie ist, jeden Turniertag mit einer Pressekonferenz abschliessen zu müssen, und versagte sich zuerst den Medien, dann mehreren Turnieren. Sie erntete Spott, aber auch Bewunderung. Sportler:innen dankten ihr für den Mut, über Depression, öffentlichen Druck und ungesundes Leistungsdenken nicht erst dann zu sprechen, wenn die Karriere vorbei ist.
Die späten 1990er-Jahre waren eine andere Zeit. Sportpsychologische Betreuung war selten, mentale Gesundheit kein Thema. Und noch viel mehr als heute dachten die Leute: Wer so viel verdient, kann ein paar Anfeindungen aushalten.
Mario Widmer fing an zu verstehen, weshalb es Melanie Molitor so wichtig war, eine Mauer um ihre Familie zu bauen. Neben dem Training musste nicht auch noch der Alltag hart sein.
Sie nannten es ihre kleine Insel. Wenn sie für die Vorbereitung der Turniere in den USA ein paar Wochen in Tampa, Florida, verbrachten, wo sie ein Haus besassen, sah ihr Tagesablauf so aus: Am Vormittag trainierten Mutter und Tochter, Mario Widmer kaufte ein und kochte. Dann machte Molitor den Abwasch, Hingis legte sich hin, und Widmer ging golfen.
«Das ist etwas Postkommunistisches», erklärt uns Molitor mit einem Schmunzeln. «Sehen Sie, in der Schweiz ist oft wichtig, was draussen ist, was andere von dir denken. Bei uns in der Tschechoslowakei war es immer wichtig, was drinnen ist, was wir voneinander halten.»
In Trübbach, als Widmer noch nicht Teil des Teams war, und später in Regensdorf sassen manchmal zehn, fünfzehn Leute am Esstisch, Spielerinnen, Trainer:innen, Eltern. «Wir hatten häufig Gesellschaft», sagt Molitor, «ich wollte, dass Martina gute Menschen um sich hat.» Jennifer Capriati, Monica Seles, Anna Kurnikowa – sie alle waren über die Jahre zum gemeinsamen Training in der Schweiz zu Besuch.
Jetzt, in Schindellegi, sagt Melanie Molitor: «Als wir neu auf der Tour waren, waren die guten Spielerinnen nicht so nett zu Martina. Ich sagte ihr: ‹Wenn du einmal gut bist, darfst du dich nicht so benehmen.› Als Martina die Nummer 1 wurde, veränderte sich die Stimmung unter den Besten, wurde irgendwie lockerer.» Sie erzählt es mit einer Wärme in der Stimme, als sei ihr das wichtiger als all die Titel.
Molitor coachte nicht nur ihre Tochter auf Platz 1, sondern danach auch Belinda Bencic in die Top Ten. Heute betreut sie die Deutsche Julia Stusek, die gerade Juniorinnen-Europameisterin wurde. Das Bild, das die Schweizer Öffentlichkeit von der Trainerin Melanie Molitor hat, steht im diametralen Verhältnis zu dem Ruf, den sie in der Szene geniesst: Melanie Molitor ist keine verbissene Tennis-Mami, sie ist eine der besten Trainerinnen der Welt.
Wie entsteht ein Bild von einem Menschen? Klar ist, dass es nicht aus dem Nichts kommt. Molitors herbe tschechische Art wirkt in der Tat etwas schroff im Vergleich zur bemühten helvetischen Freundlichkeit. Und sie ist ja auch wirklich ein eher skeptischer Mensch, eine strenge Trainerin, war eine Mutter, die von ihrer Tochter viel verlangte. Aber verlangte sie mehr als Pauli Gut von seiner Tochter Lara, Fritz Weyermann von Anita oder Markus Neff von Jolanda?
Woher also kommt diese Abneigung gegen die Mutter? Vielleicht liegt es genau daran: Dass sie die Mutter ist und nicht der Vater.
Das Mutterbild, das Molitor verkörperte, steht im krassen Kontrast zum Schweizer Ideal der aufopferungsvollen, fürsorglichen und warmherzigen, aber letztlich zurückgenommenen Mutter, die ihr Leben lang auf den Bereich des Privaten begrenzt bleibt, wichtig für die Familie, aber als Individuum bedeutungslos. Dem Vater gesteht man zu, dass er Ambitionen hat, für sich ebenso wie für andere. Der Vater wendet sich der weiten Welt zu, hat eine eigene Identität und Vorstellung.
In dieser Lesart stellt Melanie Molitor die ungehörige Frau dar, die ihre Männer verliess, um sich durch ihre Tochter zu verwirklichen, statt die ihr zugedachte Rolle einzunehmen. Unter Frauen könnte bei der Ablehnung Molitors auch ein gewisser Frust mitgespielt haben, weil sie ihr Leben mit einer Konsequenz in die eigenen Hände nahm, wie es sich damals nur wenige Schweizerinnen trauten.
Zwischen 1999 und 2001 geschah etwas Einzigartiges: Das Frauentennis löste das Männertennis als grösstes Spektakel ab. «Jetzt gerade», sagte Monica Seles kurz vor dem US Open 2001, «sind die Männer richtig langweilig.»
Bei den Männern standen Marat Safin, Gustavo Kuerten, Lleyton Hewitt an der Spitze. Alles gute Spieler, aber sie verblassten im Vergleich zu Anna Kurnikowa, Lindsay Davenport, Monica Seles, den Williams-Schwestern, Martina Hingis, Jennifer Capriati. Und ständig rückten junge Spielerinnen nach, Kim Clijsters etwa oder Justine Henin. Nie zuvor waren so viele talentierte, ehrgeizige, schillernde, aber auch aufmüpfige und unangepasste Frauen in den Top Ten gewesen. Das «New York Magazine» nannte die Rivalinnen, die sich harte Duelle lieferten, dann aber auch immer wieder gemeinsam feierten, «Riot Girls».
Es war auch die Zeit, als die WTA versuchte, aus ihren Spielerinnen mehr zu machen als bloss – Spielerinnen. Es gab Empfänge, Galaabende, die Spielerinnen sollten nicht nur spielen, sie sollten gut aussehen, sexy sein, Kluges oder besser noch Provokantes sagen, sich Zeit für Fotoshootings, Sponsorentermine und andere öffentliche Termine nehmen.
Tennis wurde dadurch immer lukrativer – die Preisgeldbörse nahm am US Open von 1990 bis 2000 von 6.4 Millionen auf 15 Millionen US-Dollar zu. Damit stiegen auch die Erwartungen, die Aufmerksamkeit, der Druck. Und die Topspielerinnen, auf die alle schauten, befeuerten die Konkurrenz, indem sie an Medienkonferenzen gegeneinander stichelten, während Journalist:innen die Zwists genüsslich ausbreiteten. Plötzlich benahmen sich nicht nur John McEnroe oder Jimmy Connors wie Unsympathen und trugen ihre exaltierten Fehden auch jenseits des Tenniscourts aus, nun liefen die Frauen den Männern auch in diesem Punkt den Rang ab.
In diesem Umfeld geschah es, dass sich Hingis zu Aussagen hinreissen liess, über die sie heute den Kopf schüttelt und am liebsten gar nicht mehr spricht. Zum Beispiel die Aussage, dass die lesbische französische Spielerin Amélie Mauresmo «ein halber Mann» sei. Oder dass die Williams-Schwestern einen Vorteil in der Vermarktung hätten, weil sie schwarz sind.
Legendär ist ihre Auseinandersetzung mit der russischen Tennisdiva Anna Kurnikowa im Jahr 2000 in Santiago de Chile. Wenige Wochen zuvor hatten die beiden den WTA-Saisonfinal im Doppel gewonnen, nun spielten sie an einem unbedeutenden Showturnier gegeneinander. Nach einer irrelevanten Linienentscheidung gerieten sie aneinander, und während des anschliessenden Seitenwechsels soll Hingis Kurnikowa angezischt haben: «Du denkst wohl, du bist die Königin? ICH BIN DIE KÖNIGIN!»
In der Garderobe sollen Trophäen und Vasen geflogen sein. Hingis tauschte daraufhin Kurnikowa gegen Seles als Doppelpartnerin. Doch ein Jahr später, am US Open, traten die beiden bereits wieder zusammen im Doppel an.
Es war eben doch nur ein Spiel. Die Frauen konnten – anders als viele Männer – über die Fehden lachen. Hingis selbst beschreibt die Zeit in der Rückschau als «cool».
Einige Monate später, als wir Hingis erneut treffen und sie uns allmählich wie alte Bekannte behandelt, verrät sie uns, was sie in ihrer Karriere über Männer gelernt hat. Von den vielen bemerkenswerten Dingen, die sie uns erzählte, ist das etwas vom Bemerkenswertesten.
Martina Hingis wurde auf der Tour erwachsen. Was andere in Skilagern oder auf Schulreisen erleben, fand bei ihr in aller Öffentlichkeit statt. Jeder Flirt, jeder Kuss, jede Beziehung wurde von der Boulevardpresse genüsslich begleitet. Zweimal war sie verlobt, einmal schon verheiratet. Sie war mit Tennisspielern, Profigolfern, Fussballstars zusammen.
«Man lernt als Sportlerin halt fast nur Sportler kennen», sagt sie uns achselzuckend. «Viele sind Tennisfans, die kommen an die Grand-Slams, haben einen Badge und hängen da rum. Aber es ist schwierig. Das eine Problem ist der Kalender. Man stellt fest, dass ja jeder seinen Kalender hat, und plötzlich ist ein halbes Jahr rum, und die Gefühle sind am Ausklingen.»
Dann erzählt Hingis ebenso offen über Problem Nummer zwei: «Um im Sport erfolgreich zu sein, braucht man ein ziemlich grosses Ego. Weil man die ganze Zeit vor allem auf sich selbst konzentriert sein muss, kann man aber nicht so gut Kompromisse eingehen. Treffen dann zwei Egos aufeinander, ist es zuerst einmal interessant. Man tickt ähnlich, man denkt: Der versteht mich. Doch dann merkt man, dass zwischen zwei Menschen ja gar nichts entstehen kann, weil beide nur auf sich schauen.»
Eine besondere Schwierigkeit, von der sie uns berichtet, kennen vermutlich auch erfolgreiche Frauen ausserhalb des Sports: «Sergio (der Profigolfer Sergio García, mit dem Hingis bis 2002 liiert war) und ich, wir wurden immer miteinander verglichen. Und ich war, das klingt jetzt blöd, schon weiter als er. Am Anfang hat ihn das fasziniert, aber mit der Zeit störte es ihn, dass seine Freundin eine Nummer grösser ist als er.»
«War das oft so?», fragen wir.
«Ja, leider.»
«Sie waren immer die grössere Nummer.»
«Ja, und darunter haben die Egos der Männer gelitten. Männer wollen nicht ‹der Freund von der Hingis› sein. Sie wollen, dass es umgekehrt ist. Erst wenn sie älter sind, lernen sie, über der Sache zu stehen.»
2016 lernte Martina Hingis den Zuger Sportarzt Harald Leemann kennen, mit dem sie heute noch zusammen ist. «Das war ganz anders. Er kann sich für mich freuen, wenn es mir gut geht. Es gibt keine Konkurrenz zwischen uns.» Sie trinkt einen Schluck Mineralwasser. «Vermutlich weil jeder sein eigenes Metier hat. Ich glaube, das ist wichtig in der Liebe.»
Wenn man Martina Hingis fragt, wann sie in ihrer Karriere am glücklichsten war, sagt sie nicht: Ihr erster Turniersieg als Profi, die Grand-Slam-Erfolge, der Sprung als jüngste Spielerin auf Platz 1 der Weltrangliste. Sie sagt: Am schönsten war es im Doppel.
Die Partien mit zwei Spieler:innen auf jeder Seite des Netzes werden selten im Fernsehen gezeigt, die Preisgelder sind niedrig, reine Doppelspieler:innen erreichen nur in Ausnahmefällen Bekanntheit. Was schade ist. Denn Doppel, besonders Frauendoppel, ist eine unterschätzte Disziplin: schnell, unterhaltsam und weniger als das Einzel abhängig von roher Kraft. Hier gewinnt, wer Technik mit Taktik und Spielwitz verbinden kann. In anderen Worten: Es ist die perfekte Disziplin für Martina Hingis.
Hingis kam in einer Zeit auf die Tour, als die besten Einzelspielerinnen meist auch im Doppel antraten. Martina Navrátilová, Jana Novotná, Arantxa Sánchez Vicario, Lindsay Davenport – sie alle waren nicht nur im Einzel Weltklasse, sie waren auch die Nummer 1 der Doppelweltrangliste.
Auch Hingis zählte dazu. Über die Zeitspanne von zwei Jahrzehnten – zwischen 1998 und 2018 – belegte sie 91 Wochen lang Platz 1, das sind fast zwei Jahre. Sie gewann als Doppelspielerin dreizehn Grand-Slam-Titel und sieben weitere im noch weniger populären Mixed-Doppel, Mann und Frau.
Doch um Popularität ging es ihr nicht. Um Siege schon – darum ging es ihr immer –, aber da war noch etwas anderes. Es ist eines der grossen Themen ihrer Karriere. Sie selbst findet keine Worte dafür, auch wenn sie mit uns oft darüber redet. Martina Hingis, das verstehen wir mit der Zeit, spielte Doppel, damit sie auf der Tour nicht nur Gegnerinnen hatte, sondern auch mal Partnerinnen – womöglich sogar Freundinnen –, mit denen sie reisen, trainieren, ein gemeinsames Ziel anstreben konnte.
In Schindellegi sagt uns Mario Widmer, dass wir uns wohl nicht vorstellen könnten, wie einsam das Leben als Tennisprofi sei. Die Spielerinnen sind jede Woche an einem anderen Ort und zugleich in der immergleichen Blase. Die Tage ähneln sich, man lebt von Spiel zu Spiel, legt sich früh schlafen, sucht das Glück auf dem Court. Und so gibt es auch keinen Platz für das, was am Ende eines Lebens am meisten zählt: Freundschaften. Auch Monica Seles sagt, dass sich die Freundschaft zu Hingis erst nach der Karriere entwickeln konnte.
Es ist fast nicht zu glauben, aber ihre 64 Turniersiege im Doppel erreichte Martina Hingis mit siebzehn verschiedenen Spielerinnen. Es gab immer wieder Stimmen, die ihr die vielen Wechsel als Launenhaftigkeit auslegten, besonders als sie sich 1998 von Jana Novotná mit der rüden Begründung lossagte, die Tschechin sei «alt und langsam» geworden. Darin, dass sie mit so vielen Spielerinnen Erfolg hatte, kann man aber auch zwei ganz andere Dinge erkennen.
Erstens war sie einfach wahnsinnig lange auf der Tour, so lange wie fast niemand sonst. Nach dem Debüt 1994 und dem ersten Rücktritt 2003 kehrte sie 2006 zurück, gewann im Einzel drei weitere Turniere und stiess noch einmal auf Rang 6 der Weltrangliste vor. 2007 gab sie zum zweiten Mal das Karrierenende bekannt. 2013 kam sie wieder, verzichtete auf Einsätze im Einzel, aber hatte im Doppel die beste Zeit ihres Tennislebens.
Dass sie mit so vielen Spielerinnen ein gut funktionierendes Team bildete, zeigt zweitens, dass sie über die unter Einzelsportlerinnen seltene Fähigkeit verfügte, nicht nur sich, sondern auch Mitspielerinnen besser zu machen.
Das erfahren wir, als wir uns mit der Deutschen Sabine Lisicki unterhalten, Wimbledon-Finalistin 2011 – und vielleicht der grösste lebende Hingis-Fan. Lisickis Werdegang hat einige Parallelen mit dem von Hingis: Sie wird vom Vater trainiert, einem polnischen Einwanderer. In ihren Anfängen war das Familiengeld so knapp, dass sie sich Turnierteilnahmen im Ausland nur gelegentlich leisten konnte. Und auch sie stiess in ihrer Heimat Deutschland auf viel Unverständnis, weil sie und ihr Vater nicht die waren, «die vor jede Kamera sprangen», wie sie erzählt.
Nach einem Jahr der Niederlagen und Verletzungen fragte sie 2013 Hingis, ob sie ihr helfen würde. Der Grund, warum sie sich am tiefsten Punkt ihrer Karriere ausgerechnet an die Schweizerin wandte, hat wiederum mit Melanie Molitor zu tun.
Lisicki war zehn, als sie 1999 von einer Sportvermarktungsagentur zu Melanie Molitor geschickt wurde, um von ihr beurteilt zu werden.
Am Telefon aus Bradenton, Florida, wo sie zeitweise lebt, erzählt sie uns: «Wir waren damals drei, vier Tage da. Und für mich war das ein riesengrosses Erlebnis, bei ihr im Haus zu schlafen. Weil Martina weg war, durfte ich sogar ihr Zimmer haben. Wir hatten damals kein Geld, ich hatte noch keine Sponsoren, ein Match-T-Shirt kostet 70 Euro! Irgendwann hat mir Melanie Molitor einfach eine Tasche mit Kleidern von Martina gegeben. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viele Anziehsachen!»
Melanie Molitor sah nicht nur Lisickis Talent, sie sah auch eine Familie, die Hilfe brauchte.
«Das ist nicht in Worte zu fassen, wie sie uns damals und auch später geholfen hat. Ich werde immer zu Melanie Molitor aufschauen. Ich verdanke ihr wirklich einen grossen Teil meiner Karriere.»
Und als sie sich vierzehn Jahre später in einem sportlichen Tief befand, wandte sie sich an Molitors Tochter und heuerte sie als Trainerin an.
«Mich hat immer fasziniert, wie Martina die Gegnerinnen taktisch auseinandergenommen hat», erklärt sie uns. «Sie hat den Platz richtig gross gemacht, hat Winkel gespielt, Stoppbälle, Lob. Sie hat das Spiel wirklich voll ausgespielt. Und sie hatte immer Spass am Tennis. Das wollte ich auch wieder haben.»
Kurz nach Beginn der Zusammenarbeit merkte Lisicki allerdings, dass Hingis noch immer mehr Spielerin als Trainerin war. Darum fragte sie Hingis: «Kannst du dir vorstellen, mit mir Doppel zu spielen?»
«Warum eigentlich nicht?», antwortete Hingis. «Wir müssten es halt bloss ein paar Mal trainieren.»
Wenn man als Schweizer Spitzensportler:in wissen möchte, wie beliebt man im breiten Publikum ist, gibt es einen sicheren Indikator: die Sports Awards.
Seit 1950 werden in der Vorweihnachtszeit die Sportlerinnen und Sportler des Jahres gekürt. Es sind nicht immer die besten, die ausgezeichnet werden, nicht immer die erfolgreichsten. Es sind die populärsten. Oft jene, die am volkstümlichsten wirken. Denn nicht eine Fachjury trifft die Wahl, sondern ein über die Jahre stets grösser gewordener Kreis von Menschen. Zunächst durften Sportjournalist:innen abstimmen, ab 1999 ausserdem das Fernsehpublikum. Seit 2006 gehört zudem ein Drittel der Stimmen Schweizer Sportler:innen.
Die Sports Awards sind ein Sympathiewettbewerb mit vielen hunderttausend Fernsehzuschauer:innen. Es ist einer der letzten kollektiven TV-Momente der Schweiz.
An den Platzierungen kann man ablesen, welche Sportarten in der Schweiz angesehen sind: Sie finden entweder auf Schnee statt (Skifahren und Langlauf), oder es sind solche, denen man die Anstrengung deutlich ansieht (Leichtathletik, Triathlon, Radfahren). Die Sportlerinnen, die am häufigsten ausgezeichnet wurden, sind die Skifahrerin Vreni Schneider (fünfmal) sowie die Turnerin Ariella Kaeslin, die Orientierungsläuferin Simone Niggli-Luder und die Skifahrerin Lise-Marie Morerod (je dreimal).
Und jetzt raten Sie, wie oft die Wahl auf Martina Hingis fiel.
Ein einziges Mal.
Das war im unglaublichen Jahr 1997, als sie von 80 Spielen 75 gewann und als jüngste Tennisspielerin der Geschichte die Nummer 1 wurde. Zudem wählte man sie zur Weltsportlerin des Jahres – als erste Schweizerin überhaupt.
Und doch brachte es die Schweiz beinahe fertig, ihr die nationale Ehre zu verweigern: Hingis erhielt den Titel nur knapp vor der Bernerin Anita Weyermann, der «Gring abe und seckle»-Athletin, die in dem Jahr WM-Bronze im 1500-Meter-Lauf gewonnen hatte.
Ein Jahr später, 1998, ging die Auszeichnung an die Triathletin Natascha Badmann. Hingis schaffte es gerade noch auf Platz 4, abgeschlagen hinter Marathonläuferin Franziska Rochat-Moser und der zweitplatzierten Weyermann. Weil sie eine schlechte Saison gespielt hatte? Natürlich nicht. Sie gewann das Australian Open im Einzel und den Grand-Slam im Doppel.
Und 1999, als bei den Sports Awards erstmals das Fernsehpublikum mitbestimmte?
1999 flog Hingis in Wimbledon in der ersten Runde raus, und sie scheiterte im Paris-Final unrühmlich an Steffi Graf. Einige Male entlud sich ihr Frust über ihre Schwierigkeiten mit dem Power-Grundlinien-Tennis in abschätzigen Äusserungen gegenüber Gegnerinnen. Trotzdem war es kein schlechtes Jahr: Sie gewann zum dritten Mal nacheinander das Australian Open, und sie holte sich die Weltranglistenführung zurück. Sie war, um es in aller Klarheit zu sagen, die Weltbeste in einer Weltsportart. Keine Schweizerin in keiner anderen Sportart war auch nur entfernt mit ihr vergleichbar.
Bei den Sports Awards, die aus dem Berner Kursaal übertragen wurden, waren neben ihr die Schwimmerin Flavia Rigamonti und wieder die Läuferin Anita Weyermann nominiert. Hingis blieb dem Anlass fern, in Florida bereitete sie sich auf die neue Saison vor. Das Fernsehen wollte sie live zuschalten, alles war bereit. Doch Mario Widmer, der Partner von Melanie Molitor und Manager von Hingis, liess ausrichten, dass sie für ein Interview nur im Falle eines Sieges zur Verfügung stehe.
Der Moderator verkündete das vor laufender Kamera. Die Antwort des Fernsehpublikums: Es wählte Weyermann, deren grösster Erfolg in jenem Jahr der Europameistertitel im Crosslauf gewesen war.
Urs Leutert, der Sportchef des Schweizer Fernsehens, sagte später: «Das Verhalten von Martina ist an Zynismus nicht zu überbieten. Sie hat live demonstriert, wie sehr sie das Schweizer Sportpublikum und ihre Schweizer Fans verachtet.»
Auch andere Journalist:innen waren offenbar persönlich beleidigt, der «Blick» holte in Strassenumfragen zornige Volksmeinungen ein. Die Stimmung gegenüber Hingis kippte endgültig, sie sei, hiess es, eine schlechte Verliererin.
Das war sie vielleicht sogar. Aber alle Spitzensportler:innen sind schlechte Verlierer:innen. Sonst wären sie nicht so gut.
«Wo Federer Kritik mit Grösse und Gelassenheit an sich abprallen lässt, da igelte sich Hingis ein und war beleidigt.» Das schrieb die NZZ sogar noch zu ihrem Abschied vom Sport fast zwei Jahrzehnte später. Tatsächlich reagierte Federer grosszügig, als er mal eine Sympathiewahl verlor (gegen den Berner Töfffahrer Tom Lüthi). Doch es ist leicht, grosszügig zu sein, wenn man nie angefeindet wird.
Martina Hingis hingegen hatte 1999 einen Spiessrutenlauf hinter sich. Genaugenommen war sie – wie viele Migrant:innen – schon ihr Leben lang einer oft subtilen Skepsis ausgesetzt. Wer von aussen kommt, muss sich mehr als andere rechtfertigen. Für Fehler, aber auch für Erfolge. Man wird kritisch beäugt, wenn es schlecht läuft und wenn es gut läuft.
Für Menschen, die diese Erfahrung nie machen mussten, ist es schwer nachzuvollziehen, wenn Migrant:innen auf eine Absage oder Nichtbeachtung heftig reagieren. Dieses oft als «Dünnhäutigkeit» interpretierte Verhalten zeigt letztlich, wie eine dauerhafte Erfahrung der Benachteiligung oder Nichtanerkennung Spuren hinterlässt. Manche macht es vorsichtig und argwöhnisch, andere wütend. Beides ist ein Ausdruck von Enttäuschung.
Man könnte natürlich sagen: All das hätte Martina Hingis egal sein können. Sie hatte Millionen, war auf der ganzen Welt ein Star. Der Punkt ist: Es war ihr nicht egal. Es störte sie. Sie wünschte sich Anerkennung in der Schweiz. Weil sie das Land liebt. Es ist ihr Daheim.
Siegquote | |
80.2% (548/135) | |
Turniersiege | |
43 | |
Grand-Slam-Titel | |
Australian Open | 1997 1998 1999 |
Wimbledon | 1997 |
US Open | 1997 |
Siegquote | ||
81.7% (490/110) | ||
Turniersiege | ||
64 | ||
Grand-Slam-Titel | ||
Australian Open | 1997 1998 1999 2002 2016 | |
French Open | 1998 2000 | |
Wimbledon | 1996 1998 2015 | |
US Open | 1998 2015 2017 | |
Olympische Spiele | ||
Rio 2016 | Silber |
Und dann wiederholte sich die Geschichte, und auch der Schmerz wiederholte sich.
Weil in der Corona-Pandemie so viele Sportanlässe abgesagt wurden, organisierte das Schweizer Fernsehen im Jahr 2020 keine normalen Sports Awards, sondern kürte die besten Sportlerinnen und Sportler seit der ersten Austragung 1950.
Und Martina Hingis, die erfolgreichste Sportlerin, die die Schweiz je hatte, war nicht einmal nominiert!
Das hängt mit einem Ereignis dreizehn Jahre zuvor zusammen. Im Sommer 2007 – in der zweiten Saison seit ihrem Comeback – trat Hingis noch einmal in Wimbledon an. Sie wusste zu dem Zeitpunkt bereits, dass ihre grosse Zeit als Einzelspielerin vorbei war. Sie hatte Rücken- und Hüftprobleme, für spektakuläre Duelle mit den Weltbesten reichte es immer seltener. Auch in Wimbledon rechnete sie sich kaum Chancen aus, tatsächlich verlor sie in der dritten Runde gegen eine unbekannte Amerikanerin.
Nach der Niederlage musste sie zur Dopingkontrolle.
Zehn Wochen später teilte man ihr mit, dass in ihrem Urin Spuren von Benzoylecgonin gefunden worden seien. Benzoylecgonin? Das ist ein Abbauprodukt von Kokain.
«Sie haben Party gemacht, oder?», fragen wir Hingis.
«Dann hätte ich das gesagt!», antwortet sie. «Ich war immer offen. Wenn es so gewesen wäre, hätte ich gesagt: ‹Ich hatte einen geilen Abend, ich habs mal probiert. Super.› Aber sowas macht man nicht am Abend vor einem Wimbledon-Spiel.»
«Vielleicht wollten Sie Ihre Leistung steigern?»
«Ich weiss nicht, ob ihr schon mal gekokst habt oder auf einem Tennisplatz gestanden seid oder beides. Ich kann euch sagen, das Letzte, was man dort braucht, sind Partydrogen.»
Was damals in Wimbledon wirklich geschah, war Gegenstand unzähliger Spekulationen. Aber eigentlich kann man es auf fünf Punkte reduzieren, über die es keinen Zweifel gibt:
Den Sports Awards war das egal. Sie hatten sich den Ethikzusatz auferlegt, wegen Dopings verurteilte Sportlerinnen und Sportler nicht zur Wahl zuzulassen, und darauf bestanden sie. Sie behandelten den überführten Radfahrer, der systematisch EPO-Doping betrieben hatte, genau gleich wie die Tennisspielerin, die einmalig positiv auf eine Freizeitdroge getestet worden war.
Wie grotesk ungerecht das ist, wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass Hingis nach dem Absitzen der Dopingsperre überall wieder mit offenen Armen empfangen wurde: Auf der Tennistour sowieso, wo sie noch viele Jahre erfolgreich Doppel spielte, aber auch bei Swiss Olympic, dem Dachverband des Schweizer Spitzensports, der kein Problem darin sah, sie für die Olympischen Spiele 2016 aufzubieten.
In all diesen Jahren wurde Hingis auch mehrmals für die Sports Awards nominiert. Erst als es um die Würdigung ihres Lebenswerks ging, wurde sie ausgebootet. Simon Graf, Tamedia-Tennisexperte, hat dazu alles gesagt, was gesagt werden muss. In einem Artikel schrieb er: «Es ist, um eine Analogie zum Sport zu nehmen, als ob in der Halbzeit einer Partie die Spielregeln geändert würden.» Und weiter: «Wenn sie mit ihrer positiven Dopingprobe ein schlechtes Vorbild war, so war sie daneben auch in vielerlei Hinsicht ein gutes: mit ihrer nie erlöschenden Freude für den Sport, ihrem Spielwitz, ihrer erfrischenden Art in einem Profizirkus, wo viele gleichgeschaltet sind. Sie hat, indem sie ihren eigenen Weg ging, viele Schweizer Athletinnen inspiriert. Wer ihre Karriere nun auf ihren Dopingfall reduziert, tut ihr grosses Unrecht.»
Als Martina Hingis am 26. Oktober 2017 ihren endgültigen Rücktritt verkündete, tat sie das standesgemäss: Als Nummer 1 der Doppelweltrangliste. (Sie hatte einen so grossen Vorsprung, dass sie noch fast ein halbes Jahr an der Spitze geführt wurde, obwohl sie schon nicht mehr spielte.)
Ihr letztes Jahr auf der Tour sagt mehr über sie aus, als man zuerst denken würde. Besonders wenn man es durch die Augen von Latisha Chan, ihrer Doppelpartnerin, betrachtet.
Latisha Chan, geboren 1989, wuchs in einem Dorf in Taiwan auf. Sie war zehn, als ihre Familie bei einem Erdbeben alles verlor, was sie besass. Die Eltern standen vor dem Nichts. Wovon sollten sie jetzt leben?
Latisha, ein Tennistalent, bekam drei Jahre Zeit, sich zu beweisen. Alles, was die Eltern verdienten, investierten sie in ihr Kind. Chan zahlte das Vertrauen zurück, wurde eine der weltbesten Doppelspielerinnen. Und doch erlebte sie die Erwartung als Belastung.
«Mit dieser Geschichte hinter mir, mit dem Wissen um das Erdbeben und was es mit meiner Familie gemacht hatte, glaubte ich, immer gewinnen zu müssen», sagt sie uns am Telefon. Dass es auch anders geht, lernte sie erst, als sie mit achtundzwanzig ein Jahr lang an der Seite ihres Kindheitsidols Martina Hingis Tennis spielte.
«Ich war Anfang 2017 schon so viele Jahre auf der Tour, dass mich alles immer nur stresste. Der Druck, das Reisen, der Jetlag. Martina zeigte mir, dass man dann den lustigen Teil umso mehr geniessen muss: das Spiel. Und genau so war es, wenn ich neben ihr auf dem Platz stand: Ich spürte ihre Energie, ich spürte sie wirklich. Ob sie gewann oder verlor, war da gar nicht so wichtig. Sie lachte, wenn sie einen guten Ball spielte, und lachte, wenn sie einen Fehler machte. Sie wollte einfach eine gute Zeit mit ihrer Partnerin haben.»
Latisha Chan überlegt kurz.
«Wenn ich mit ihr spielte, lachte auch ich mehr. Ja, ich glaube, das ist es: Martina brachte mich zum Lachen. Ich war eine andere Spielerin neben ihr. Ich traute mir Schläge zu, die ich sonst nie im Leben versucht hätte. Und das Beste: Ich hatte sie drauf. Ich merkte, ich bin gut darin. Martina hat etwas in mir gesehen, das ich selbst nicht gesehen hatte.»
Latisha Chan steht für zahllose Tennisspielerinnen überall auf der Welt, die von Hingis inspiriert wurden. Als sie als Kind einmal ein Autogramm von ihr erhielt, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Sie sagt: «Später wünschte ich mir manchmal eine Zeitmaschine, um meinem achtjährigen Ich zu erzählen, dass ich gerade an der Seite dieser Spielerin auf den Platz laufe.»
Vielleicht ist es das, was am Ende einer langen Sportkarriere bleibt: Dass man andere Menschen berührt hat, auch ein kleines Mädchen aus einem fernen Land.
Immer im Juli werden in Newport, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Rhode Island, Spieler:innen in die Hall of Fame des Tennis aufgenommen. Es ist ein bescheidener Anlass. Vor wenigen Gästen wird auf dem Rasenplatz des Vereins ein Podium aufgebaut, es gibt Laudationen und Beifall, die Geehrten erhalten ein dunkelblaues Jackett. Das wars.
Tatsächlich aber ist es die ultimative Auszeichnung, die man als Tennisprofi erhalten kann. Wie wichtig den Tennisstars die Hall of Fame ist, versteht man erst, wenn man sich die Dankesreden der letzten Jahre anhört. Es sind oft erstaunlich intime Einblicke in die Seelenleben der grössten Spieler:innen der letzten fünfzig Jahre.
An der Feier im Jahr 2009 zählte Monica Seles die Menschen auf, die zu ihr hielten, als sie ganz oben war und ganz unten. 2004 brachte Steffi Graf lange keinen Satz heraus, dann sagte sie mit tränenerstickter Stimme: «Tennis hat es mir ermöglicht, diese unglaubliche Reise anzutreten, und das Beste an dieser Reise … sie hat mich zu dir geführt.» In diesem Moment drehte sie sich um und zeigte auf ihren Ehemann Andre Agassi.
Am 13. Juli 2013 wurde Martina Hingis in die Hall of Fame aufgenommen. Phil de Picciotto, Gründer des Sportvermarkters Octagon und einer der ersten Förderer von Hingis, hielt eine Laudatio, die verriet, wie sehr er Hingis schätzte, als Spielerin und als Mensch. Hingis kämpfte bereits mit den Tränen.
Dann war sie dran. Sie stand auf und bedankte sich bei De Picciotto. Er gab ihr zwei Küsschen auf die Wange. Hingis, ganz Schweizerin, erwartete ein drittes, aber erinnerte sich im letzten Moment an die internationalen Gepflogenheiten und zog den Kopf zurück. Dann stellte sie sich ans Mikrofon. Sie atmete einmal schwer durch. Und begann mit stockender Stimme vom Blatt zu lesen.
«Ich könnte die Worte wiederholen, die schon so viele an dieser Stelle gesagt haben, dass unser Sport mir alles im Leben gegeben hat, und es wäre die Wahrheit. Aber vielleicht kann ich etwas ergänzen, damit Sie besser verstehen, wer ich bin und was das hier für mich bedeutet. Ich wurde geboren hinter dem Eisernen Vorhang, und meine Mutter wollte den Vorhang für mich niederreissen. Das ist der Grund, warum ich als kleines Kind Tennis gespielt habe. 1980 hatte meine Mutter nicht viele Gelegenheiten, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen und die Welt zu zeigen. Sie wählte Tennis als Ausweg aus dem Gefängnis, in dem wir lebten. Danke, Mutter.»
Dann hob sie den Blick und richtete sich direkt an Melanie Molitor: «Du hast mir mein Leben geschenkt, du hast mir Liebe geschenkt, du hast mir Tennis geschenkt. Du hast mir alles gegeben, was du geben konntest.»