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«Frauen, habt Mut, das Zepter selbst in die Hand zu nehmen!»

Was bedeutet es, wenn man in der Schweiz zu Hause ist, aber kein Mitspracherecht hat? Vier eingebürgerte Frauen erzählen anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März.

Aleksandra Hiltmann, Urs Jaudas, Daniel Ammann, Sebastian Broschinski
Aktualisiert am 8. März 2021
Elina Falchi
50, Pflegefachfrau, Zürich,
seit 1999 in der Schweiz, Stimmrecht seit 2011

«In meinem Heimatland konnte ich nie abstimmen. Ich wurde in Argentinien geboren, während der Militärdiktatur. Als Kind merkte ich nicht viel davon. Aber für die Erwachsenen war es schlimm, auch wenn sie abstimmen durften. Als ich 18 und somit stimmberechtigt wurde, tauchte mein Name fälschlicherweise nicht auf der Liste für registrierte Wählerinnen und Wähler auf. Kurz danach wanderte ich nach Italien aus.

Wie es sich anfühlte, zum ersten Mal in der Schweiz abzustimmen? Sehen Sie, ich hatte auch vorher immer das Gefühl, als Frau respektiert zu werden. In der Familie, in der Ehe. Ich hatte immer eine Stimme, aber nicht in der Gesellschaft.

«Meine Tochter soll eine gleichberechtigte Beziehung führen können.»
Elina Falchi

Je mehr Zeit ich in der Schweiz verbrachte, desto wichtiger wurde mir das Stimmrecht. Ich habe erlebt, wie sich Frauen oft an ihrem Mann orientiert haben, wenn sie abstimmten. Ich habe mich komplett von meinem Mann gelöst. Ich informiere mich und bilde mir meine eigene Meinung. Oft schicke ich meine Unterlagen bereits früh ab, während mein Mann bis zum letzten Tag überlegt.

Zu wissen, dass man, egal was passiert, hier bleiben und Entscheidungen mitlenken kann, finde ich sehr besonders. Nun, da ich auf dem Papier Schweizerin bin, kann ich politisch offiziell sagen, was ich denke. Als ‹Ausländerin› konnte ich das nicht. Und hier ist alles so gut organisiert. Alle paar Monate kriegt man ein Couvert nach Hause geschickt, man darf selbst Initiativen einreichen. Das ist ein Luxus.

Elina Falchi in ihrem Zuhause in Zürich. Ihr Quartier sieht sie als die perfekte Schweiz im Kleinen: ‹Multikulti.›

Ich habe mich immer für Frauenrechte und die Rechte von Ausländerinnen und Ausländern eingesetzt und lief an vielen Demos mit. Ich bin bei der Unia. Dort kämpfe ich für gerechtere Löhne und Arbeitsbedingungen – die würden vielen Frauen helfen.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Abstimmung über die Minarettinitiative. Die Stimmung am Tag danach hat mich beeindruckt. Das Personal war still. Niemand hat gelacht, es wurde kaum gesprochen. Muslime und Nicht-Muslime. Ich sagte zu einem Kollegen: ‹Tut mir leid, wie es gelaufen ist.›

Die Abstimmung über den Vaterschaftsurlaub dagegen hat mich gefreut. Meine zwei Kinder, besonders meine Tochter, sollen später davon profitieren und eine gleichberechtigte Beziehung führen können.»

Hazeta Salihović
56, Kinderbetreuerin, Gais,
seit 1992 in der Schweiz, Stimmrecht seit 2019

«Lange waren die Bücher, die ich schreibe, die wichtigste Form, wie ich meine Stimme und meine Erlebnisse zum Ausdruck bringe. Schon als kleines Mädchen habe ich gerne Geschichten und Gedichte geschrieben.

1992 flüchtete ich mit meinen zwei kleinen Kindern vor dem Krieg in Bosnien-Herzegowina. In meiner Heimat arbeitete ich als Biologie- und Chemielehrerin. Als ich in die Schweiz kam, brachte ich die Familie mit verschiedenen Hilfsjobs über die Runden. Damals starb meine Mutter in Bosnien, der Krieg sass mir in den Knochen, ich war mit dem dritten Kind schwanger. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens, und ich konnte mich in dieser Situation nicht richtig ausdrücken. Ich musste erst Deutsch lernen, um mir Gehör zu verschaffen.

Nach Bosnien zurückzukehren, war für mich auch nach dem Krieg unmöglich. Mein Dorf war komplett zerstört. Ich wollte meinen Kindern eine sichere Zukunft bieten und blieb in der Schweiz.

«Frauen, egal wie alt ihr seid, verschafft euch eine Stimme, sagt eure Meinung.»
Hazeta Salihović

Nun kümmere ich mich seit zehn Jahren um Kinder am Mittagstisch und in der Nachmittagsbetreuung in der Schule im appenzellischen Teufen. Es ist nicht, was ich gelernt habe, aber die Arbeit mit den Kindern macht mich glücklich.

2019 verschaffte ich mir mit der Einbürgerung auch eine politische Stimme. Endlich, nach 30 Jahren in der Schweiz. Meine erste Volksabstimmung war die Konzernverantwortungsinitiative 2020. Obwohl ich mich auch zuvor als Teil der Gesellschaft fühlte, mich in Vereinen und der Umweltschutzkommission unserer Gemeinde einbrachte, war es ernüchternd, gewisse Ergebnisse nicht aktiv beeinflussen zu können. In solchen Momenten wünschte ich mir das Stimmrecht auch ohne Staatsbürgerschaft.

Seit ihre drei Kinder mit ihren Ausbildungen fertig und ausgezogen sind, hat Hazeta Salihović wieder mehr Zeit für sich – und fürs Schreiben.

Es ist ein Privileg, seine Meinung frei ausdrücken zu dürfen und sich darauf verlassen zu können, dass insbesondere auf politischer Ebene die eigene Stimme nicht manipuliert wird oder nicht zählt, weil sie etwa von einer Frau stammt.

Die oft tiefe Stimmbeteiligung in der Schweiz erkläre ich mir so: In unserer funktionierenden Demokratie vertrauen wohl viele darauf, dass die jeweils anderen abstimmen gehen. Gerade bei nicht besonders ‹kritischen› Vorlagen. Ich finde: Jede und jeder sollte diese Verantwortung selbst übernehmen.

Ich wünsche allen Frauen: Habt Mut, das Zepter selbst in die Hand zu nehmen! Egal, wie alt ihr seid, verschafft euch eine Stimme, sagt eure Meinung, tut es auf eure ganz eigene Art und Weise. Wir brauchen mehr Frauen in der Politik, in Führungspositionen. Wir dürfen dabei nicht auf eine Quote vertrauen. Wir müssen diesen Schritt selber machen.»

Margarida Campos
50, Sitzwache und Hilfspflegerin,
Thalwil, seit 1991 in der Schweiz, Stimmrecht seit 2019

«Als ich 2019 das erste Mal abstimmen ging, war ich weder nervös noch überglücklich. Ich tat es aber erhobenen Hauptes und dachte: ‹Yes!› Es tut immer gut, wenn man ein Wörtchen mitreden kann, gerade, wenn man nicht einverstanden ist. Ich finde es gut, wenn ich als einzelne Stimme ‹Nein› sagen kann. Natürlich stimme ich nicht immer dagegen. Ich bin oft dafür, für das Positive.

Ursprünglich kam ich für eine Saison in die Schweiz, drei Monate, 1991. Und bin geblieben. Ich arbeitete viel. Zuletzt als Sitzwache und Hilfspflegerin im Stadtspital Triemli in Zürich. Ich habe nicht viel Lohn bekommen, aber den Respekt der Menschen. Darauf bin ich stolz.

«Die Frau soll neben ihrem Mann stehen, nicht einmal vor, sondern einfach neben ihm.»
Margarida Campos

Plötzlich wurde ich krank. Da begann ich, zu überlegen, ob ich den Pass beantragen soll. Ich bin schon lange in der Schweiz, fühle mich aber weder als Schweizerin noch als Portugiesin. Mittlerweile vielleicht mehr als Schweizerin, nach 30 Jahren hier im Land.

Die Sprache war für mich von Anfang an wichtig – um meine Meinung zu sagen. Von anderen höre ich, sie hätten keine Zeit gehabt, um die Sprache zu lernen. Ich glaube: Viele haben einfach keine Lust oder konzentrieren sich vor allem darauf, Geld zu verdienen. Klar ist das wichtig. Auch ich habe viel gearbeitet. Und mein Deutsch ist nicht perfekt. Aber jeder versteht, was ich meine.

Ob Leute ohne Schweizer Pass abstimmen sollten? Ich finde, es steht jeder Person frei, sich zu fragen: Was will ich? Wenn jemand den Pass möchte, soll er ihn beantragen. Auch ich musste kämpfen, um meine politische Stimme zu erhalten – viele Papiere einreichen, viel Bürokratie erledigen. Und am Schluss bezahlen.

Margarida Campos sagt offen ihre Meinung, auch wenn sie weiss, dass dies nicht bei allen gut ankommt. Sie sieht sich als Kämpferin.

Ich finde es gut, dass ich jetzt abstimmen und auch auf diesem Wege für meine Anliegen kämpfen kann. Oft dauert es etwas länger, bis es eine Lösung gibt. Aber so ist die Demokratie. Ich habe Geduld. Und ich bete viel zu Gott. Ich glaube daran, dass auch er das eine oder andere richten wird.

Vor Abstimmungen und Wahlen verfolge ich TV-Debatten, um mich zu informieren. Ich lese auch die offiziellen Broschüren zu den Vorlagen und Kandidierenden und diskutiere mit Nachbarinnen und Freundinnen. Manchmal folge ich auch meiner Intuition.

Ich finde, wir sind bereits vorwärtsgekommen. Wir haben Bundesrätinnen, Stadtpräsidentinnen, andere Politikerinnen. Aber noch halten einige an einer Mentalität fest, für die ich langsam keine Nerven mehr habe.

Ich fordere mehr Respekt für uns Frauen und dass wir für die gleiche Arbeit gleich bezahlt werden wie Männer. Schluss mit dem Macho-Getue, damit, dass der Mann vorne steht und die Frau hinter den Kulissen wirken ‹darf›. Das ist erniedrigend. Die Frau soll neben ihrem Mann stehen, nicht einmal vor, sondern einfach neben ihm. Ich bin keine Feministin, aber ich bin für Gerechtigkeit und Gleichheit. Manchmal sage ich zu mir: ‹Sei glücklich, bist du allein!›»

Fahrije Baftijari
38, Inhaberin einer Siebdruckerei, gelernte Siebdruckerin,
seit 1993 in der Schweiz, Stimmrecht seit 2013

«Die Sprache war wichtig für mich, um meine Stimme zu finden. Zu Beginn war ich gewissermassen die einzige Stimme der Familie. Meine Eltern konnten damals kein Deutsch. Ich kam 1993 aus Mazedonien in die Schweiz. Mein Vater arbeitete bei einem Landwirt, verdiente wenig und hatte kaum frei. Das Geld reichte damals nicht, um meiner Mutter einen Deutschkurs zu bezahlen.

Ich erinnere mich, wie wir in der Primarschule in Diessenhofen den Buchstaben ‹ä› lernten. Wir kriegten Hausaufgaben dazu. Ich wusste nicht, wie ich ‹ä› schreiben sollte. Also fragte ich eine andere albanische Familie. Es hat mich wahnsinnig verletzt, dass ich das nicht selbst konnte.

Vor kurzem habe ich in der Schule für albanische Eltern, die aus Italien gekommen sind, übersetzt. Die Eltern lebten davor einige Jahre in Italien und sprachen noch kein Deutsch. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Es kann nicht genug Integrationsangebote geben.

Fahrije Baftijari in ihrer Siebdruckerei in Basadingen, gleich neben ihrem Wohnort Diessenhofen. Trotz Pandemie: Sie bereut den Schritt in die Selbstständigkeit nicht.

Als ich selbst Mutter wurde, trat ich dem Elternrat bei und gründete zusammen mit einer anderen Frau das Café International. Es gibt viele Mütter, die aus einem anderen Land kommen und kaum Kontakt zu anderen Frauen haben. Die Sprache ist ein Hindernis. Im Café kommen Frauen unterschiedlichster Nationalitäten zusammen, um sich auf Deutsch zu unterhalten – oder es zu üben. Wir sprechen auch gezielt über Themen wie gesunde Ernährung für Kinder, Erziehung und Krebsvorsorge.

Seit 2013 darf ich abstimmen und wählen. Seit meiner Einbürgerung habe ich nur zwei oder drei Gemeindeversammlungen verpasst. Man erlebt und spürt die Themen, die verhandelt werden, ganz anders, als wenn man nur in den Medien darüber liest. Für mich fühlte es sich fast am wichtigsten an, endlich in meiner Wohngemeinde abstimmen zu können – hier lebe ich, das ist meine Heimat.

Welches genau meine erste Abstimmung war, daran kann ich mich nicht erinnern. Es liegen so viele dazwischen. Aber ich erinnere mich, wie aufgeregt ich war. Es war ein spannendes Gefühl, zu realisieren: Jetzt zählt auch meine Stimme, ich darf offiziell mitreden und kann das Resultat beeinflussen.

Wenn ich sehe, dass die Stimmbeteiligung tief ist, finde ich das schade. Wenn man abstimmen darf und kann, sollte man das tun. Es geht um unsere Zukunft. Speziell Jugendliche sollten mehr dafür sensibilisiert werden, wie wichtig politische Beteiligung für ihr weiteres Leben ist.

«Wenn man abstimmen darf und kann, sollte man das tun. Es geht um unsere Zukunft.»
Fahrije Baftijari

Aktuell befinde ich mich im Wahlkampf. Politik hat mich schon immer interessiert. Mit dem Pass, sagte ich mir: Jetzt will ich selbst politisch aktiv werden – aufgrund dessen, was ich erlebt habe. Gerade in die Bedürfnisse von Migrantinnen und Müttern kann ich mich gut hineinversetzen. Als die SP mich anfragte, ob ich als Stadträtin kandidieren möchte, habe ich den Vorschlag mit meinem Mann diskutiert. Und den Entschluss gefasst: Ja, das möchte ich! Mein Mann sagte von Anfang an, dass er hinter mir stehe. Das sagte er auch, als ich die Siebdruckerei, in der ich die Lehre absolvierte, übernahm. Es war ein Traum, den ich verwirklichen konnte. Einer, der auch möglich wurde, weil mein Mann hilft – im Haushalt und mit den Kindern. Auch meine Eltern und meine Brüder unterstützen mich.

Ich wünsche mir, dass Frauen nicht unterdrückt werden, frei entscheiden und ihre Meinung aussprechen können – ohne danach etwas befürchten zu müssen.»