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Auf der Spur der Dioxine

Die Schadstoffe sind hochtoxisch und überall in der Umwelt zu finden. Aber wie entstehen sie – und was macht sie so gefährlich? Die wichtigsten Antworten finden Sie hier.

Roland Gamp, Jürg Candrian, Sebastian Broschinski
Aktualisiert am 22. August 2021
In den 30 Schweizer KVA werden pro Jahr rund 4 Mio. Tonnen Abfall verbrannt.
Pro Jahr stossen die Kehricht­verbrennungs­­anlagen rund 2 Gramm Dioxine aus.
Gift aus Abfall
30 Kehricht­verbrennungs­anlagen (KVA) sind aktuell in der Schweiz aktiv. Sie haben im letzten Jahr 4’071’643 Tonnen Abfall verbrannt. Die Energie, die dabei entsteht, wird als Wärme, Dampf oder Strom genutzt – fast 5784 Gigawatt­stunden exportierten die KVA im Jahr 2020. Die Anlagen arbeiten heute mit speziellen Filtern und Verfahren, um Schadstoff­emissionen zu minimieren. Denn bei der Verbrennung können neben CO2 auch hochtoxische Nebenprodukte wie zum Beispiel Dioxine entstehen. Rund 2 Gramm* davon stiessen alle KVA zusammen laut Bundesamt für Umwelt im letzten Jahr aus. 1985 waren es noch 250 Gramm gewesen.
Eine KVA darf pro Kubikmeter Abgas maximal 0.1 Nanogramm Dioxine ausstossen.
Die Chemie der Dioxine
Dioxin ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe von chemischen Verbindungen (den polychlorierten Dibenzo­dioxinen und Dibenzo­furanen). Diese haben immer die gleiche Grundstruktur, unterscheiden sich aber in der Anzahl und Anordnung der Chlor-Atome. Einige Varianten sind relativ harmlos, andere hochtoxisch. Am gefährlichsten ist das «Seveso-Dioxin», das nach einem Chemieunfall in Italien im Jahr 1976 benannt wurde. Laut dem deutschen Umweltbundesamt ist die Substanz 500 mal giftiger als Strychnin. Industriell hergestellt werden Dioxine nicht. Sie entstehen aber in kleinsten Mengen als Verunreinigungen, wenn chlorhaltiges Material und organische Substanzen zusammen stark erhitzt werden. Also zum Beispiel bei der Abfallverbrennung. Für KVA gilt ein strenger Grenzwert, sie dürfen maximal 0.1 Nanogramm* Dioxine pro Kubikmeter Abgas ausstossen. Die meisten Dioxine gelangen heute stattdessen durch die private, illegale Verbrennung in die Umwelt.
Die Schadstoffe werden über bis zu drei Kilometer verteilt.
In die Luft und zu Boden
Dioxine binden sich in der Luft fast immer an Staubpartikel und gehen zusammen mit diesen im Umfeld der Emissionsquelle zu Boden. Experten gehen je nach Windsituation von einer Distanz bis zu drei Kilometern aus.
Ab 5 Nanogramm Dioxine pro Kilo­gramm Boden ist die Boden­frucht­barkeit nicht mehr gewährleistet.
Jahrzehnte lang im Untergrund
Einmal im Boden, bauen sich Dioxine nur extrem langsam ab. Laut einem Bericht des Kantons Zürich dauert es mehrere Jahrzehnte, bis sich ihre Menge halbiert. Zentral ist daher die Frage, wie viele Dioxine von früheren Emissionen im Untergrund stecken. Der Bund hat je nach Nutzung verschiedene Grenzwerte festgelegt, etwa für Spielplätze oder landwirtschaftlich genutzte Flächen. Ab dem Richtwert von 5 Nanogramm* pro Kilogramm Boden ist die Boden­frucht­barkeit nicht mehr gewährleistet. Ist das zu erwarten, so sorgen die Behörden für eine Über­wachung. Allerdings haben verschiedene Kantone noch gar nie Tests im Umkreis von KVA gemacht.
Ein Gramm Fett (Rohmilch) darf maximal 2.5 Picogramm Dioxine enthalten.
Der Weg in die Nahrungskette
Lagert sich dioxinbelasteter Staub aus der Luft auf Früchten und Gemüse ab, kann er in der Regel abgewaschen werden. Problematisch wird es, wenn Tiere Dioxine über das Futter oder Bodenpartikel aufnehmen. Denn die Substanz reichert sich im Körperfett an, ihre Konzentration im Tier steigt also mit der Zeit. Schliesslich können die Schadstoffe über tierfetthaltige Lebensmittel wie Milch, Fleisch, Fisch oder Eier in den menschlichen Körper gelangen. Es gibt daher auch für Lebensmittel verbindliche Grenzwerte. Ein Gramm Fett von Rohmilch darf zum Beispiel in der Schweiz nur 2.5 Picogramm* (Billionstel Gramm) Dioxine enthalten.
1.75 Picogramm Dioxine pro kg Körpergewicht nehmen Schweizer täglich auf
Kleinste Mengen problematisch
Die Schweizer Bevölkerung nimmt laut einem Bericht des Bundesamts für Lebensmittel­sicherheit deutlich mehr Dioxine zu sich, als empfohlen wird. Durchschnittlich liegt die Aufnahme pro Tag und Kilo Körpergewicht bei 1.75 Picogramm* Dioxine. Das entspricht der sechsfachen Menge dessen, was die Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit als «tolerierbar» einstuft. Akute Folgen hat die Aufnahme der kleinen Mengen über die Nahrung nicht – kritisch ist die chronische Belastung. Der Bund und die WHO stufen gewisse Dioxine als krebserzeugend ein. Sie können nach aktuellem Stand der Forschung das Nerven- und das Immunsystem schädigen und den Hormon­haushalt beeinträchtigen.

* Die Giftigkeit der verschiedenen Dioxine schwankt stark. Sie werden daher immer relativ zu ihrer Toxizität angegeben – harmlose Varianten werden weniger gewichtet, extrem toxische Varianten stärker. Grundlage bildet dabei das hochgiftige Seveso-Dioxin.