Lange waren Väter eine Art Nebenfiguren im Familienalltag, weniger präsent als die Mütter und nur an Wochenenden, Abenden oder vielleicht auch mal zum Mittagessen zu Hause. Inzwischen hat sich das Selbstverständnis vieler Väter verändert. Sie wollen nicht mehr «die Dritten» sein, neben Mutter und Kind, sondern bei der Erziehung eine ebenso wichtige Rolle spielen.
Ob innig oder kompliziert: Die Beziehung zum eigenen Vater ist eine besondere, und nicht immer eine besonders einfache. Wir wollten von unseren Leserinnen und Lesern wissen, wie sie zu ihren Vätern stehen oder standen – und haben nachgefragt. Die Resonanz war überwältigend. Wir durften viel über liebenswürdige Brummbären, allwissende Ratgeber, bewunderte Helden und cholerische Patriarchen erfahren. Über Distanzierungs- und Annäherungsversuche, Seelenverwandtschaften und Schicksalsschläge. Eine Auswahl der berührendsten Einsendungen lesen Sie hier.
« Mein Vater war Liedermacher, Sänger und Journalist. Er war in künstlerischen Dingen sehr begabt, brachte sein Talent aber nie wirklich zum Blühen. Ich erinnere mich daran, dass er oft Gitarre spielte. Als ich noch sehr klein war, haben wir gemeinsam Lieder aufgenommen.
Darüber hinaus kann ich mich heute nicht mehr an einen Alltag mit ihm erinnern, denn er war nach meinem 6. Lebensjahr nicht mehr Teil meines Lebens. In den frühen 70er-Jahren liessen sich meine Eltern scheiden. Sie hatten ein ausserordentlich zerrüttetes Verhältnis, weswegen ich nach ihrer Scheidung nur noch wenige Jahre Kontakt zu meinem Vater hatte. Meine Mutter und meine Verwandtschaft redeten ausschliesslich schlecht über ihn oder schwiegen ganz zu seiner Person. Mein Vater lebte zwar, aber er kam mir auf diese Art abhanden, er wurde mir vorenthalten. Deshalb weiss ich bis heute relativ wenig über ihn.
Mein Vater hatte zwei ganz unterschiedliche Seiten: Zum einen war er ein unglaublich charmanter, witziger, gutaussehender Mann mit vielen Frauengeschichten. Auf der anderen Seite hatte er eine sehr belastete Kindheit, griff später zu Medikamenten und Alkohol. Er starb mit 56 Jahren an Krebs, da war ich 30 Jahre alt. Seine lange Abhängigkeit von Nikotin und Alkohol hatte die Krankheit begünstigt.
Erst zwei Jahre vor seinem Tod suchte ich wieder Kontakt zu ihm. Ich war damals 28, hatte eine angespannte Beziehung zu meiner Mutter und das Gefühl, ohne Kontakt zu meinem Vater in einem luftleeren Raum, einem Vakuum zu sein. Ich hinterfragte mehr und mehr das Narrativ, das in meiner Familie über meinen Vater vorherrschte und dachte mir: «Es kann doch gar nicht sein, dass 50 Prozent von mir so schlecht sind?» Also versuchte ich, den Kontakt zu meinem Vater wiederherzustellen.
Ich hatte keine Adresse von ihm, wusste aber, wo er arbeitete. Also rief ich dort an, schilderte die Situation und fragte nach seiner Adresse. Die Frau am Telefon sagte, dass sie mir diese nicht weitergeben dürfe. Sie würde meinem Vater jedoch einen Brief von mir übergeben, wenn ich das wollte. Kurze Zeit später kam ein Brief von ihm zurück, mit seiner Handynummer und Adresse. Er war sehr glücklich über meine Kontaktaufnahme. Wir verabredeten uns für ein Abendessen in einem Restaurant.
Bei unserem Wiedersehen wartete er vor dem Eingang des Restaurants und sah mich auf sich zukommen. Er ging einen Schritt zur Seite und wollte mir Platz zum Vorbeigehen machen. Da realisierte ich: Er hatte mich als erwachsene Frau nicht erkannt. Ich hätte auch an ihm vorbeigehen können. So lange hatten wir uns nicht gesehen.
Das war zuerst ein Schock. Weh getan hat mir aber vor allem zu sehen, was aus ihm geworden ist. Ich merkte schon, dass er viel trank, aber wir führten schöne Gespräche, er machte mir unglaublich viele Komplimente, betonte, wie stolz er auf mich sei.
Auf dem Weg nach Hause war ich sehr zerrissen, von dem Bild des geistreichen, interessanten Mannes, das er mir gezeigt hatte, und jenem negativen Bild, das mir in meiner Kindheit und Jugend vermittelt worden war. Ich begann das nun mehr und mehr zu hinterfragen.
Wir sahen uns nach dem Treffen nicht mehr oft, aber haben uns immer wieder Briefe geschrieben. Ich lernte meinen Vater neu kennen und sah ihn nun mit ganz anderen, objektiveren Augen. Unsere Begegnung hatte etwas sehr Versöhnliches. Ich entdeckte meine Zuneigung zu ihm und erkannte, dass viel Gutes von ihm auch in mir steckte. Es war wie eine Fehlstellung, die ich korrigieren konnte.
Ich erinnerte mich daran, dass mein Vater mich schon als Kind sehr geliebt hat und er sehr stolz auf mich war. Diese Wertschätzung fehlte mir ansonsten sehr in meiner Kindheit. Obwohl ich mit meinem Vater nur wenig Zeit hatte, bekam ich in dieser kurzen Zeit viel Vaterliebe, die ich lange Zeit sehr vermisst hatte.
Gleichzeitig war es schwierig, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Seine weit fortgeschrittene Krebserkrankung liess vieles nicht mehr zu und ich war in vielerlei Hinsicht verletzt und unsicher.
Im Nachhinein wünsche ich mir, ich hätte einen grösseren Teil des Lebens und mehr Erinnerungen mit ihm teilen können. Ich würde ihm auch heute noch so gerne mehr von mir erzählen und hören, was er dazu sagt. »