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Drei Covid-19-Szenarien für die Schweiz
Wir haben berechnet, wie sich die Krankheit Covid-19 in der Schweiz ausbreiten könnte. Die Prognosemodelle zeigen klar: Um das Virus einzudämmen, braucht es drastische und schnelle Massnahmen.

M. Brupbacher, A. Moor

Anmerkung: Dieser Artikel wurde am 12. März noch vor dem Ausrufen des Notstandes in der Schweiz vom 17. März publiziert. Am 21. März wurde das Szenario 2 gemäss den bestätigten Fallzahlen schon überschritten. Es läuft also auf ein Szenario hinaus, dass sich irgendwo zwischen Szenario 1 und 2 bewegen wird.

Die Menschen sind lineares Wachstum gewohnt, das können sie verstehen. Exponentielles Wachstum, also eine Vermehrung, die sich ständig beschleunigt, ist schwierig zu fassen. Und das macht die Covid-19-Verbreitung so gefährlich. Zu Beginn steigt es gemächlich, dann schiesst es nach oben. Die Kurve der Corona-Fälle sieht in allen Ländern mit grösseren Ausbrüchen sehr ähnlich aus. Der Schweizer Epidemienforscher Christian Althaus schätzt eine Verdopplungszeit auch in der Schweiz von nur wenigen Tagen. Ende März hätten wir so mehr als 10’000 Fälle, danach ginge es noch steiler nach oben. Bei ungebremstem Wachstum wäre bald ein grosser Teil der Menschen in der Schweiz mit dem Virus infiziert.

Der Basler Professor am Biozentrum der Universität Basel, Richard Neher, hat mit Kollegen ein Tool konzipiert, mit welchem sich verschiedene Szenarien bei einem Covid-19-Ausbruch simulieren lassen. Wir haben damit drei Szenarien für die Schweiz entworfen.

Bitte beachten: Die berechneten Szenarien sind Modelle, kein Blick in die Zukunft. Sie sollen das Prinzip und die Auswirkungen von Eindämmungsmassnahmen veranschaulichen. Es gibt nach wie vor viele Unbekannte (Zum aktuellen Stand der Wissenschaft). Richard Neher sagt zu unseren berechneten Szenarien: «Die Parameter machen schon Sinn. Die einfachen Modelle haben aber die Tendenz, die Gesamtinfektionen zu überschätzen.»

Szenario 1
Ungebremstes Wachstum

Wir berücksichtigen die Schweizer Bevölkerung mit ihren rund 8,6 Millionen Einwohnern und ihrer Altersstruktur. Wir lassen die Simulation bis Ende Jahr laufen. Der Schlüsselwert ist der R0-Wert. Er bestimmt die Ansteckungsgefahr eines Virus, also, wie viele ­weitere Menschen ein einzelner Infizierter ansteckt. Die ETH berechnete mit einem Computermodell, dass eine mit dem Coronavirus infizierte Person im Durchschnitt zwischen 2 und 3,5 weitere Menschen ansteckt. Wir nehmen für all unsere Modellrechnungen einen R0-Wert von 2,7. Der zweite wichtige Wert für die Berechnung ist die Sterberate. Neher hat diese Zahl fix im Tool mit 0,97% verbaut. Diesen Wert hat auch Adam Kucharski, Mathematiker und Epidemiologe an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, kürzlich so berechnet. Wie sich das wie stark auf welche Altersgruppen auswirkt, wurde mit Daten der bisher grössten Fallzahlen-Studie aus China berechnet. Zudem haben wir einen mittelstarken Saison-Effekt definiert, der die Fallzahlen im Frühling/Sommer um 20% drücken kann – das aber ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein (Zum aktuellen Stand der Wissenschaft). Die Werte zur Latenzzeit und dem Infektionszeitraum belassen wir so, wie sie die Wissenschaftler für Covid-19 im Tool vordefiniert haben.

Das Resultat ist ein Schock. Hätte man überhaupt keine Eindämmungsmassnahmen getroffen und das Virus einfach durch die nicht durch Immunität und Impfung geschützte Bevölkerung laufen lassen, wären Ende April beim Höhepunkt gleichzeitig 130’000 Personen schwer oder kritisch krank gewesen und damit das Schweizer Gesundheitssystem mit seinen 1000 bis 1750 Betten auf Intensivstationen komplett überlastet. Im Juni wären bereits über 80% der Bevölkerung infiziert gewesen. Insgesamt hätte es gemäss dieser Modellrechnung über 70’000 Tote gegeben. Im Sommer wäre die Seuche praktisch vorbei gewesen mit nur noch einer Handvoll neuer Fälle pro Tag – die Herdenimmunität würde wirken. Neher sagt: «Ohne Massnahmen wird sich ein grosser Teil der Bevölkerung infizieren. Ob das nun 20, 40 oder 60% sind, wissen wir nicht.»

Zwar verläuft die Krankheit bei der Mehrzahl der Infizierten relativ harmlos. Doch etwa jede fünfte Erkrankung nimmt einen schweren Verlauf, die eine Behandlung im Spital erfordert. In Norditalien müssen 10% der Fälle intensivmedizinisch betreut werden. Sollte das Gesundheitssystem unter der Last zusammenbrechen, dürften die Todeszahlen deutlich steigen. «Was mich am meisten beunruhigt, ist die drohende Überlastung der Krankenhäuser», sagt Epidemienforscher Christian Althaus von der Universität Bern. «Die ist auch für Patienten problematisch, die beispielsweise wegen eines Herzinfarkts in Behandlung sind.»

Dass dieses erste Szenario oben eintreten wird, ist in der Schweiz unwahrscheinlich, da bereits Kontrollmassnahmen durch Bund und Kantone ergriffen wurden. Es soll aber verdeutlichen, was ohne Gegenmassnahmen hätte passieren können.

Szenario 2
Mittlere bis starke Massnahmen

Alle Einstellungen bleiben gleich wie beim Szenario 1, nur den Effekt der Massnahmen erhöhen wir. Durch Hygienebestimmungen, Social Distancing und Isolieren der Kranken kann man die Kurven drücken. So könnte in unserem Szenario der R0-Wert in der Schweiz schon bald auf etwa 1,1 gesenkt werden.

Hier ist gut zu sehen, dass die Fallzahlen-Kurve auch so zu Beginn stark steigen würde, aber nie höher als 5000 Infizierte gleichzeitig. Die Anzahl gleichzeitig schwer und kritisch Erkrankter bliebe mit einigen hundert Fällen auf tiefem Niveau stabil, das Gesundheitssystem dürfte so nicht kollabieren. Bereits ab Mai könnten so die Infektionszahlen zurückgehen. Bis in einem Jahr wären nur rund 20% der Bevölkerung infiziert. Befindet sich die Schweiz momentan in diesem Szenario? Wir wissen es nicht, niemand kann das zum jetzigen Zeitpunkt sagen, es ist unklar, ob und wie die bereits ergriffenen Kontrollmassnahmen in der Schweiz greifen. «Der Höhepunkt der Epidemie in der Schweiz könnte Mitte Mai sein», beantwortete Patrick Mathys, Leiter Sektion Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit, eine Frage eines Journalisten an der Pressekonferenz vom 11. März. Aber: Auch bei diesem Szenario könnte es mehrere Tausend Tote geben. Und: Die Kurve flacht nie vollständig ab, sie steigt Ende Jahr sogar ziemlich schnell wieder an. «Solange der R0-Wert über 1 liegt kann sich das Virus weiter ausbreiten», so Althaus. Und Neher sagt: «Wenn in der Anfangsphase der Ausbruch auf viele Tausend Fälle wächst, bleiben die täglichen Fallzahlen bei einem R0 um 1 im wesentlichen konstant. Über die Zeit führt dies auch zu vielen Fällen.»

Um das Virus erfolgreich eindämmen zu können, kommt man nicht darum herum, den R0-Wert unter 1 zu drücken. So, wie das China und Südkorea mit drastischen Massnahmen geschafft haben. In China gab es zu Beginn ebenfalls einen exponentiellen Anstieg der Corona-Fälle. Inzwischen sind die täglichen Neuinfektionen stark zurückgegangen.

Auch in Südkorea beginnen die Massnahmen zu wirken. Die täglichen Neuinfektionen sind von über 600 Anfang März zuletzt auf 114 (11. März) gefallen – innerhalb von nur 10 Tagen. Bei über 7900 Erkrankten sind bisher 66 Personen gestorben, das ist eine deutlich tiefere Sterberate, als wir sie in Italien beobachten. Entscheidend dazu beigetragen haben gross angelegte Virentests. Bis dato wurden in Südkorea mehr als 200’000 von ihnen vorgenommen. So liessen sich Infizierte frühzeitig isolieren. In der Schweiz haben sich die Behörden jedoch dafür entschieden, dass Ärzte einen Test auf Covid-19 nur noch bei schweren Fällen machen sollen. In Südkorea sind Museen geschlossen, Konzerte werden abgesagt, die Semesterferien an Schulen und Universitäten wurden verlängert.

Die Zahl neuer Infektionsfälle in der sogenannten «roten Zone» in der lombardischen Provinz Lodi, in der am 21. Februar die Coronavirus-Epidemie ausgebrochen war, hat sich ebenfalls auf Null reduziert. «Die strenge Quarantäne, die dort eingeführt wurde, ist ein Beispiel und ein Beweis, dass die Massnahmen streng angewendet werden müssen», erklärte der lombardische Präsident Attilio Fontana am 13. März.

Was strenge Massnahmen bewirken können, illustriert das letzte Szenario.

Szenario 3
Drastische Massnahmen
wie in China und Südkorea

Alle Parameter bleiben gleich wie beim Szenario 1, nur den Effekt der Massnahmen erhöhen wir erneut. Durch Hygienemassnahmen, Social Distancing und Isolieren der Kranken kann man die Kurve noch stärker drücken. Ab April könnte so der R0-Wert auf etwa 0,8 gedrückt werden, also unter die entscheidende Grösse von 1. Zum Vergleich: «Die aktuellsten R0-Werte in Wuhan werden mit 0,3 angegeben», sagt Epidemiologe Althaus.

Wenn es gelingt, durch Massnahmen den R0-Wert unter 1 zu drücken, kann die Epidemie stark eingedämmt werden. Im Maximum wären so in der Schweiz Mitte April nur 1800 Personen gleichzeitig infiziert. Die Anzahl kritisch Erkrankter bliebe überschaubar. Die Todesfälle lägen im Bereich einer stärkeren saisonalen Grippe. «Aber ein solcher Wert lässt sich nur mit drastischen Massnahmen erreichen – in der Schweiz sind wir noch weit davon entfernt», sagt Marcel Salathé, Epidemiologie-Professor an der ETH in Lausanne.

Doch auch beim Modell mit extremen Massnahmen gibt es ein Problem: Sobald die Quarantänemassnahmen aufgehoben werden, kann die Ansteckungsrate wieder steigen. Eine Lehre aus der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 bis 1920 ist, dass sich die Fallzahlen rasch wieder erhöhen, wenn die Massnahmen gelockert werden. Dann kann eine Epidemie auf einen zweiten Höhepunkt zusteuern. Das Virus ist ja immer noch da.

Der amerikanische Epidemiologe Marc Lipsitch sagte gegenüber dem «Spiegel»: «Auf lange Sicht werden sich möglicherweise ähnlich viele Menschen infizieren wie ohne diese Eindämmung, aber so verlangsamen wir die Ausbreitung entscheidend.» Warum das so wichtig ist, erklärt er so: «Erstens haben Spitäler und Ärzte in allen Ländern eine begrenzte Kapazität, und diese sollten wir nicht sprengen. Und zweitens lernen wir mit jeder Woche besser, welche Therapien bei Covid-19 anschlagen, und finden möglicherweise wirksame Medikamente. Wenn Sie die Wahl haben, dann erkranken Sie lieber in sechs Monaten als heute.»

Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte Lipsitch: «Praktisch alle Experten gehen davon aus, dass auch in Ländern, die jetzt erste wenige Tote verzeichnen, wie der Schweiz, die Todesfälle bald exponentiell anwachsen werden. Natürlich hoffen alle, dass man etwas übersehen hat und am Schluss viel weniger Opfer hat. Aber genauso gut könnten wir etwas übersehen, das die Lage noch schlimmer macht.»

Es kommt darauf an, die Kurve so früh wie möglich zum Abflachen zu bringen und darauf zu hoffen, dass möglichst schnell ein Impfstoff entwickelt wird.

Deshalb fordert auch Althaus, dass man die Einführung drastischerer Kontrollmassnahmen in Betracht zieht. «China und Italien sind uns einige Tage voraus, deshalb sollten wir von den Erfahrungen dieser Länder lernen und lieber jetzt als zu spät handeln.»

Der WHO-Epidemiologe Bruce Aylward sagt: «Das Ziel muss sein, die Hitze rauszunehmen, das Geschehen zu verlangsamen, damit es möglich wird, die am meisten gefährdeten Menschen in der Bevölkerung zu schützen und die Wirtschaft am Laufen zu halten.» Am wichtigsten sei, die betroffenen Kranken und ihre engen Kontakte extrem schnell zu finden, extrem schnell zu testen und extrem schnell zu isolieren.Zudem sei wichtig, dass man bei Krankheitssymptomen nicht unter die Menschen gehe und auch sonst auf enge soziale Kontakte generell verzichte: Kein Händeschütteln, keine Umarmungen, kein Küssen und sich gut die Hände waschen. «Das müssen wir jetzt alle üben. Und bereit sein, Versammlungen jeder Art abzusagen oder zu unterbinden», sagt er.

Und weiter: «Wir müssen jetzt im Westen die Ärmel hochkrempeln und uns an die Arbeit machen: In China wurden keine Massnahmen ergriffen, die nicht auch anderswo umgesetzt werden könnten.»

Ein direkter Vergleich der Fallzahlen der drei Modelle verdeutlicht die Dringlichkeit griffiger Massnahmen. Während die Zahl der Infizierten in Modell 1 nach oben schiesst und bei Modell 2 nie ganz verschwindet, können drastische Massnahmen in Modell 3 die Ansteckungsgefahr stark reduzieren und ein erneutes Ansteigen der Fallzahlen verhindern.

Achtung bei Prognosen

Manuel Battegay, Professor für Infektiologie an der Universität Basel, hat sich unsere Szenarien angeschaut und mahnt bei der Interpretation zur Vorsicht: «Nach wie vor gibt es grosse Unbekannte, beispielsweise die wirkliche Anzahl von infizierten Menschen, die wahrscheinlich immun sind und andere schützen können (Herdenimmunität). Auch die Transmissionsrate (R0) kann stark im Verlauf variieren. Wir kennen auch das Mass der Saisonalität nicht, das heisst wie stark die Pandemie im Sommer/Frühling abflauen wird. Daher sind Prognosen schwierig. Aber die Szenarien zeigen eindrücklich wie wesentlich Präventionsmassnahmen sind. In China, insbesondere der Provinz Hubei mit 60-70 Millionen Einwohnern, sind dadurch nicht noch schlimmere Szenarien eingetroffen. Beim Nachlassen der Massnahmen in China werden wir bald sehen, ob es zu einem Wiederaufflammen kommt oder nicht. Falls nicht, ist anzunehmen, dass doch ein grösserer Teil der Bevölkerung schon durchseucht wurde und die Herdenimmunität jetzt schützt. Auch wenn wir mit Modellen vorsichtig sein müssen, sind sie sehr wertvoll, auch um die zeitliche Dimensionen der Epidemie abzuschätzen. Der kumulative Effekt von getroffenen Präventionsmassnahmen ist gross. Jede vermeidbare Infektion hilft also, dass wir keine zu hohe Zahl schwer und kritisch kranker Patienten haben, die unser Gesundheitswesen überfordern wird.»

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