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Auch beim allerschlimmsten Szenario überleben 99,6 Prozent

Im Land herrscht eine angespannte Stimmung, viele sind besorgt oder haben sogar Angst vor dem Coronavirus. Wir wollen hier nicht verharmlosen, einige Datenvergleiche können allerdings beruhigend wirken.

Marc Brupbacher und Patrick Vögeli

Lassen sich nicht unterkriegen: Junge Menschen in Hongkong an einem Konzert. Foto: Reuters, 27. Februar 2020

Jetzt ist nicht die richtige Zeit für Panik. Selbst wenn das Worst-Case-Szenario eintrifft und sich ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung mit dem neuen Coronavirus infizieren würden, so wie das Epidemienforscher Christian Althaus in der NZZ skizzierte, würden bei den prognostizierten 30’000 Toten doch 99,6% der Schweizerinnen und Schweizer überleben. Aber derzeit deutet nichts auf so ein Szenario hin.

Zum Vergleich: In der chinesischen Krisenprovinz Hubei gibt es offiziell rund 66’000 bestätigte Covid-19-Fälle mit 2700 Toten, in der Region leben über 57 Millionen Menschen. Und es wurden zuletzt jeden Tag weniger Fälle gemeldet. Momentan sind also etwa 0,004% oder rund 1 von 24’000 Einwohnern von Hubei dem Virus erlegen. Würde die Epidemie in der Schweiz ähnlich drastisch verlaufen wie in Hubei Stand heute, gäbe es hier etwa so viele Tote wie in einer normalen, milden Grippesaison.

 

Im restlichen China gab es bisher 106 Tote auf 1,3 Milliarden Menschen, und es werden kaum mehr neue Fälle gemeldet; zuletzt waren es jeweils noch weniger als zehn am Tag. Gleichzeitig steigt die Zahl derjenigen, die sich vom Virus erholen. Von den in China mittlerweile offiziell total 79’200 Erkrankten sind über 39’000 inzwischen wieder geheilt, also mehr als die Hälfte.

Die Coronavirus-Epidemie hat nach Ansicht der WHO ihren Höhepunkt in ihrem Ursprungsort und der am schwersten betroffenen Millionenstadt Wuhan bereits am 2. Februar überschritten. Allerdings gibt es noch keine Entwarnung. Denn nun steigen die Infektionsfälle dafür ausserhalb Chinas stark an, vor allem in Südkorea, dem Iran und Italien. Es kann immer noch zu einer Pandemie kommen, die WHO schätzt das Risiko als «sehr hoch» ein.

Nicht alle Bevölkerungsschichten sind gleich gefährdet. Kinder und Jugendliche können zwar erkranken, allerdings passiert es deutlich seltener als bei Erwachsenen. Bei einer Auswertung von mehr als 44’000 Fällen aus China war nur ein Prozent der Betroffenen unter zehn Jahre alt. Unter den ersten 1000 Todesfällen in China befand sich nur eine Person zwischen zehn und 19 Jahren. Abgesehen davon scheinen Kinder das Virus auch nur selten weiterzugeben. «Wir haben bislang keinen Fall beobachtet, bei dem ein Kind einen Erwachsenen infiziert hat», sagte WHO-Experte Bruce Aylward.

 

Die im chinesischen Fachblatt «Chinese Journal of Epidemiology» publizierte Studie untersuchte Covid-19-Fälle in Festlandchina bis zum 11. Februar 2020. Bei 80,9% der Infizierten nahm die Krankheit einen milden Verlauf. Und selbst bei den schweren Fällen (13,8%) gab es keine Toten, nur bei den kritischen (4,7%).

Während Patienten ohne Vorerkrankungen eine Sterblichkeitsrate von 0,9% aufweisen, steigt die Rate bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, chronischen Atemwegserkrankungen, Bluthochdruck und Krebs drastisch an.

Der Römer Chefinfektiologe hat das so formuliert: «Menschen, die in diesen Tagen in Italien verstorben sind, sind mit dem Coronavirus verstorben, nicht wegen des Coronavirus.»

Trotzdem darf man das Virus natürlich nicht unterschätzen: Obwohl es viele milde Verläufe von Covid-19 gibt, bleibt das Virus gefährlich, auch jüngere und gesunde Menschen können daran sterben. Denn auch wenn die Sterblichkeit wegen der Anzahl leichter Fälle, die nicht bekannt wurden und als Dunkelziffer gelten, auf 0,7 bis 1 Prozent sinken würde, wovon die meisten Experten ausgehen, ist diese deutlich höher als bei der Grippe mit 0,02 bis 0,4 Prozent – zudem ist Sars-CoV-2 auch deutlich ansteckender. Influenzafälle gibt es pro Jahr weltweit bis zu 90 Millionen, dabei sterben 200'000 bis 650'000 Personen. Auch junge Personen. «Die Grippe ist eine schwere Krankheit. Letzte Woche ist bei uns eine junge Frau an Grippe gestorben», sagt Infektiologe Pietro Vernazza, Chefarzt am Kantonsspital St. Gallen, der «Wochenzeitung» (WOZ) .

Obwohl die Gefährlichkeit der Grippe bekannt ist und auch in der Schweiz daran jährlich mehrere Hundert, bei einer schweren Grippesaison wie 2015 sogar mehrere Tausend Personen sterben, scheint uns die Grippe kaum mehr Angst zu machen. Es impfen sich jährlich lediglich 20 Prozent der Bevölkerung dagegen. Dabei: Mit einer Impfung schützt man nicht nur sich selbst, sondern alle anderen auch.

 

Warum macht uns Covid-19 dann solche Angst? Sie ist auch deshalb so erschreckend, weil die Krankheit neu ist. An die Grippe haben wir uns gewöhnt, obwohl auch sie jedes Jahr tödlich zuschlägt. Wir haben uns sogar so sehr gewöhnt, dass viele die von ihr ausgehende Gefahr unterschätzen. «Es irritiert mich, wie verantwortungslos wir als Gesellschaft mit der Grippe umgehen. Klar, die Sterberate ist bei der Grippe fünf- oder zehnmal tiefer als beim Coronavirus. Aber dadurch, dass sie jedes Jahr in einer neuen Version kommt, richtet sie insgesamt einen viel grösseren Schaden an», so der St. Galler Chefarzt Vernazza.

Ja, die Schweiz steht vor einer der grössten gesundheitlichen Notlagen ihrer jüngeren Geschichte. Das hat aber hauptsächlich damit zu tun, dass es in den letzten Jahrzehnten keine grössere gesundheitliche Notlage gab.

Der allergrösste Teil der Bevölkerung wird bei einer Infektion die Krankheit sehr gut überstehen. Ganz junge Menschen müssen sich überhaupt keine Sorgen machen. Es geht jetzt darum, kühlen Kopf zu bewahren, keine Panik zu verbreiten und besonders zwei Gruppen zu schützen: ältere Menschen und solche mit chronischen Krankheiten. Darum sollte jeder diszipliniert die Anweisungen der Gesundheitsbehörden, Ärzte und Infektiologen einhalten, Hände waschen, aufmerksam sein, bei Krankheitssymptomen zu Hause bleiben.

So können Sie sich schützen

Die meisten Infektionskrankheiten werden über die Hände übertragen. Waschen Sie die Hände mehrmals täglich gründlich mit Wasser und Seife oder nutzen Sie ein Hände-Desinfektionsmittel.

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Beim Husten und Niesen ein Taschentuch oder die Armbeuge vor Mund und Nase halten. Wenn immer möglich ein Papiertaschentuch verwenden.Das Taschentuch nach Gebrauch in geschlossenen Abfalleimer entsorgen und die Hände waschen.

Vermeiden Sie direkten Kontakt mit anderen Personen. Kein Händeschütteln oder Begrüssungsküsse. Wenn möglich 2 Meter Abstand halten.Aktivitäten in der Gruppe vermeiden.

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Gegenstände und Oberflächen zu reinigen ist ein wirksames Mittel, um sich vor Ansteckung zu schützen. Kontaktoberflächen (Türgriffe, Möbel, Toilettenschüssel, etc.) werden regelmässig mit heissem Wasser, Seife oder den gängigen Haushaltprodukten gereinigt.

Bei Fieber und Husten zu Hause bleiben. Suchen Sie nur nach telefonischer Anmeldung eine Arztpraxis oder Notfallstation auf.

In erster Linie sollen Kranke eine Hygienemaske tragen, um die Übertragung von Krankheitserregern auf ihre Umgebung zu reduzieren. Hygienemasken sind nur zusammen mit den anderen Hygienemassnahmen und Verhaltensregeln sinnvoll.


Infoline des Bundes
Telefonnummer 058 463 00 00
Täglich 24 Stunden erreichbar.
Auf der Webseite des BAG gibt es tagesaktuelle Informationen.

Quelle: Bundesamt für Gesundheit
Umsetzung: lm, Tamedia Interaktiv-Team

Mit gesundem Menschenverstand können alle dazu beitragen, dass sich das Virus nur langsam ausbreitet, nie zu viele Personen aufs Mal krank sind und das Gesundheitssystem dadurch nicht überlastet wird. «Wir werden die Ausbreitung des neuen Coronavirus aber nicht verhindern können. Niemand ist immun.», sagt Infektiologe Vernazza. Die Krankheit werde den Grossteil der Bevölkerung erfassen.

Auch der deutsche Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité erwartet hohe Infektionszahlen. «Es werden sich wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent infizieren, aber wir wissen nicht, in welcher Zeit», sagte er. «Das kann durchaus zwei Jahre dauern oder sogar noch länger.» Problematisch werde das Infektionsgeschehen nur, wenn es in komprimierter, kurzer Zeit auftrete.