Die Frauen verdienen weniger als die Männer, leisten mehr unbezahlte Arbeit und übernehmen mehr Aufgaben in der Kinderbetreuung: Die Schweiz ist weit entfernt von einer gleichberechtigten Gesellschaft. Im globalen Gender-Gap-Report befindet sich das Land auf Position 18 – hinter Exoten wie Namibia und Nicaragua.
Jetzt zeigt eine Datenanalyse nach Geschlecht und Alterskategorien: Dieser Gender Gap existiert sogar bei den Corona-Ansteckungen in der Schweiz. Bis Mitte Mai gab es laut den Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) rund 13’800 Fälle bei den Männern (46 Prozent) und rund 16’500 bei den Frauen (54 Prozent) – das ist ein Fünftel mehr.
Die Analyse zeigt auch: Die deutlichen Unterschiede bei den Fallzahlen der Frauen und Männer sind erst im Zuge des Lockdown von Mitte März zustande gekommen.
Der erste Fall in der Schweiz wurde am 25. Februar bekannt, als ein 70 Jahre alter Tessiner positiv getestet wurde. Er hatte sich in Mailand bei einer Demonstration angesteckt. Betrachtet man den Zeitraum vom Bekanntwerden des ersten Falls bis Mitte März, zeigt sich: Die überwiegende Mehrheit der Infizierten waren Männer.
Mit dem Lockdown Mitte März jedoch änderte sich das Geschlechterverhältnis. Plötzlich waren deutlich mehr Frauen betroffen, und die Männer steckten sich nun vergleichsweise seltener mit dem Virus an.
Diese Trendumkehr zeigt sich in nahezu allen Kantonen – am deutlichsten aber im Tessin und in Zürich. Hinzu kommen Kantone wie Aargau, Freiburg und Basel-Stadt, wo von allem Anfang an ein Überhang infizierter Frauen registriert wurde.
Auf der anderen Seite stehen einige, allerdings kleine, Kantone wie Zug, Graubünden und Basel-Landschaft, wo seit Beginn der Pandemie stets mehr Männer als Frauen angesteckt worden sind.
Die Schweiz liegt mit diesen Zahlen im internationalen Vergleich ungefähr im Mittelfeld. In Italien zum Beispiel beträgt der Frauenanteil bei den Corona-Fällen 53 Prozent, in Deutschland sind es 52 Prozent und in Österreich 51 Prozent. In Spanien und in Schweden sind es sogar 57 Prozent.
Auch dass es erst im Zuge der Lockdown-Massnahmen zu mehr Corona-Fällen bei den Frauen gekommen ist, ist keine Eigenheit in der Schweiz. Noch Ende März hielten sich die Ansteckungszahlen zwischen Männern und Frauen in ganz Europa ungefähr die Waage. Doch seither gibt es fast überall einen Trend zu mehr Fällen bei den Frauen.
Wie solche Unterschiede zustande kommen, untersucht die Gendermedizin. Eine der führenden Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet in der Schweiz ist Catherine Gebhard, Professorin und Leiterin des Studiengangs Gendermedizin an den Universitätsspitälern Bern und Zürich. Sie sagt: «Dieses Phänomen ist bislang noch nicht aufgeklärt; ich denke aber, dass bei den Corona-Ansteckungsraten die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau eine grössere Rolle spielen als die biologischen.»
Gebhard sagt: «Krisen treffen Frauen ökonomisch fast immer härter als Männer.» Und in der Corona-Krise gebe es Hinweise, dass gerade junge weibliche Geringverdiener besonders betroffen seien. Frauen seien zudem öfter als Männer in systemrelevanten Berufen tätig – zum Beispiel in der Pflege, im Verkauf oder in der Administration. «Sie konnten sich damit während des Lockdown weniger zurückziehen.» Mit anderen Worten: Die tendenziell besser ausgebildeten Männer richteten sich im Homeoffice ein – ohne Virengefahr. Viele Frauen hingegen, oft schlechter bezahlt und ausgebildet, hatten diese Möglichkeit nicht.
Hinzu kommt ein zweiter Aspekt: «Geschlechter-Stereotype und klassische Rollenverteilungen sind während des Lockdown wieder mehr zum Tragen gekommen», sagt Gebhard. Frauen übernähmen einen grossen Teil der unbezahlten Betreuungsarbeit im engeren Umfeld. Sei es, dass sie sich mehr um Kinder und Haushalt kümmerten, soziale Unterstützung im Krankheitsfall leisteten oder betagte Angehörige pflegten.
Dieses Engagement an mehreren Fronten dürfte durch die weit verbreitete Teilzeitarbeit bei den Schweizerinnen noch erhöht werden, wie Helena Trachsel, Leiterin der Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich, vermutet. Hierzulande arbeiten fast 60 Prozent aller Frauen in Teilzeit – das ist europaweit der zweithöchste Wert. Teilzeitarbeit bedeute letztlich aber nichts anderes, als dass Frauen mobiler seien, sagt Trachsel. «Und mit der Zahl der Wirkungskreise erhöht sich das Risiko, mit dem Virus in Kontakt zu kommen.»
So deutlich die Zahlen auch sind, gilt es zu berücksichtigen, dass die Schweizer Gesundheitsbehörden im Laufe der Krise das Testregime mehrmals justiert haben. So gab es eine Phase, in der nur noch sogenannte Risikopersonen mit Symptomen getestet wurden. Es kann also sein, dass dadurch die Zahlen verfälscht worden sind.
Besonders offensichtlich wird der Gender Gap, wenn man die Alterskategorien nach Geschlecht aufschlüsselt. So zeigt die Datenanalyse, dass jüngere Frauen höhere Ansteckungsraten haben als jüngere Männer in der gleichen Altersgruppe – was die These bestätigt, dass die Arbeitssituation eine Rolle spielt bei den Ansteckungen.
Mit zunehmendem Alter nehmen die Unterschiede jedoch ab. In der Altersgruppe der 60- bis 80-Jährigen übersteigen die Ansteckungen bei den Männern sogar diejenigen der Frauen.
Dass plötzlich bei den älteren Generationen mehr Männer betroffen sind, deutet darauf hin, dass das beruflich bedingte Ansteckungsrisiko wegfällt und nun andere Faktoren wichtiger werden. «Zum Beispiel ist bekannt, dass Männer aller Altersklassen ein riskanteres Gesundheitsverhalten haben als Frauen», sagt Gebhard. Dies könne sich auch auf die Einhaltung von Hygieneregeln und anderer Schutzmassnahmen gegen das Virus auswirken.
Hinzu kommen auch biologische Faktoren. Aus der Gendermedizin weiss man, dass Frauen eine stärkere körpereigene Virenabwehr haben. Das könnte einer der Gründe sein, warum trotz allem auch in der Schweiz mehr Männer als Frauen an Covid-19 sterben. Von den rund 1500 Toten sind derzeit 60 Prozent Männer.
Die stärkere Virenabwehr könnte laut Gebhard aber auch dazu geführt haben, dass ältere Frauen weniger starke Symptome entwickelten bei einer Corona-Ansteckung, sich in der Folge weniger testen liessen als die Männer und somit natürlich auch in keiner Statistik aufgetaucht sind. Gebhard will diese Fragen nun abschliessend klären: Die Universitätsspitäler Bern, Basel und Zürich haben gemeinsam ein grosses Forschungsprojekt aufgegleist.