Wir befinden uns immer noch in der ersten Phase der Sars-CoV-2-Epidemie. Die Forscher passen bei neuen Daten jeweils ihre Ergebnisse und Erkenntnisse an. Einige Studien sind bisher nur als Vorab-Publikation (preprint) verfügbar, das heisst, sie wurden noch nicht in einem Peer Review-Verfahren begutachtet. Das ist der aktuelle Stand der Wissenschaft:
Die Sterberate von Covid-19 beträgt laut Berechnungen über alle Altersgruppen 1,1% bei Fällen mit Symptomen (Case Fatality Rate). Wenn man auch die Fälle ohne Symptome miteinbezieht, sind es 0,5% (Infection Fatality Rate). Diese Werte hat Adam Kucharski, Mathematiker und Epidemiologe an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, aktuell berechnet. Bei jüngeren Personen nehme der Wert ab (0,1%), bei älteren nehme er zu (5 bis 10%), wie er gegenüber der «New York Times» erklärt. Diese Werte bestätigt auch der Schweizer Epidemienforscher Christian Althaus auf Twitter, auch wenn seine berechnete Sterberate über alle Altersgruppen mit 1.6% etwas höher liegt. Die meisten Wissenschaftler beziffern die Sterblichkeitsrate jener Personen mit Symptomen (Case Fatality Rate) zwischen 1 und 2%, beispielsweise auch hier in einer Studie aus Südkorea vom 1. April. Damit bleibt es dabei, was ein grosser Teil der Forschung nun schon länger sagt: Covid-19 ist fünf- bis fünfzehnmal so gefährlich wie die saisonale Grippe, was die Sterblichkeit betrifft. Bei Influenza beträgt die Sterberate je nach Region und Saison 0,02 bis 0,3 Prozent. Influenzafälle gibt es pro Jahr weltweit bis zu 900 Millionen, dabei sterben 200'000 bis 650'000 Personen, in der Schweiz sterben zwischen 300 und 2500 Personen jährlich.
Besonders gefährdet sind ältere Personen. Ab 65 Jahren steigt das Risiko für Komplikationen deutlich. Auch Menschen mit Vorerkrankungen gilt es zu schützen.
Bisher starben in der Schweiz 839 Personen (8. April), die im Labor positiv auf Covid-19 getestet wurden. Davon waren 62% Männer und 38% Frauen. Die Altersspanne beträgt 32 bis 101 Jahre. Der Altersmedian liegt bei 83 Jahren. Von 620 verstorbenen Personen mit vollständigen Daten litten 98% an einer oder mehreren Vorerkrankungen. Die drei häufigsten waren Bluthochdruck (66%), Herz-Kreislauferkrankungen (56%) und Diabetes (28%).
Stand BAG vom 7. April.
81% der Covid-19-Toten waren in China über 60 Jahre alt, in Südkorea sind es 91.6%, in Italien 96.1%, in der Schweiz 97%.
Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan hat eine Schätzung gemacht, wie viele Menschen ab 15 Jahren in der Schweiz ein erhöhtes Covid-19-Risiko haben. Demnach haben knapp 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung mindestens eine Risiko-Vorerkrankung. Zu den fast zwei Millionen Personen mit einer oder mehreren Vorerkrankungen kommen zusätzlich die 65-jährigen und älteren Personen ohne Risiko-Vorerkrankung sowie die Bewohner von Alters- und Pflegeheimen, die bei der Gesundheitsbefragung nicht erfasst wurden. Das Resultat: Insgesamt 2,6 Millionen Personen über 15 Jahre in der Schweiz sind besonders gefährdet. Auf die mindestens 15-Jährigen bezogen sind das 37 Prozent.
Das Bundesamt für Gesundheit betrachtet folgende Vorerkrankungen als Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf: Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Krebs sowie Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen.
Es ist zwar sehr selten, dass junge und gesunde Menschen eine Infektion mit dem Coronavirus nicht überleben. Doch es kommt vor. Und die Wissenschaftler haben nun auch eine Ahnung, was der Grund für die dramatischen Verläufe sein könnte: Vermutlich haben diese jungen Menschen kleine Mutationen in Genen, die die Immunabwehr regeln. Diese Mutationen können sehr spezifisch und bisher im Alltag noch nie aufgefallen sein, weil sie ausgerechnet nur die Abwehr gegen das neue Coronavirus betreffen. Deshalb haben sich mehrere Forschungsinstitute zu zwei internationalen Forschungsprojekten zusammengeschlossen, der «Covid-19 Host Genetics Initiative» und dem «Covid Human Genetic Effort». Mit dabei ist auch die ETH Lausanne.
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Eine Studie vom 29. Februar ging für Italien von 72% Fällen aus, die nicht bekannt wurden. Im Iran sei diese Zahl der offiziell nicht erfassten Fälle noch grösser. Auch eine am 16. März veröffentlichte Studie in der Wissenschaftspublikation «Science» geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Infizierten um ein Vielfaches höher liegt. Demnach kommen auf jeden diagnostizierten Fall fünf bis zehn unerkannte. Bezogen auf die weltweite Statistik bedeutet das: zwischen 7.5 und 15 Millionen Menschen könnten derzeit (8. April) infiziert sein. Für ihre Simulationen stützen sich Jeffrey Shaman von der Columbia und sein Team auf Coronainfektions-Daten aus China. Die Wissenschaftler modellierten die natürliche Ausbreitung des Virus, bevor die Regierung ein Reiseverbot verhängte und die Bevölkerung umfassend auf Corona-Infektionen testete. Während dieser Zeit, zu Beginn der Epidemie blieben ungefähr 6 von 7 Fällen in China unentdeckt. Legt man dem Modell nun die Fallzahlen in der Schweiz von 22’380 bestätigten Infizierten am 8. April zugrunde, so könnte es hierzulande in Wirklichkeit zwischen 112’000 und 224’000 Infizierte Personen geben.
Eine Studie von Wissenschaftlern der London School of Hygiene and Tropical Medicine, die am 2. April aktualisiert wurde, versucht die Dunkelziffer in der Bevölkerung ebenfalls zu schätzen. Für die Schweiz wären demnach nur 20 bis 30% aller Sars-CoV-2-Infektionen offiziell nachgewiesen worden. In Ländern, die sehr schnell und viel getestet haben, wie Norwegen oder Südkorea, ist die Dunkelziffer gemäss der Studie viel geringer.
Eine weitere Studie der Universität Göttingen kommt sogar zum Schluss, dass nur 6 Prozent der weltweiten Corona-Fällen erfasst wurden. Dabei gibt es grosse Unterschiede zwischen den Ländern. Südkorea scheint fast die Hälfte der Infektionen entdeckt zu haben. Niedrig ist die geschätzte Entdeckungsrate in den USA (1,6 Prozent) und Grossbritannien (1,2 Prozent). Für die Schweiz wurde eine Rate von 7 Prozent berechnet. Auf die offiziell bestätigten Fälle vom 8. April gerechnet (22’380) würde das hierzulande 320’000 Infizierte bedeuten.
Marcel Salathé, Epidemiologie-Professor an der ETH in Lausanne, geht in der Schweiz von zwei bis fünf Mal so vielen Covid-19-Fällen aus als bestätigt sind. Das würde eine Infektionssterblichkeitsrate zwischen 0.4 und 1% bedeuten. Immer noch sehr hoch.
Sars-CoV-19 ist relativ einfach übertragbar. Infektionsmediziner Jeremy Farrar sagt: «Was wir gerade sehen, ist beispiellos. Ich weiss von keinem Ausbruch in den letzten 100 Jahren, der sich so schnell so weit ausgebreitet hat.» Die Ansteckungsgefahr eines Virus wird durch den sogenannten R0-Wert bestimmt, der angibt, wie viele weitere Menschen ein einzelner Infizierter ansteckt. Die ETH berechnete mit einem Computermodell, dass eine mit dem Coronavirus infizierte Person im Durchschnitt zwischen 2 und 3,5 weitere Menschen ansteckt. Christian Althaus, Epidemiologe an der Universität Bern, vermutet, dass der R0-Wert bei 2.2 liegt. Das Coronavirus ist ansteckender als die saisonale Grippe mit einem R0-Wert von 1,3 bis 2. Solange der R0-Wert eines Virus grösser als 1 ist, kann es sich weiter in der Bevölkerung ausbreiten. In der am stärksten betroffenen chinesischen Stadt Wuhan wurde laut einer Studie dieser Durchschnitt von 2,35 vor dem Reiseverbot am 29. Januar auf 1,05 gesenkt. «Aber ein solcher Wert lässt sich nur mit drastischen Massnahmen erreichen», sagt Marcel Salathé, Epidemiologie-Professor an der ETH in Lausanne. «Die aktuellsten R0-Werte in Wuhan werden mit 0,3 angegeben», sagt Althaus. Sobald aber die gegenwärtigen Quarantäne-Massnahmen aufgehoben würden, könne die Ansteckungsrate wieder steigen. Wie stark konnte die Verbreitung in der Schweiz bereits reduziert werden? Althaus sagte am 3. April: «Unsere aktuelle Berechnung zeigt, dass die Reproduktionszahl möglicherweise unter 1 gedrückt werden konnte, also unter die Schwelle, welche eine weitere Ausbreitung des Virus begünstigt.»
Die Inkubationszeit des neuen Coronavirus, das heisst die Zeitspanne zwischen der Ansteckung und dem Auftreten der ersten Symptome, beträgt etwa drei bis sieben Tage. Sie kann jedoch bis zu 14 Tage dauern. Im Schnitt beträgt sie 5 bis 6 Tage (Median). Wenn man an einer viralen Atemwegserkrankung leidet, ist man in der Regel dann am ansteckendsten, wenn man die stärksten Symptome hat. Beim neuen Coronavirus könnte das anders sein. Man ist möglicherweise bereits vorher ansteckend: unmittelbar bevor Symptome auftreten. Eine Studie stützt diese These, gemäss ihr geschehen 25 bis 30% der Ansteckungen in der Phase, wo der Erkrankte keine Symptome hat. Eine andere Studie sieht diese Werte sogar bei 48% (für Singapur) und 62% (für China). Eine dritte Studie schätzt, dass 44% der Ansteckungen geschehen, noch bevor Symptome entwickelt wurden.
Die WHO sagt hingegen: Bei Covid-19 seien zwar Übertragungen 24 bis 48 Stunden vor dem Auftreten von Symptomen bekannt, sie seien aber nach derzeitigem Kenntnisstand anders als bei der Grippe selten und spielten für die Weiterverbreitung kaum eine Rolle. Eine Übertragung vor dem Auftreten von Symptomen lässt sich nur schwer kontrollieren. Bei Sars war das anders. Da passierte die Übertragung fast ausschliesslich von Menschen mit Symptomen.
Das serielle Intervall definiert das durchschnittliche Intervall vom Beginn der Erkrankung eines ansteckenden Falles bis zum Erkrankungsbeginn eines von diesem angesteckten Falles. Das serielle Intervall ist meistens länger als die Inkubationszeit, weil die Ansteckung im Allgemeinen erst dann erfolgt, wenn ein Fall symptomatisch geworden ist. Das serielle Intervall lag in einer Studie mit 425 Patienten im Mittel bei 7,5 und in einer anderen Studie bei geschätzten 4 Tagen, basierend auf der Analyse von 28 infizierten Paaren. Letztere Ergebnisse würde bedeuten, dass bei der durchschnittlichen Inkubationszeit von 5,5 Tagen die Ansteckung noch vor dem Beginn der Symptomen erfolgte.
Die Übertragung erfolgt primär durch Tröpfchen: Niest oder hustet die erkrankte Person, können die Viren direkt auf die Schleimhäute von Nase, Mund oder Augen von anderen Menschen gelangen. Dies kann direkt von Mensch zu Mensch über die Schleimhäute geschehen oder auch indirekt über Hände.
Eine Studie, die im US-Fachblatt «Journal of the American Medical Association» (Jama) veröffentlicht wurde, kommt zum Schluss, dass das neue Coronavirus auch über verunreinigte Flächen weitergegeben werden kann. In der gleichen Studie, in welcher die Zimmer von Covid-19-Patienten untersucht wurden, gibt es auch Hinweise, dass das Virus über Exkremente übertragen werden kann. In der Luft fanden sie keine Viren.
Eine andere Studie des US-Gesundheitsinstituts NIH fand heraus, dass Sars-CoV-2 auf Kunststoff und Edelstahl bis zu 72 Stunden überleben kann. Auf Karton und Papier dagegen überlebte das Virus nur bis zu 24 Stunden. Das heisst, dass solange noch lebensfähige Viren nachweisbar waren, ihre Menge sich aber deutlich reduziert hatte. In der Luft ist es als Partikel (Aerosolen) noch nach drei Stunden nachweisbar. Die Wissenschaftler schlussfolgern, dass ein solcher Übertragungsweg plausibel sein könnte. Es kommt jedoch auch darauf an, wie hoch die Viruslast in den Aerosolen ist und ob diese ausreicht, um einen anderen Menschen zu infizieren. Das Robert Koch-Institut schreibt, dass es bisher keine Evidenz dafür gibt, dass sich Menschen über Aerosole mit Sars-CoV-2 angesteckt haben. Da die Studienlage dazu jedoch noch recht dünn ist, kann die Möglichkeit auch nicht völlig ausgeschlossen werden. Die US-Studie konnte nicht klären, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit man sich aufgrund aktiver Viren auf Oberflächen oder in der Luft infizieren kann. Es kommt auch darauf an, wie viele Viren an einer Stelle aufgenommen werden, also wie gross die Viren-Konzentration etwa an der Türklinke ist. Wie viele das für eine Ansteckung sein müssten, ist noch nicht bekannt.
Bislang seien keine Übertragungen des Virus in Supermärkten, in Restaurants oder auch beim Friseur nachgewiesen worden, erklärte hingegen der Bonner Virologe Hendrik Streeck. Für Streeck sieht es so aus, «dass eine Türklinke nur infektiös sein kann, wenn vorher jemand quasi in die Hand gehustet und dann draufgegriffen hat.» Danach müsse man selbst auf die Türklinke greifen und sich ins Gesicht fassen. «Wir waren in einem Haushalt, wo viele hochinfektiöse Menschen gelebt haben, und trotzdem haben wir kein lebendes Virus von irgendeiner Oberfläche bekommen», sagte er gegenüber dem Deutschlandfunk.
Auch Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité hatte zuvor im NDR-Podcast darauf hingewiesen, dass Coronaviren gegen Eintrocknung extrem empfindlich seien. Deshalb spielt eine Übertragung per Kontakt zum Beispiel mit Scheinen oder Münzen nach Einschätzung des Virologen kaum eine Rolle.
Also: Eine Übertragung durch Schmierinfektion durch kontaminierte Oberflächen ist prinzipiell nicht ausgeschlossen. Welche Rolle sie spielt, ist nicht bekannt. Eine Ansteckung erfolgt aber primär direkt von Mensch zu Mensch.
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Zur Frage, für wen das Tragen von Schutzmasken tatsächlich sinnvoll ist, hört man derzeit sehr unterschiedliche Einschätzungen. Klar ist, dass bereits infizierte Personen eine Weitergabe des Virus durch das Tragen einer Maske verhindern können. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt Gesundheitsfachpersonen und vor allem medizinischem Spitalpersonal eine Maske zu tragen, abhängig davon wie stark die Personen einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind. Klar ist auch, dass das alleinige Tragen einer Schutzmaske keinen sicheren Schutz vor einer Ansteckung bietet. Handhygiene und das Einhalten des Mindestabstandes sind weiterhin die primären Empfehlungen, um sich zu schützen. Entscheidend ist auch die korrekte Verwendung der Maske, vor allem das Auf- und Absetzen muss richtig ausgeführt werden. Gemäss Epidemiologe Peter Jüni könnte das Tragen von Masken für ungeübte Personen sogar kontraproduktiv sein: «Sie machen das Ganze womöglich noch schlimmer, weil sie dazu verführen, sich öfter ins Gesicht zu fassen», sagte er in der SRF-Sendung «Puls». Zudem seien die Augen nicht geschützt, über die man sich ebenfalls anstecken könne.
Für Irritation sorgen derzeit unterschiedliche Empfehlungen von Gesundheitsbehörden und der Wissenschaft in Bezug auf einen Einsatz von Schutzmasken im öffentlichen Raum. In Österreich müssen die Menschen beim Einkaufen Schutzmasken tragen. Asiatische Länder setzten beim Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus von Anfang an auf diese Massnahme. Das Robert-Koch-Institut in Berlin hatte zunächst nur Menschen mit akuten Atemwegserkrankungen einen Mundschutz empfohlen, räumte dann aber ein, dass, wenn Menschen – auch ohne Symptome – vorsorglich eine Maske tragen, dies das Risiko einer Übertragung von Viren auf andere mindern könnte. Wissenschaftlich belegt sei das aber nicht. Dass der Anteil infizierter Personen ohne Krankheitssymptome erheblich sein kann, zeigen verschiedene Untersuchungen (siehe Asymptomatik). In der Schweiz lautet die offizielle Einschätzung dennoch anders. Auf der BAG-Website heisst es sogar explizit: «Gesunde Personen sollen in der Öffentlichkeit keine Hygienemasken tragen.» Sie würden nicht effektiv vor einer Ansteckung schützen. Unklar bleibt, welche Rolle die eingeschränkte Verfügbarkeit bei den Weisungen des BAG spielt.
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Wer sich mit dem neuen Coronavirus infiziert, ist vor allem kurz vor dem Ausbruch und zu Beginn der Krankheit am ansteckendsten – in dieser Zeit wurden die meisten Virusmengen im Körper gefunden. In einer Studie mit neun Patienten wurde die Ausscheidungsdynamik vermehrungsfähiger Viren untersucht. Abstrichproben vom Rachen enthielten vermehrungsfähige Viren bis zum vierten Tag nach Symptombeginn, aus dem Auswurf bis zum achten Tag nach Symptombeginn. Weder im Stuhl noch im Urin oder Serum konnten vermehrungsfährige Viren nachgewiesen werden. Sobald die Produktion von Antikörpern einsetzt, sinkt die Infektiosität der Erkrankten schnell. «Covid-19-Erkrankte können nach etwa 10 Tagen nach Ausbruch der Krankheit keine anderen Menschen mehr infizieren», sagt Ali Khan, Dekan des College of Public Health am medizinischen Zentrum der Universität von Nebraska in Omaha.
Eine andere Studie kam zu ähnlichen Resultaten. Die höchsten Virenmengen von Sars-CoV-2 wurden im Rachen von Patienten noch vor dem Tag 5 nach Ausbruch der Krankheit gefunden, und sie waren bis zu Tausend Mal grösser als bei der Lungenkrankheit Sars. Die Forscher kommen deshalb zum Schluss, dass Sars-CoV-2 viel einfacher übertragen werden kann als damals Sars und vor allem zu einem Zeitpunkt, wenn die Symptome zu Beginn der Krankheit noch mild sind.
Bei der bisher gängigen Testmethode wird in einem Rachenabstrich nach der Ribonukleinsäure (RNA) des Coronavirus gesucht. Dies braucht momentan rund acht Stunden Zeit und weist nur akute Infektionen zuverlässig nach. Blutanalysen könnten hingegen zeigen, ob jemand eine Infektion mit Sars-CoV-2 durchgemacht hat und immun ist, also Antikörper im Blutserum vorhanden sind. BAG-Experte Daniel Koch erhofft sich von den serologischen Tests zusätzliche Erkenntnisse, die Aufschluss über die Durchseuchung und damit über die Immunisierung der Bevölkerung geben sollen. Solche sind zwar noch nicht breit auf dem Markt verfügbar, doch führen derzeit verschiedenen Forschungsgruppen Testreihen durch. Laut Koch will das BAG eine Meldepflicht einführen.
Noch sind diese Tests also nicht ausgereift und viele Fragen offen. Nicolas Vuilleumier, Leiter der Labormedizin am Universitätsspital Genf und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Klinische Chemie, warnt davor, diese Tests vorschnell anzubieten. Rund 40 Prozent der Diagnostiktests sind CE-zertifiziert und erfüllen deshalb gewisse Qualitätsanforderungen. Diese sind jedoch laut Vuilleumier minimal. So ist auch bei ihnen fraglich, inwieweit die Messresultate vergleichbar und reproduzierbar sind. Derzeit gibt es nicht einmal Angaben dazu, wie häufig Resultate fälschlicherweise positiv oder negativ ausfallen. Insbesondere bei einem falschen positiven Resultat können sich die Getesteten in falscher Sicherheit wiegen, sich anstecken und das Virus weiterverbreiten. Trotzdem bieten in der Schweiz schon jetzt diverse medizinische Labors die Antikörpermessungen an. Auch Dr. Giuseppe Togni vom Unilabs-Referenzlabor in Coppet ist zurückhaltend, wenn man ihn fragt, wann die Antikörpertests im grossen Stil eingesetzt werden können. Ein paar Wochen werde man schon noch brauchen, je nach Resultat der ersten Tests mit Patienten, welche das Virus durchgemacht haben.
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80% der Covid-19-Erkrankungen verlaufen mild. Der allergrösste Teil der Bevölkerung wird bei einer Infektion die Krankheit sehr gut überstehen, manche werden nicht einmal etwas bemerken. Aber was heisst mild konkret? WHO-Epidemie-Experte Bruce Aylward sagt, es seien nicht immer nur leichte Erkältungssymptome. «Mild kann auch Fieber, Husten – vielleicht sogar eine Lungenentzündung bedeuten, aber ohne der Notwendigkeit einer künstlichen Sauerstoffzufuhr. Bei den 20% schweren Fällen ist die Atemfrequenz erhöht und die Sauerstoffsättigung sinkt, so dass ein Sauerstoff- oder Beatmungsgerät nötig wird. Kritisch (5%) bedeutet Atemversagen oder Multiorganversagen.» Ärzte in Norditalien teilen in einem Schreiben mit, dass 10% der Fälle intensive medizinische Betreuung benötigen.
Allgemeingültige Aussagen zum typischen Krankheitsverlauf seien nicht möglich, erklärt das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. Nach Daten der WHO dauern milde Krankheitsverläufe im Mittel zwei Wochen, schwere drei bis sechs Wochen. Die Krankheit beginne nach den bisherigen Erfahrungen mit Halskratzen oder -schmerzen. Am häufigsten sind Fieber, Husten und Atembeschwerden. Diese Symptome können unterschiedlich schwer sein. Einige Erkrankte haben auch Probleme mit der Verdauung oder den Augen (Bindehautentzündung). Der Verlust des Geschmacks- und Geruchsinns kann britischen Wissenschaftlern zufolge ein starkes Indiz für eine Infektion mit Covid-19 sein. Nach einer Studie haben fast 60 Prozent der Patienten über den Verlust der beiden Sinne berichtet.
Wie es rund 100 Menschen im besonders betroffenen Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen in häuslicher Isolation ergangen ist, haben Teams um den Bonner Virologen Hendrik Streeck erfragt: «Das am häufigsten beschriebene Symptom war trockener Reizhusten mit 70 Prozent, vor dem Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn mit 68 Prozent und Müdigkeit mit 68 Prozent», sagt er. Aber auch von einer «laufenden Nase», Kopf-, Muskel- und Halsschmerzen sowie Fieber berichteten viele Erkrankte. «Manche waren ganz schön K.o.», sagt der Wissenschaftler. Auch Durchfall sei nicht selten gewesen.
Bei Patienten mit Symptomen der oberen Atemwege dauere es nach den bisherigen Erfahrungen vier bis acht Tage bis sich entscheide, ob die Erkrankung auch die unteren Atemwege befällt. Es gebe aber auch Patienten, die direkt eine Lungenentzündung bekommen, ohne dass vorher die oberen Atemwege betroffen sind. Das Krankheitsbild bei Covid-19 unterscheide sich deutlich von den bisher gekannten Lungenentzündungen, sagt Martin Witzenrath von der Klinik für Infektiologie und Pneumologie der Charité Berlin. «Das Besondere daran ist, die Patienten haben zum Teil ein bisschen Luftnot, nicht dramatisch, man hat den Eindruck, die sind gar nicht besonders krank. Dann guckt man sich die Lunge im CT an und die sieht ganz schlimm aus. Es ist etwas, das wir so bisher nicht kennen.» Beispielsweise könne dann schon mehr als die halbe Lunge durch das Virus geschädigt sein. Der Verlauf könne sich dann rapide verschlechtern. Der Mediziner nennt Alarmsignale: «Wenn Sie eine Treppe hochgehen, die Sie sonst locker bewältigen, und nach der Hälfte merken, Sie bekommen deutlich keine Luft mehr, sollte das nachdenklich stimmen. Vor allem, wenn man schon älter ist, Vorerkrankungen hat.»
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Etwa die Hälfte der Menschen, die sich angesteckt haben, würden das gar nicht merken, sagte kürzlich RKI-Chef Lothar Wieler: «Die sehen wir gar nicht.»
Eine Analyse der Infektionen und Erkrankungen auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess, auf dem sich etwa 700 der 3711 Passagiere und Crewmitglieder angesteckt hatten, bestätigt den oftmals ungewöhnlichen klinischen Verlauf nach einer Infektion mit Sars-CoV-2. Fast alle Fahrgäste auf dem Schiff wurden getestet, manche mehrmals. Doch obwohl sich vor allem ältere Menschen an Bord befanden und in dieser Gruppe schwere Verläufe häufiger sind, wurden bei 18 Prozent der Infizierten keine Symptome festgestellt, wie das Fachmagazin «Nature» berichtet. «Das ist ein erheblicher Anteil», sagt der Epidemiologe Gerardo Chowell von der Universität Atlanta, der an der Studie beteiligt war. Werde die Altersverteilung auf dem Schiff berücksichtigt, könne dies bedeuten, dass der Prozentsatz der Infizierten ohne Symptome in der Allgemeinbevölkerung weitaus höher liege.
Eine Analyse bei Japanern, die nach dem Corona-Ausbruch in Wuhan in ihr Land zurückgeholt worden waren, ergab einen Anteil von 33 Prozent Infizierten, die keine Symptome aufwiesen.
In Island hat die Biotech-Firma deCODE Genetics mehr als 6000 Tests durchgeführt, allesamt an Freiwilligen, die keine oder kaum Symptome hatten. Etwa die Hälfte der Infizierten hatte überhaupt keine Symptome, der Rest jene einer sehr milden Erkältung.
Kinder können sich auch infizieren, entwickeln aber in den meisten Fällen keine oder nur sehr milde Symptome. Weil sie weniger Symptome haben, sind sie vermutlich auch weniger ansteckend. WHO-Epidemie-Experte Aylward sagte nach einem Studien-Besuch in China: «Ich habe Dutzende von Ärzten gefragt: Haben Sie eine Übertragungskette gesehen, bei der ein Kind der Ursprung war? Die Antwort war nein.» Vorläufige Daten lassen demnach annehmen, dass Kinder sich vor allem bei Erwachsenen anstecken, Erwachsene aber umgekehrt eher weniger bei Kindern.
Noch ist nicht abschliessend geklärt, ob sich Kinder tatsächlich seltener infizieren oder sich die Infektion einfach nur nicht zeigt. Eine chinesische Untersuchung spricht für die zweite Version. Demnach stecken sich Kinder zwar genauso häufig an, entwickeln aber viel seltener Beschwerden.
Im Zuge der Coronavirus-Pandemie sind in Italien auch Hunderte Kinder positiv auf den Erreger getestet worden. «Es gibt aber bisher keine Todesfälle und keine schweren Verläufe bei Kindern», sagte Alberto Villani, Präsident des italienischen Kinderarztverbandes.
Mediziner des Wuhan Children's Hospital haben ihre Erfahrungen in einem Brief an das «New England Journal of Medicine» veröffentlicht. In ihrem Schreiben werten die Mediziner die Krankheitsverläufe von 171 Kindern aus. 15,8 Prozent hatten gar keine Beschwerden. Knapp die Hälfte litt unter Fieber, viele husteten und ihr Rachen war gerötet. Im Schnitt hielt das Fieber drei Tage an, bei einem Grossteil erreichte es keine höheren Werte als 39 Grad Celsius.
Trotzdem warnt die WHO: Auch Kinder können sich mit dem Coronavirus infizieren und schwer erkranken. «Die Annahme, dass Covid-19 nur ältere Menschen betrifft, ist faktisch falsch», sagte der Regionaldirektor Europa der WHO, Hans Kluge. Weltweit habe es mehrere Fälle von jungen Coronavirus-Infizierten gegeben, deren Erkrankung einen schweren Verlauf genommen hätten. Einige von ihnen seien sogar an den Folgen ihrer Infektion gestorben.
Bei Sars und Mers waren Kinder auch weniger stark betroffen. «Eine Theorie ist, dass die Andockstellen in der Lunge für Sars-CoV-2 noch weniger ausgeprägt sind. Wir verstehen aber noch nicht, bei wem 2019-nCoV zu einer schweren Krankheit mit Lungenentzündung oder einem milden Verlauf führt», so Manuel Battegay, Professor für Infektiologie an der Universität Basel.
Anders bei der Grippe: Als besonders von schweren Verläufen betroffene Risikogruppen gelten bei Influenza auch Kinder. Und: Sie sind bedeutsame Treiber für die Übertragung von Influenzaviren in der Gemeinschaft. Die «New York Times» ging der Frage detaillierter nach, warum Kinder seltener und wenig schwer an Covid-19 erkranken. Klare Antworten gibt es noch nicht. Bei Covid-19 gehören gemäss WHO auch Schwangere nach derzeitigem Wissensstand NICHT zu den Risikogruppen.
Es sterben mehr Männer als Frauen an einer Infektion mit dem neuen Coronavirus. Die Unterschiede sind in den Ländern, die die Zahlen nach Geschlechtern aufschlüsseln, recht deutlich. Englische Forscherinnen der Initiative Global Health 50/50 haben eine Auswertung veröffentlicht. In Italien beispielsweise sind 71 Prozent der Verstorbenen männlich, in China 64 Prozent, in Spanien 65 Prozent und in der Schweiz 62 Prozent. Dabei stecken sich Frauen nicht viel seltener als Männer an. Wissenschaftlerinnen haben schon einige Vermutungen, warum Männer häufiger sterben. Frauen haben ein stärkeres Immunsystem als Männer. Warum das so ist, weiss man noch nicht im Detail. Dass Frauen die Belastungen von Schwangerschaft und Geburt durchstehen müssen, ist aber einer der vermuteten Gründe. Das stärkere Immunsystem hat nicht nur Vorteile, vor allem dann nicht, wenn es sich gegen den eigenen Körper richtet. Frauen erkranken häufiger als Männer an Autoimmunkrankheiten wie multiple Sklerose oder Lupus. Aber sie sind dafür besser geschützt vor Infektionen. Zudem: Männer haben einen riskanteren Lebensstil, trinken mehr Alkohol und greifen häufiger zu anderen Suchtmitteln. Noch immer rauchen weltweit deutlich mehr Männer als Frauen. Ganz überraschend ist der Trend bei Covid-19 nicht. Bereits frühere Studien zu den Infektionskrankheiten Sars und Mers, beide auch von Coronaviren verursacht, zeigten das Gleiche: Schon bei diesen Epidemien gab es unter Männern mehr Todesopfer.
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Der Epidemieforscher Marc Lipsitch von der Harvard University sagt, 20 bis 60% der Menschen werden sich mit Sars-CoV-2 infizieren. Die meisten seiner Kollegen stimmen ihm zu, die WHO spricht von 40 bis 80%. Auch der deutsche Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité erwartet hohe Infektionszahlen. «Es werden sich wahrscheinlich bis zu 70 Prozent infizieren, aber wir wissen nicht, in welcher Zeit», sagte er. «Das kann durchaus zwei Jahre dauern oder sogar noch länger.» Problematisch werde das Infektionsgeschehen nur, wenn es in komprimierter, kurzer Zeit auftrete. Die meisten Epidemiologen gehen davon aus, dass das Virus langfristig bei uns bleiben wird. Sars-CoV-2 wird sich in der menschlichen Population etablieren und über die nächsten Jahre mit uns bleiben. Zum Vergleich: Mit der Grippe stecken sich gemäss WHO weltweit jährlich 5 bis 20% an. In der Schweiz 2 bis 5%.
Auch wenn das Bundesamt für Gesundheit (BAG) keine Szenarien durchspielen will, so gehört dies doch zum Alltag von Epidemiologen. Gerade zu Beginn eines Ausbruchs sei es wichtig, auch über Worst-Case-Szenarien zu sprechen, weil alle wissen sollten, was es zu verhindern gelte, sagt Marcel Salathé, Epidemiologie-Professor an der ETH Lausanne. Ende Februar bezifferte er beim schlimmsten Szenario ohne Massnahmen die Anzahl Toten mit 20’000 bis 35’000 in der Schweiz. Auch sein Kollege Christian Althaus von der Universität Bern hat solche Prognosen mit 30’000 Toten aufgezeigt. «Das Schwierige an dieser Rechnung ist, dass man diese Zahlen zu Beginn nur grob abschätzen kann», sagt Salathé. Aber würde man zu einem Zeitpunkt ohne Impfstoff oder Medikamente Sars-Cov-2 einfach durchlaufen lassen, dann müsste man ohne Gegenmassnahmen durchaus mit solchen Todeszahlen rechnen.
«Wir haben keinen Impfstoff und keine Immunität wie bei der saisonalen Grippe, an welcher jedes Jahr dennoch etwa bis zu 10% der Bevölkerung erkranken und zwischen 500 und 2500 Personen sterben», so Salathé. «Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Verbreitung so gut wie möglich eindämmen. Aber nicht mit dem Konzept Hoffnung, sondern mit Massnahmen.» Um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und Zeit für die Entwicklung eines Impfstoffes zu gewinnen, müsse die Zunahme der Infektionen zeitlich möglichst lange hinausgezögert werden.
Basierend auf dem sogenannten Modell SEIR, das Virologen weltweit anwenden um Prognosen zur Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu machen, haben wir eine Modellierung für die Schweiz gemacht. Für die Variablen wie Ansteckungsrate, Inkubationszeit und Dauer der Erkrankung haben wir Daten verwendet, von welchen die Forscher bisher ausgehen für Covid-19. Ohne Massnahmen hätte sich die Epidemie extrem schnell verbreitet und einen Höhepunkt im Mai erreicht. Dabei wären über 100’000 Menschen in der Schweiz gleichzeitig erkrankt. Der Basler Professor am Biozentrum der Universität Basel Gerhard Neher sah es noch düsterer: «Es ist realistisch, dass 200'000 Personen in der Schweiz gleichzeitig krank sein könnten. Aber die Unsicherheit bei diesen Prognosen ist natürlich gross.»
Viele werden mit milden Symptomen die Krankheit überstehen. Aber gemäss heutigen Annahmen werden auch 10% intensivmedizinische Pflege benötigen. Im Szenario ohne Massnahmen wären also im Mai 10’000 Spitalbetten nötig gewesen - die Schweiz verfügt aber nur über 1000 bis 1750 Betten auf Intensivstationen. Durch Versammlungsverbote, Hygieneregeln, Social Distancing, etc. kann aber die Verbreitung des Coronavirus stark gebremst werden. Die Anzahl Personen, die medizinische Hilfe benötigen, könnte um 60 bis 80 Prozent gesenkt werden. «Was mich am meisten beunruhigt, ist die drohende Überlastung der Krankenhäuser», sagt Epidemienforscher Christian Althaus von der Universität Bern. «Die ist auch für Patienten problematisch, die beispielsweise wegen eines Herzinfarkts in Behandlung sind.»
Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte Salathé: «Vielleicht können wir die Dynamik abbremsen, weil die Leute jetzt schon zu Hause bleiben und Social Distancing machen. Dementsprechend würde die Epidemie in der Schweiz dann viel langsamer verlaufen, und es brauchte gar keine zusätzlichen drastischen Massnahmen. Das wäre der Idealfall. Aber man sollte sich zumindest psychologisch darauf vorbereiten, dass es ein aussergewöhnliches Jahr wird mit weniger Meetings, weniger Reisen und mehr Homeoffice. Das ist unvermeidbar.»
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US-Präsident Donald Trump behauptete in einem Meeting im Weissen Haus, dass das Coronavirus mit den wärmeren Tagen im April wieder verschwinden werde. «Es ist möglich, aber diese Analogie zur Grippe und Erkältungskrankheiten ist bisher noch reines Wunschdenken», sagt der Epidemiologe Stephen Morse von der Columbia University in New York. «Warten wir bis April, dann wissen wir, ob es wahr ist.» Was wir bis jetzt wissen: Andere Coronaviren treten durchaus nur in bestimmten Jahreszeiten auf, wie diese Studie eines schwedisch-schweizerischen Forschungsteams belegt. Es ist also zu hoffen, dass Sars-CoV-2 sich bald weniger stark verbreiten wird.
Aber selbst wenn es so wäre, würde die Saisonalität des Virus die Pandemie nicht stoppen. Wie Marc Lipsitch, Professor für Epidemiologie an der Universität Harvard, schreibt, kann ein leichter Rückgang von Sars-CoV-2 in den nördlichen Hemisphären möglich sein. Es sei aber nicht vernünftig, zu hoffen, dass dies zu einem entscheidenden Rückgang führen werde. Ein aktuell erschienener Vorabdruck einer Studie, an welcher Lipsitch mitgearbeitet hat, legt nahe, dass eine Verbreitung des neuen Coronavirus in vielen verschiedenen Klimazonen stattfinden kann. So sei beispielsweise auch Singapur, das fast am Äquator liegt, von der Epidemie betroffen.
Für Richard Neher, Professor am Biozentrum der Universität Basel und Experte für die Verbreitung von Viren ist klar: «Covid-19 wird im Frühling und Sommer nicht verschwinden, im besten Fall können wir mit weniger Ansteckungen rechnen. Falls es gelingt, den Ausbruch derart zu verzögern, dass sich bis im Sommer nur ein kleiner Teil der Bevölkerung infiziert, gewinnen wir Zeit, um uns auf eine zweite Welle im Herbst vorzubereiten.»
Auch Epidemiologe Marcel Saltahé relativiert: «Man kann nicht davon ausgehen, dass das Virus im Frühling einfach verschwinden wird, wie dies gewisse Politiker auch jenseits des Atlantiks behauptet haben.» Das Virus breite sich ja auch in Ländern mit ganz anderen klimatischen Verhältnissen stark aus. «Wir rechnen damit, dass es uns die kommenden Wochen und Monate erhalten bleibt.»
Eine Forschungsgruppe um Markus Lill von der Universität Basel hat sich mit computergestützten Methoden auf die Suche nach Wirkstoffkandidaten gegen das neue Coronavirus gemacht. Das Team durchforstete 678 Millionen Substanzen mit dem Ziel, Kandidaten zu finden, die an einem essenziellen Enzym des Virus angreifen. Sie testeten die Substanzen dabei rein virtuell, wie die Uni Basel mitteilte. Die Forscher identifizierten ein Dutzend Kandidaten, die das Potenzial hätten, das essenzielle Enzym des Virus und damit seine Vermehrung zu blockieren. Normalerweise würden die Wissenschaftler diese aussichtsreichen Kandidaten in Zusammenarbeit mit anderen Forschungsgruppen experimentell testen, bevor die Ergebnisse patentiert und veröffentlicht würden. Aufgrund der derzeitigen Notlage veröffentlichten Lill und sein Team ihre Ergebnisse jedoch bereits auf dem Preprint-Sever ChemRxiv, um sie anderen Forschenden zur Verfügung zu stellen.
Die Medikamentenentwicklung braucht aber Zeit. Dass die Ergebnisse noch im Zuge der derzeitigen Epidemie zu einem Wirkstoff führen, ist daher ein sehr ehrgeiziges Ziel, räumt Lill ein. Dennoch sei wichtig, Wirkstoffe für zukünftige Coronaviren zu entwickeln. «So können ähnliche Gesundheitsnotstände wie der momentane im Keim erstickt werden.» Für die derzeitige Epidemie setzen Forschungsgruppen vor allem darauf, die Wirksamkeit bereits existierender Medikamente gegen Sars-CoV-2 zu prüfen.
Amerikanische und chinesische Forscher testen im Moment ein Medikament, das vor allem den Schwererkrankten helfen soll. Ein erfolgversprechender Kandidat ist das Medikament Remdesivir, dass in Einzelfällen bereits gewirkt hat. Die Forscher des Pharmaunternehmens Gilead Sciences haben es ursprünglich gegen Ebola entwickelt. Remdesivir schleicht sich in den Mechanismus ein, den sogenannte RNA-Viren zur Vermehrung nützen, und stört diesen. Sowohl das Ebola- wie auch das Coronavirus gehören zu den RNA-Viren. Rechtlich gibt es keine Hürden, um das Medikament auch in der Schweiz einzusetzen. Am Universitätsspital Basel hat man es bereits Patienten verabreicht.
Zudem haben Norwegische Forscher in einer Literaturanalyse nach weiteren Substanzen gesucht und überprüften 120 bereits zugelassene Medikamente, die Ärzte gegen Viren einsetzen. Darunter auch die beiden HIV-Medikamente Lopinavir und Ritonavir. Zu diesen beiden Mitteln laufen in Hongkong und Guangdong ebenfalls bereits Studien. Auch das Antirheumatikum Actemra des Schweizer Pharmaherstellers Roche wollen chinesische Forscher testen. Es soll die Entzündungsreaktionen eindämmen.
Novartis und die Firma Incyte starten gemeinsam eine Phase-III-Studie mit dem Mittel Jakavi. Konkret soll dieses bei der Behandlung einer Art schweren Immunüberreaktion, Zytokin-Sturm genannt, zum Einsatz kommen, wie Novartis mitteilte. Diese Überreaktion kann bei Patienten, die sich am Coronavirus infiziert haben, zu lebensbedrohlichen Atemwegskomplikationen führen.
Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn setzt zur Bekämpfung schwerer Corona-Erkrankungen auf das Malaria-Medikament Resochin des Pharmakonzerns Bayer. «Es gibt erste Hinweise, dass bestimmte Medikamente zu helfen scheinen», sagte der CDU-Politiker. Allerdings seien weitergehende Studien nötig, da jedes Pharmazeutikum Nebenwirkungen habe. Er rechne damit, dass deutlich früher ein wirksames Medikament gegen Covid-19 auf den Markt komme als ein Impfstoff. «Der Impfstoff ist eher eine Frage von mehreren Monaten als von wenigen Monaten.»
Eine weitere Strategie: Schwererkrankte könnte man mit Blutplasma von Menschen behandeln, die die Krankheit erfolgreich überstanden haben. Die Antikörper der Genesenen würden dabei das Immunsystem der Neuinfizierten unterstützen. Das hat bei Ebola, Mers und Sars schon funktioniert. Auch Schweizer Spitäler behandeln Risikopatienten neu mit Blut von Personen, die Covid-19 überstanden haben. Einige Patienten sind in der Poliklinik der lombardischen Stadt Pavia mit dem Blut von Personen behandelt worden, die vom Covid-19 geheilt sind und daher Antikörper entwickelt haben. Das Ergebnis der Behandlung wurde von den Experten als positiv bewertet, offizielle Angaben zum Test wurden jedoch doch nicht veröffentlicht.
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Nach Angaben von WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus sind für den Kampf gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 jetzt 20 Impfstoffe in Entwicklung. Bei der WHO seien zudem Anträge auf Prüfung und Zulassung von 40 Tests eingegangen.
Mitte Februar einigten sich 400 Experten auf einer Konferenz in Genf, die Suche nach einem Impfstoff zu beschleunigen. In vielen Ländern wird derzeit an der Entwicklung eines Impfstoffes gearbeitet. Doch wie schnell könnte er einsatzbereit sein? «Ich bin insgesamt sehr sicher, dass wir erste experimentelle Impfstoffe noch dieses Jahr sehen werden», sagt der Virologe Gerd Sutter von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ob und wann sie an Menschen getestet werden könnten, sei eine andere Sache. «Die Entwicklung eines Impfstoffs ist ein langwieriger, mühsamer Prozess, vor allem die Zulassung und die klinische Prüfung eines Kandidaten.»
Optimistisch zeigt sich der Epidemiologe Salathé: «Mich würde es erstaunen, wenn man nicht bis Ende Jahr einen Impfstoff hätte. Dann wäre nächstes Jahr die Situation wieder normal. In den nächsten Monaten müssen wir das Coronavirus aber mit nichtpharmazeutischen Massnahmen managen.»
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Man kann grundsätzlich hoffen, dass auch bei diesem Coronavirus, wie bei den meisten anderen, genau der gleiche Virusstamm nicht zweimal nacheinander jemanden treffen kann. Die Wissenschaft geht momentan davon aus, dass nach der Covid-19-Erkrankung zumindest eine vorübergehende Immunität vorliegt. Wie lange eine Immunität gegen das Virus Sars-CoV-2 anhält, wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen. Bei Sars sind Antiköper drei bis fünf Jahre nachweisbar. In Untersuchungen hat man bereits festgestellt, dass bei Patienten neutralisierende Antikörper vorhanden sind. Lothar Wieler, Leiter des deutschen Robert-Koch-Instituts, sagte: «Mehrfachinfektionen – diese Frage können wir aktuell noch nicht abschliessend beantworten. Die Frau aus Japan, die sich zweimal infiziert haben soll, kann auch ein Einzelfall sein, vielleicht haben die Nachweismethoden nicht gegriffen.»
Manuel Battegay, Professor für Infektiologie an der Universität Basel, sagt: «Eine Reinfektion mag ja in seltenen Fällen möglich sein, immunologisch macht dies aber wenig Sinn. Bei älteren Personen mit reduziertem Immunsystem dauert die Detektierbarkeit beispielsweise von Grippeviren manchmal Wochen und sogar Monate mit sehr unterschiedlichen und manchmal nicht messbaren Virusmengen. Der Eindruck einer Neuinfektion ist möglicherweise falsch, es ist viel eher ein Wiederauftauchen bei einzelnen Menschen, die das Virus innert Tagen oder weniger Wochen nicht eliminieren können.»
Eine aktuelle Analyse chinesischer Forscher zeigt: In einem Tierversuch waren Rhesusaffen, die an dem neuartigen Coronavirus erkrankt waren, immun gegen eine erneute Infektion. Das könnte dafür sprechen, dass sich auch Menschen nicht innerhalb kurzer Zeit mehrmals anstecken können.
Zum Thema Immunität und Reinfektion sei dieser Beitrag empfohlen, in welchem Prof. Dr. Christian Drosten, Prof. Dr. Florian Krammer und Prof. Dr. Isabella Eckerle detailliert informieren.
Das Problem, das die Menschheit mit einigen Viren hat, besteht in deren grosser Veränderlichkeit. Grippeviren tauchen jeden Winter in einem bis zur Unkenntlichkeit umgeschneiderten Kleid auf, der Aids-Erreger HIV verändert sich so schnell, dass letztlich jeder Mensch ein eigenes Virus in sich trägt. Im Vergleich dazu scheint das neue Sars-CoV-2 – auch wenn man sich das angesichts seiner derzeit massiven Auswirkungen kaum vorstellen mag – geradezu ein Garant für Stabilität zu sein. «Das Virus hat nur sehr wenige Mutationen auf seinem Weg um die Welt mitgemacht», sagt der Virologe Georg Bornkamm.
Bornkamm hat das Erbgut verschiedener Sars-CoV-2-Viren miteinander verglichen. Sie stammen von Patienten aus aller Welt und wurden von Wissenschaftlern auf der Plattform Gisaid geteilt. Demnach hat sich Sars-CoV-2 selbst nach seiner langen Reise von China bis in die USA gerade mal an etwa zehn Stellen in seinem Erbgut verändert, wie der Molekulargenetiker Peter Thielen von der Johns Hopkins University der Washington Post sagte. «Das ist eine relativ kleine Zahl von Mutationen dafür, dass das Virus eine so grosse Zahl von Menschen passiert hat. Das ist eine gute Nachricht. Die Stabilität des Virus lässt darauf hoffen, dass ein Impfstoff gegen Sars-CoV-2, wenn er denn entwickelt ist, über Generationen wirksam sein wird. Dies gilt seit langem für Impfstoffe gegen Masern, Keuchhusten und Röteln, während für das Influenzavirus jedes Jahr ein neuer Impfstoff her muss.
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